Samstag, 20. April 2024

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Ralf Rothmann: „Hotel der Schlaflosen“
Die dunkle Poesie des Todes

Mal gerät jemand lautlos aus dem Tritt, mal stirbt ein Häftling im Folterkeller: Ralf Rothmanns Geschichten erzählen vom Sterben und von den irreparablen Kippmomenten der Existenz. Hier wird's immer fatal ernst. Aber trotzdem steckt in diesen Verhängnis-Berichten auch Würde und Schönheit.

Von Wolfgang Schneider | 21.10.2020
Verlassenes Haus . Cervo , Italien . Abandoned house . Cervo , Italy . 27.03.2008 , Cervo Ligurien ITA Italien PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright: xUtexGrabowskyx abandoned House Cervo Italy Abandoned House Cervo Italy 27 03 2008 Cervo Liguria ITA Italy PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright xUtexGrabowskyx
So mancher Held in Ralf Rothmanns Sterbegeschichten liegt nachts wach im Bett (imago stock&people / Copyright Ute Grabowsky)
Gleich im ersten Satz der ersten Geschichte reißt eine Saite. Hier geht es um eine Geigerin bei der Probe, aber die anderen Erzählungen dieses Bandes, die nicht von Musikern handeln, schildern ebenfalls heikle Momente, in denen gewissermaßen die Saiten reißen. Manchmal geht auch das Instrument zu Bruch oder sogar der ganze Konzertsaal. Denn der Tod ist ein regelmäßiger Botschafter und Begleiter in diesem Buch.
Bei der letzten Probe reißt plötzlich eine Saite
Die Geigerin etwa hat von ihrem Onkologen kürzlich eine fatale Krebsdiagnose bekommen. An diesem Abend gibt sie ein Konzert in Berlin. In ihrem Koffer hat sie noch Ersatzsaiten dabei. Vor dem Konzert ist noch genug Zeit. Deshalb fährt die Geigerin, die in ihren Sturm-und Drang-Jahren im wilden Schöneberg gewohnt hat, noch einmal mit dem Taxi zurück zum Hotel – durch die zugleich vertrauten und veränderten Straßen, die sie an längst vergangene Zeiten erinnern. Damals in den späten Siebzigern, als Iggy Pop in ihrer WG-Küche vor sich hin gekokst hat. Vor dem Hotel bittet sie den Fahrer zu warten, bis sie aus ihrem Zimmer im sechsten Stock die Saiten geholt hat. Oben angekommen, steigt sie auf die Fensterbank – und springt.
Ralf Rothmann: "Der Gott jenes Sommers" Mit "Der Gott jenes Sommers" wendet sich Ralf Rothmann erneut den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs zu. Nun steht eine junge Frau im Zentrum, die Zeugin des herrschenden Grauens wird. In konkreten Szenen aus dem bäuerlichen Milieu beschwört Rothmann den Schrecken.
Wer einen Band mit elf Erzählungen bespricht, sucht nach verbindenden Motiven, nach einem Grundton, nach wiederkehrenden Themen und Figurenkonstellationen. Hier aber muss man erst einmal unterstreichen, wie grundverschieden die Geschichten in "Hotel der Schlaflosen" sind. Themen, Schauplätze, Sprache: Alles sehr vielfältig. Die ausgereifte literarische Kunst Ralf Rothmanns traut sich offenbar alles zu und kann sich in jeden Weltausschnitt souverän hineinerzählen, seien es Westberliner Lebenskünstler vor dem Mauerfall, Reisende in der mexikanischen Wüste, todeserfahrene Bestatter - oder auch das Milieu der Reiter und Pferdezüchter, in dem die so faszinierende wie beklemmende Geschichte mit dem Titel "Admiral Frost" spielt. Es ist der Name eines heißblütigen Hengstes, der zu einer empfängnisbereiten Hamburger Stute geführt werden soll. "Natursprung" lautet die Bezeichnung für den Vorgang, der allerhand Vorzüge gegenüber der künstlichen Besamung habe.
Manchmal schickt der Tod auch keine Boten voraus
"Die Sonne stand hoch, die Störche auf dem Schornstein der alten Ziegelei klapperten, und geduldig wartete die Hamburgerin am Paddock-Zaun und musterte den durchtrainierten Hengst aus den Augenwinkeln – ein kurzer, scheinbar desinteressierter oder gar ungnädiger Blick. So sah Mama bisweilen einen Mann an, wenn wir zusammen ins Restaurant oder in die Schaubühne gingen. Und ein paar Tage später saß der auf unserem Sofa. (…) Der Hengst ließ sich Zeit, beroch sie ausgiebig und knabberte an der Kruppe der Schönen. Zwischendurch reckte er immer wieder den Hals steil in die Höhe und fing an zu flehmen, das heißt, er zog die Oberlippe hoch und fletschte die Zähne, als wollte er vor Glück in die Wolken beißen."
Leider geht die Sache plötzlich schief. Der Hengst entwickelt beim "Natursprung" schwer beherrschbare Naturkräfte, und ein Mensch kommt zu Tode. Den vielen subtil symbolischen Tierschilderungen in seinem Werk hat Rothmann hier eine weitere Meistererzählung hinzugefügt.
