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Radiolexikon Wachstumsstörungen
Viele Klischees über Klein- und Großwüchsige

Eltern orientieren sich bei der Körpergröße ihrer Kinder am Mittelmaß. Tanzt ihr Filius beim Wachstum aus der Reihe, geht es nahezu notfallartig zum Arzt. Dabei ist zu groß oder zu klein in jungen Jahren nicht selten. Was sind Wachstumsstörungen? Und wie sind sie behandelbar?

Von Justin Westhoff | 11.03.2014
    Zwei Kinder (4 und 7 Jahre alt) bewundern an einer Messlatte ihren großen Vater (2,06 Meter)
    Zwei Kinder (4 und 7 Jahre alt) bewundern an einer Messlatte ihren großen Vater (2,06 Meter) (dpa / Waltraud Grubitzsch)
    Aufgeregt steht der Sechsjährige am Türrahmen, reckt den Hals noch ein bisschen, während ihm die Mutter das Lineal auf den Kopf legt und am Holz ein kleines Zeichen macht. Dann wird nachgemessen: Drei Zentimeter größer als beim letzten Mal! Größe beschäftigt Eltern häufig, weiß Dr. Ulrich Fegeler aus seiner kinder- und jugendärztlichen Praxis in Berlin. Sie kommen mit konkreten Fragen.
    "Erstens: 'Mein Kind ist so wahnsinnig gewachsen, wie groß wird der eigentlich?' Oder umgedreht: 'Mein Kind wächst nicht'."
    Da sind oft Klischees im Spiel, schildert Dr. Dirk Schnabel, Facharzt für kindliche Wachstumsstörungen an der Berliner Charité.
    "Interessant ist ja: Wer wird wegen Kleinwuchs vorgestellt, das werden in der Regel Jungen. Bei Mädchen ist immer Kleinwuchs niedlich: 'Och, so kleines süßes niedliches Mädchen', aber Eltern haben schon irgendwie Angst, wenn sie denken, ah, der Sohn wird vielleicht nur ein Meter 70 groß, damit hätte er doch vielleicht ein Problem. Beim Hochwuchs werden fast ausschließlich Mädchen vorgestellt."
    Aber wie funktioniert das normale Wachstum überhaupt? Kinder legen im ersten bis dritten Jahr enorm zu. Zwischen dem 5. und 7. Lebensjahr werden sie noch einmal merklich größer, und ein besonders kräftiger Wachstumsschub kommt schließlich während der Pubertät. Ausgewachsen sind Jungen mit 15 bis 17 Jahren, Mädchen schon mit 12 bis 15 - im Röntgenbild daran erkennbar, dass die 'Wachstumsfugen' in den Knochen geschlossen sind. Auf Körpergröße, Gewicht und Kopfumfang wird bei den pädiatrischen Vorsorgeuntersuchungen besonderes Augenmerk gelegt, erklärt Dr. Ulrich Fegeler, auch Pressesprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte.
    "Es gibt sicher sehr großwüchsige Kinder und auch sehr kleinwüchsige Kinder, wobei uns natürlich interessiert, wie ist das Verhältnis der Wachstumsraten im Vergleich der vergangenen Jahre und auch im Vergleich zur Altersgruppe. Und dazu sind sinnvolle Messinstrumente entwickelt worden, das sind zum Beispiel die Perzentilenkurven."
    Perzentile sind Wachstumskurven mit Messwerten von sehr vielen Kindern, aus denen Durchschnittslinien ermittelt wurden. Sie zeigen ein breites Größenspektrum an: Liegen die Werte eines Kindes beispielsweise auf der 60-Prozent-Perzentile, heißt das, dass 60 von 100 Kindern kleiner sind und 40 größer.
    Die äußersten Ränder sind die 3-Prozent- oder kurz 3er-Perzentile unten und die 97er-Perzentile oben. In diesen Bereichen spricht man von Kleinwuchs beziehungsweise von Hochwuchs.
    "Aber Kleinwuchs und Hochwuchs sind nur beschreibende Symptome, das hat mit Krankheit nichts zu tun. Sondern die Größe eines Kindes oder dann auch später eines Erwachsenen hängt ja sehr davon ab, wie ist das mit der Größe der Eltern? Etwa 80 Prozent der elterlichen Gene bestimmen auch die Endgröße des Individuums."
