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Rainer Metzger: "Die Stadt"
Mehr Metropole, mehr Freiheit

Was bringen Städte hervor? Verkehr, Lärm und Armut. Aber auch Freiheit, Kunst und Kultur. Nach eher monografischen Werken über London, Berlin und München widmet sich der Kunsthistoriker Rainer Metzger in seinem neuen Werk "Die Stadt" gleich mehreren Metropolen und ihrer Bedeutung in der Geschichte.

Von Monika Dittrich | 20.04.2015
    Blick auf den New Yorker Stadtteil Manhatten
    Blick auf den New Yorker Stadtteil Manhatten (picture alliance / dpa - Daniel Bockwoldt)
    Es ist bemerkenswert, was Rainer Metzger auf gerade mal 270 Seiten erzählen kann. In atemberaubender Geschwindigkeit nimmt er seine Leser mit auf eine Reise um die Welt und durch die Jahrhunderte; dabei folgt er historischen Persönlichkeiten in ihre Metropolen: Mit Sokrates schlendert der Autor durch das Athen der Antike, in Nürnberg trifft er Albrecht Dürer, und in Berlin um 1930 lässt er sich von der Dichterin Mascha Kaléko zeigen, was Massenkultur ist. Schließlich landet er im Chaos des heutigen Kinshasa. Jedes Kapitel steht für sich, und doch ist der rote Faden überall erkennbar. Die Dramaturgie folge angelsächsischen Vorbildern, sagt Metzger:
    "Die Evidenz des Einzelfalls ist mir schon wichtig. Und dass man eben über den gut erzählten Einzelfall dann auch eine Generalisierung zustande bringt."
    Entstanden ist eine Kulturgeschichte der Stadt - und eine "Weltgeschichte in Geschichten", wie es im Untertitel zutreffend heißt. Es geht um Haltungen und Konzepte, die Metzgers Auffassung zufolge nur in Städten entstehen konnten: Liberalität, Zivilisation, Emanzipation. Metzger:
    "Ich denke, es ist kein Zufall, dass die Hochzeiten von Städten in der Antike, im Mittelalter und in der Moderne auch Hochzeiten dessen sind, was Demokratie-Entwicklungen angeht."
    "In Athen ist die Demokratie entwickelt worden, und das in aller Radikalität. Die Erfahrung, die in den ersten Jahren nach der Französischen Revolution überall gemacht wurde, [...] dass mit einfachen Mehrheiten permanent der soeben erst errungene Status quo aus den Angeln gehoben werden konnte, sie hatte ihren Präzedenzfall in Athen. Was in dieser frühen Gesellschaft waltete, war das unermüdliche Experiment. [...] So entstand in der Stadt, deren repräsentative Sphäre den Namen Polis trug, jener Kompetenzbereich, den man seither Politik nennt." (S. 16)
    Im mittelalterlichen Paris zeigt Metzger, wie Gotik und Universitäten entstanden. Ein aufschlussreiches Kapitel widmet er Wolfgang Amadeus Mozart, einem "Freiberufler im kapitalistischen Sinn", wie Metzger schreibt, der an der feinen Wiener Gesellschaft gnadenlos scheiterte. In New York um 1900 heißt der Reiseführer Jacob Riis. Der Journalist streifte mit seinem Fotoapparat durch die Slums von Manhattan; mit seinen Reportagen dokumentierte er die Armut der Einwanderer und die Verelendung der Stadt - das Foto wird hier zur Waffe im Kampf gegen Ungerechtigkeit.
    "Eine der Familien wird besucht, neunköpfig, Mann, Frau, Großmutter, sechs Kinder. [...] Gestorben wird viel in Riis' Darstellung, es wird sicherlich den Tatsachen entsprochen haben - die Frauen an Suizid, die Kinder an Krankheiten, die Männer an Morden. Ob er wirklich immer so brandaktuell vor Ort war, wie er sich als rasender Reporter gibt, sei dahingestellt. Riis lebte in Brooklyn und abends, wenn er zur Fähre ging, um nach Hause überzusetzen, ging er jedenfalls die notorischen Wege entlang, durch Hinterhöfe und 'Alleys', enge Gassen, die längst der Ablagerung von Müll und der Wegelagerung von minderen Gangstern dienten. Riis ist hautnah am Geschehen.' (S. 189 f.)
