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Radsport in Deutschland
So richtig rund läuft's nicht

Erfolgreiche deutsche Fahrer bei der Tour de France, großes Zuschauerinteresse beim Tourstart in Düsseldorf. Gefühlt geht es dem Radsport in Deutschland gut - doch die Realität sieht anders aus. Es fehlt an Rundfahrten vor heimischem Publikum und konsequenter Nachwuchsarbeit.

Von Holger Gerska | 05.08.2017
    Cyclassics-Radrennen 2016: Das Feld der Profi-Fahrer fährt durch den Hamburger Stadtteil Blankenese.
    Die Cyclassics in Hamburg sind eines der wenigen Radrennen in Deutschland. (dpa / picture alliance / Axel Heimken)
    Mehr als die Hälfte aller diesjährigen Tour-de-France-Etappen endete mit dem Sieg eines deutschen Fahrers oder eines deutschen Teams. Fünfmal feierte Marcel Kittel, viermal das in Deutschland lizensierte Team Sunweb und zweimal die bayerische Mannschaft Bora. Und eröffnet wurde die sehr deutsche Tour de France von einem nie für möglich gehaltenen Zuschauerinteresse beim Zeitfahren in Düsseldorf und auf der Etappe Richtung Lüttich.
    Deutsche Radprofis wie der Tourdebütant Nikias Arndt im emotionalen Ausnahmezustand: "Also der Start in Düsseldorf war grandios. Ich hab das so genossen. Die ganzen Zuschauer, die am Straßenrand waren und angefeuert haben. Das wird mir in Erinnerung bleiben und das war wirklich, wirklich ein toller Moment der Tour."
    Gefühlte Wahrheit vs. Realtität
    Gefühlt verbreitete das Wochenende in Düsseldorf eine Aufbruchstimmung - die Realität sieht ganz anders aus. Denn: Deutsche Zuschauer und Sponsoren interessieren sich für diese Rundfahrt und nicht für den Sport an sich. Das ist kein Erbe der Generation "Doping", das war eigentlich schon immer so. Aber jetzt hemmt es die Entwicklung der Branche. Denn von wenigen Ausnahmen abgesehen hat sich das Thema Radsport fast schon erledigt in diesem Jahr. Wer weiß schon, wann und wo in diesem Jahr die Weltmeisterschaften stattfinden bzw. dass es überhaupt eine WM gibt? Und wie viele internationale Radrundfahrten der Profis in Deutschland stattfinden in diesem Jahr? Die Antwort: Keine einzige!
    Der Zeitfahr-Weltmeister Tony Martin träumt immer noch von einer nachhaltigen Entwicklung: "Ich hoffe einfach, dass es nicht das Ende der Fahnenstange ist, sondern dass wir wirklich noch stetig bergauf gehen und vielleicht auch irgendwann einen ähnlichen Radsport-Boom erleben wie wir ihn in Deutschland schon hatten."
    Schauen wir auf den deutschen Kalender. Immerhin gibt es jetzt zwei Eintagesrennen, die zur ersten Liga - der Worldtour - gehören. Die Traditionsveranstaltung am ersten Mai in Frankfurt am Main und die Cyclassics am 20. August in Hamburg. Beide Rennen gehören ausländischen Agenturen. Frankfurt der französischen ASO, die auch die Tour de France organisiert, und Hamburg der chinesischen Wanda-Gruppe. Danach kommen eine Handvoll Eintagesrennen wie Rund um Köln oder der Münsterland-Giro. Aber keine einzige Rundfahrt.
    Die Deutschland-Tour könnte zum Verlustgeschäft werden
    Vor reichlich einem Jahrzehnt gab es eine Deutschland-Tour, eine Thüringen-Rundfahrt, eine Sachsen-Tour und der Tour-de-France-Starter Robert Wagner vermisst noch mehr: "Vor zehn Jahren hatten wir allein in Deutschland fünf, sechs Rundfahrten mit der Rheinland-Pfalz-Rundfahrt, mit der Niedersachsen-Rundfahrt, der Regio-Tour und der Hessen-Rundfahrt - was mir jetzt spontan einfällt. Das sind alles sehr, sehr tolle und schöne Rennen gewesen."