In der alptraumhaften Titelgeschichte "Hotel der Schlaflosen" wird ein Massenmörder zum Ich-Erzähler: Stalins Henker Wassili Blochin, der in manchen Nächten bis zu 300 Menschen eigenhändig hinrichtete durch Kopfschüsse. Es erinnert an Aleksander Tišmas berühmte Folterer-Erzählung "Die Schule der Gottlosigkeit", wie Rothmann hier ganz aus der eitlen Selbstgefälligkeit der Figur heraus deren grausige Taten beschreibt, in der zynischen Sprache der Schergen. Der Henker selbst findet sein Handeln korrekt und notwendig: Schädlingsbeseitigung im Kampf gegen die Konterrevolution. So gesehen ist Blochin wie viele Rothmann-Figuren ein Handwerker, der ganz in seinen Routinen aufgeht. Ein Praktiker, von dem man sich guten fachlichen Rat holen könnte: Man nehme eine zuverlässige Pistole (am besten eine deutsche Walther), besorge sich eine lederne Metzgerschürze als Schutz gegen spritzendes Blut und Hirn und übe sich in der richtigen Ansprache gegenüber den angstbleichen Todeskandidaten, etwa: "Schau nicht so betrübt, gleich ist alles überstanden."
Dieser Menschenschlächter ist ein Mann, der nach der Arbeit ein gutes Buch zu schätzen weiß. Ein Freund der Literatur. Eines Tages taucht ein berühmter Schriftsteller in der Warteschlange seiner Todeskandidaten auf, kein Geringerer als Isaak Babel, und der Henker bittet ihn, vor der Exekution noch sein Exemplar der "Geschichten aus Odessa" zu signieren. Aber Babel kann mit seinen von der Folter zerschlagenen Händen den Stift nicht mehr halten. Eine wahrhaft schreckliche, weil zu allen Schrecken auch noch ziemlich wahre Geschichte – und großartig erzählt.
Im "Hotel der Schlaflosen" wütet ein Menschenschlächter
In einigen atmosphärisch verbundenen Erzählungen kehrt Rothmann wieder in jene Welt zurück, die er in seinen ersten, autobiographisch fundierten Romanen vergegenwärtigt hat: Das Ruhrgebiet, als es noch nicht die Region der stillgelegten Zechen und Freizeitparks war sondern eine Welt harter, schmutziger Untertage-Arbeit. In "Der Wodka des Bestatters" wird ein alter Beerdigungsunternehmer mit Alkoholproblemen zu seinem letzten Einsatz gerufen. In der Bottroper Zeche Haniel, wo einst auch der Vater von Ralf Rothmann als Kohlenhauer gearbeitet hat, sind in einem Flöz zahlreiche Leichen eines Grubenunglücks geborgen worden, das vor einem halben Jahrhundert geschehen ist. Die Toten sind gut erhalten, ein schauerliches Memento mori:
"Kreuz und quer und irgendwie bizarr – mit hochgezogenen Knien oder abgewinkelten Ellbogen oft, die Hände verdreht, die Köpfe hart ins Genick gebogen – lagen viele wie verdorrte, in den letzten Bewegungen erstarrte Kobolde auf den Kacheln. Nur noch Fetzen der ehemaligen Bergmannskluft trugen sie, (…) aber ihre kupferfarbenen Gesichter, die schmerzentstellten, wie die scheinbar ergebenen, waren unversehrt. "Vitriol", sagte der kleine Bispeling. ‚Das hält in Form. Die sind länger hinüber als ich auf der Welt bin.‘"
In einer dieser Mumien erkennt der siebzigjährige Bestatter seinen dreiundzwanzigjährigen Vater wieder. Ein Schock, den er nicht verkraftet.
"Der Dicke Schmitt" wiederum handelt von einem jungen Mann, der – wie einst Rothmann selbst – in der Zeit um 1970 eine Mauerlehre absolviert. Eines Tages fordert er bei einem Richtfest Franziska, die Tochter seines strengen, oft unwirschen Meisters und Oberpoliers, eben des "Dicken Schmitt", zum Tanz auf, was ringsum merkwürdige Irritationen hervorruft:
"Ein paar Handwerker an dem langen Tisch drehten die Köpfe, und nun war sie es, die verlegen wurde und eine Weile den Blick senkte, als zählte sie die nassen Glasabdrücke auf dem Papiertuch; dabei lächelte sie zwar, aber es sah irgendwie schmerzlich und wehmütig aus. Sie wurde sogar rot, wie mir schien, spielte nervös mit den Autoschlüsseln und fragte leise: ‚Bist du sicher?‘"
Klammerblues mit Holzbein
Als sie aufsteht, zeigt sich: Franziska, deren unverspachtelte Schönheit ihn so beeindruckt hat, trägt einen unförmigen Schuh und unter der Hose ein Holzbein. Grandios, wie Rothmann die sehr gemischten Gefühl beim folgenden, von allen Umstehenden aus den Augenwinkeln verfolgten "Klammerblues" vergegenwärtigt. Und doch entwickelt sich für eine Weile eine Beziehung zwischen den beiden, die zwar keine Zukunft hat, im dicken Schmitt aber die Hoffnung keimen lässt, der junge Mann könnte sein Schwiegersohn werden. In dieser Geschichte stellt Ralf Rothmann seine Meisterschaft für heikle Situationen und Zwischentöne ein weiteres Mal unter Beweis.
Konflikte werden in seiner Prosa allerdings nicht auspsychologisiert. Hinsichtlich des Innenlebens seiner Figuren bleibt er verschwiegen, aber die feinnervigen Beschreibungen der Außenwelt und des Verhaltens werden lesbar für Psychisches. Alles ist Zeichen in diesen Geschichten, die allesamt Begegnungen mit den dunklen Seiten des Lebens schildern und deren präzise und atmosphärische Prosa dennoch großen Lesegenuss bietet. Ist "Hotel der Schlaflosen" der beste deutschsprachige Erzählband dieses Herbstes? Jedenfalls dürfte er schwer zu übertreffen sein.
Ralf Rothmann: "Hotel der Schlaflosen". Erzählungen
Suhrkamp Verlag, Berlin. 206 Seiten, 22 Euro