    Es gibt auch eine unerwartete Vererbung: Durchschnittlich große Eltern können ein kleinwüchsiges oder ein sehr großes Kind bekommen. Zudem können Schäden an den Erbanlagen zu Kleinwuchs führen. Gar nicht so selten sind ferner vorübergehende Wachstumsstörungen: Manche Kinder sind Spätentwickler und erreichen letztlich eine normale Größe. Das heißt: Eine echte Wachstumsstörung erkennt man nicht an der einmal gemessenen Größe des Kindes, sondern nur, wenn dies über einen längeren Zeitraum beobachtet wird. Dr. Fegeler:
    "Wenn Kinder klein sind, war das immer so, dass er meinetwegen in der Nähe – oder sie – des 3er-Perzentils gewachsen ist, oder hat er mal angefangen bei 60 und fängt an im Laufe der Jahre, die Perzentilen zu schneiden, wie wir das nennen, um dann irgendwo bei der 3er-Perzentile zu landen."Die Ursachen
    Es gibt auch Wachstumsstörungen, die nicht vererbt werden. So können Schädigungen des Embryos das Wachstum behindern, wenn die Mutter während der Schwangerschaft raucht. Wenn schließlich alle anderen Gründe für Klein- oder Hochwuchs ausgeschlossen sind, sollten Eltern ihre Kinder in einer pädiatrisch- endokrinologischen Sprechstunde vorstellen. Insgesamt liegt es allerdings eher seltener an den Hormonen, sagt Dr. Dirk Schnabel von der Charité.
    "Viel häufiger muss man irgendwie dran denken: Gibt es vielleicht eine chronische Erkrankung? Also jemand, der zum Beispiel schwer herzkrank ist oder schwer nierenkrank oder schwer lungenkrank ist, auch der wächst in der Regel nicht gut, weil der Organismus natürlich all seine Energie jetzt erstmal braucht, um mit diversem Krankheitsbild fertig zu werden."
    Zudem gibt es versteckte chronische Krankheiten, die das kindliche Wachstum stark hemmen können. Ein Beispiel ist die Darmkrankheit Morbus Crohn. Wenn Erkrankungen eine Wachstumsstörung nicht erklären kann, müssen schließlich die Hormone doch genauer unter die Lupe nehmen:
    "Und da sind zwei ganz wichtig: Das eine ist eben Schilddrüsenhormon und das andere ist Wachstumshormon. Und in der Pubertät kommen dann bei den Mädchen noch die Östrogene dazu und beim Jungen das Testosteron. Störungen in diesen Hormonkreisläufen können zu einer Wachstumsstörung führen."
    Nur äußerst selten ist ein Tumor an der Hirnanhangdrüse der Grund für die Hormon- und damit Wachstumsstörung. In einem solchen Fall kann eine Operation helfen. Ein Mangel an Schilddrüsen- oder Wachstumshormonen hingegen lässt sich mit Ersatzhormonen ausgleichen. Auch der Hochwuchs ist behandelbar, selbst wenn er keine krankhafte Ursache hat:
    Die Behandlungsmöglichkeiten
    "Grundsätzlich kann man natürlich das Wachstum hemmen, und dieses kann man im wesentlichen über zwei Wege tun: Zum einen kann man die Pubertät dieser Mädchen durch die entsprechende Gabe von Sexualhormonen zu einem bestimmten Zeitpunkt beschleunigen. Es kommt also durch die Pubertätshormone, die man einnimmt oder spritzt, zu einem schnelleren Schluss der Wachstumsfugen. Man ist aber da sehr kritisch geworden. Also bei Mädchen diskutiert man eine mögliche Wachstumshemmung ab einer Prognose etwa von ein Meter 87, und bei Jungen etwa von zwei Meter fünf."
    In jedem Fall muss mit Eltern und Jugendlichen über eventuelle langfristige Folgen gesprochen werden. Der Spezialist für kindliche Wachstumsstörungen Dr. Dirk Schnabel rät zur Zurückhaltung:
    "Weil Publikationen, die Mädchen etwa 10 bis 15 Jahre nach einer hochdosierten Östrogentherapie zur Wachstumsbegrenzung untersucht haben, festgestellt haben, dass diese Mädchen nicht selten Schwierigkeiten haben, schwanger zu werden. Und die hochdosierten Östrogene können damit einhergehen, dass ich ein erhöhtes Thromboserisiko habe oder später ein erhöhtes Risiko habe, bestimmte Tumorarten zu bekommen. Das sind Dinge, die man eben mit in die Entscheidung mit einfließen lassen muss."
    Trotz solcher Risiken ist die Entscheidung oft nicht leicht. Denn Größe ist eben mehr als ein biologischer Faktor: Klein- und Großwüchsige haben viele Probleme im Alltag, später auch bei der Partnerwahl und im Berufsleben. Eltern sollten folglich zu allererst das Selbstbewusstsein ihrer sehr kleinen oder sehr großen Kinder stärken. Dabei helfen manchmal Vorbilder: In vielen Sportarten sind „lange Menschen“ begehrt. Umgekehrt gibt es viele Beispiele für erfolgreiche Menschen, die deutlich kleiner als der Durchschnitt sind.