    Zuletzt musste vor zwei Jahren auch noch die Bayern-Rundfahrt abmelden. Für das kommende Jahr ist das Comeback der Deutschland-Tour geplant. Nicht auf höchstem Niveau. Vier Tage, vier Etappen - aus Nordrhein-Westfalen nach Stuttgart. Das Finale steht auch schon. Für zwischendurch werden Etappenorte händeringend gesucht. In Frankreich stehen die Bewerber für Tour-Etappen Schlange. Hierzulande erleben die Tour-de-France-Organisatoren, die auch für diese neue Deutschland-Tour Verantwortung tragen, das Gegenteil. Offenbar hat sich neben Stuttgart nur Bonn beworben. Die hohen Lizenzgebühren, dazu die Maßnahmen für Sicherheit schrecken ab. Die Deutschland-Tour droht zu einem Verlustgeschäft zu werden.
    Neue Radsport-Generation hofft auf zweite Chance
    Die neue Radsport-Generation um Rick Zabel hofft natürlich, endlich mal daheim zu einer Rundfahrt antreten zu können: "Das Potenzial und die Erfolge der Fahrer sind auf jeden Fall da. Braucht natürlich auch Zeit, weil damals viel zerstört wurde. Aber es muss immer eine zweite Chance geben und die jungen Fahrer wie ich nehmen die Verantwortung gerne, um diese zweite Chance zu einer guten zu machen."
    Rick Zabel ist ein gutes Beispiel für das zweite Problem des deutschen Radsports: Es gibt zwar mit Sunweb und Bora inzwischen wieder zwei Teams in der ersten Radsport-Liga, der World-Tour. Aber keinen Unterbau. In der gesamten zweiten Liga und unter ambitionierten Drittligisten findet sich keine einzige deutsche Mannschaft. Rick Zabel ist aus dem Thüringer Nachwuchsteam in die Niederlande gewechselt, dann zu BMC in die Schweiz. Jetzt fährt er für die Katjuscha-Mannschaft. Immerhin hat das Team Sunweb seit Jahresbeginn eine deutsche Nachwuchsabteilung und kümmert sich um die Ausbildung der Talente.
    Deutschland war in den letzten Jahren sehr erfolgreich bei Nachwuchs- und Junioren-Weltmeisterschaften. Eigentlich erstaunlich, denn auch an der Basis ist einiges weggebrochen. Nikias Arndt, der eine sehr erfolgreiche Tour de France absolviert hat, nennt als Beispiel seinen Heimatverein: "Blau-Weiss Buchholz macht in der Region, wo ich aufgewachsen bin, jetzt wieder ein bisschen mehr Nachwuchsarbeit. Mein Papa engagiert sich da mittlerweile ein bisschen, macht Nachwuchstraining. Und wenn er dann mal ab und zu erzählt, wie viele Leute da zum Training kommen, ist es nach wie vor schwierig. Ich hoffe, dass mehr jüngere Fahrer auf die Idee kommen, aufs Rad zu springen und auch wieder mit dem Radsport anzufangen."
    Die zwei Gesichter des deutschen Radsports
    Die Wahrheit über den Radsport in Deutschland anno 2017 - sie hat zwei Seiten. Das wiedererwachte Interesse an der Tour de France und die überragenden sportlichen Erfolge, nicht nur der Profis. Aber andererseits auch fehlende Rennen, fehlende Teams und fehlende Identifikation. Die großen Stars Tony Martin, John Degenkolb, Marcel Kittel und Andre Greipel fahren alle im Ausland.
    Immerhin träumt Tony Martin noch davon, im Herbst seiner Karriere mal in einer Art deutschen Nationalmannschaft zu fahren: "Vielleicht kommt ja doch noch mal diese alte Idee hoch, wirklich ein rein deutsches Team irgendwo zu gründen. Vielleicht finden sich ja auch noch mal Partner in der Wirtschaft, die den gleichen Gedanken haben. Dann denke ich doch, dass auch alles möglich ist."
    Und eine deutsche Nationalmannschaft gibt es ja auch: Die startet aber in der Regel nur bei Weltmeisterschaften. In diesem Jahr im September in Bergen in Norwegen.