    Der Moloch mit Schmutz und Müll, mit Hunger und Krankheiten, ist zugleich ein Ort allergrößter Lebendigkeit. Veränderung, Verdichtung, Überlagerung - all das ist charakteristisch für das Urbane. Europas Städte haben diese Entwicklungen längst hinter sich gelassen. Ihnen fehlt heute die Jugend, sagt Metzger, was aber nicht weiter problematisch sei. Die Städte der Zukunft jedenfalls wachsen anderswo - mit all ihren Schattenseiten und Gefahren, dem Prekären. Was Metzger über das New York um 1900 schreibt, ähnelt dem, was für die heutigen Megacitys gilt, wie etwa Kinshasa in der Demokratischen Republik Kongo:
    "Megacitys sind Stadtkonglomerate, überdimensionierte Flächen an irgendwie organisierter Formlosigkeit, Wucherungen des Gebauten, des Gewohnten und Bewohnten, in denen zu Vermischung und Verdichtung oftmals die Verwüstung kommt." (S. 241)
    Man mag sich fragen, ob diese Metropolen tatsächlich diejenigen Orte sind, die liberales Denken, Individualität und Demokratie hervorbringen. Denn große Städte gedeihen derzeit vor allem in autokratischen Staaten, nicht zuletzt in China. Das räumt auch Rainer Metzger ein. Aber:
    "Meine Überzeugung geht dahin, dass die Entwicklung zur Metropole auch notwendigerweise bedeuten wird, eine Entwicklung hin zu größerer Demokratie, vielleicht erleben wir es noch, wenn der Arabische Frühling dann in China Einzug hält."
    Entscheidend dafür seien die Menschen, die vom Land in die Städte gehen - auf der Suche nach dem persönlichen Glück. Sie bringen Erwartungen mit, wollen mehr Geld verdienen, etwas bewegen und verändern, wenn auch zunächst nur in ihrem eigenen Leben. So ziehen sie massenweise in die Zentren und bewirken dort die von Metzger beschriebene Verdichtung der Kulturen, den fruchtbaren Austausch, das provozierende Nebeneinander von Reichtum und Armut.
    Metzger zitiert den britisch-kanadischen Autor Doug Saunders, der den Begriff der "Arrival City" geprägt hat. Gemeint sind Ankunftsstädte, die eine ungeheure Sogwirkung entfalten und dabei "alles an sich ziehen, was die Nationen an humanen und intellektuellen Ressourcen besitzen", wie Metzger schreibt. Diese Städte "bieten Alternativen, Aufstiegschancen, Aussichten auf ein besseres Leben. Natürlich bleiben en masse Verlierer auf der Strecke. Doch allein die Perspektive bedeutet Emanzipation. [...] In die Stadt zu kommen heißt, sich Ambitionierteres vor Augen zu stellen als das pure Überleben." (S. 254)
    Rainer Metzger hat ein anspruchsvolles Buch geschrieben, von seinen Lesern verlangt er eine gewisse Hartnäckigkeit und Interesse an historischen Zusammenhängen. Doch sein Ton ist leichtfüßig und originell; die Methode, die Städte mithilfe berühmter Zeitzeugen zu untersuchen, ist klug und kurzweilig. Die Lektüre macht Laune - auch weil der Verlag ein schönes Buch herausgebracht hat, luftig gestaltet und mit 70 gut ausgewählten Abbildungen.
    Rainer Metzger: "Die Stadt. Vom antiken Athen bis zu den Megacitys. Eine Weltgeschichte in Geschichten"
    Brandstätter Verlag, 272 Seiten, 24,90 Euro. ISBN: 978-3-850-33881-3