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Ramoth-Bezer in Mecklenburg

Der dänische Autor Niels Brunse begann seine literarische Karriere als Übersetzer. In diesem Sommer erschien sein Romandebüt von 1997 auch auf Deutsch. Das dänische Original trägt den biblischen Titel "Ramoth-Bezer". Der Doppelname bezeichnet einen rätselhaften Ort in Mecklenburg, den zwar jeder betreten, aber keiner mehr verlassen darf. Auf Deutsch heißt das Buch von Brunse "Die erstaunlichen Gerätschaften des Herrn Orffyréus".

Von Peter Urban-Halle | 03.12.2007
    Dieser Roman erzählt zwei Geschichten, die sich am Ende in überraschender Weise verknüpfen. Die erste Geschichte handelt von Robert Zahme, einem dänischen Literaturwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Aufklärung. Robert wagt sich nicht mehr aus dem Haus, seit er an Agoraphobie leidet, an Platzangst, weshalb er auch seine akademische Karriere aufgeben muss. Er ist geschieden, hat einen Sohn, mit dem ihn nichts mehr verbindet, und frauen- und freudlos, wie er ist, hatte er sich noch vor seiner Phobie in eine Germanistik-Studentin namens Ulla verliebt.

    Diese Ulla stirbt dann einen sehr gesuchten Tod, nämlich durch die Explosion eines veralteten Gasboilers, ein bisschen dreist von Brunse auf den ersten Blick, doch nur eine tote Ulla eben kann die Handlung überhaupt erst in Gang bringen. Kurz vor ihrem plötzlichen Ableben nämlich schickt sie ihrem Verehrer Robert ein altes Manuskript, das sie bei einem Studienaufenthalt in den 80er Jahren in der DDR erhalten und dann ins Dänische übersetzt haben will.

    Bei dem Original habe es sich um ein altes Familienerbstück ihres Hallenser Professors gehandelt, Autor sei dessen Vorfahre Freiherr Eberhard von Erlenberg. Damit beginnt die zweite Geschichte. Das Manuskript aus dem 18. Jahrhundert handelt von einer Stadt namens Ramoth-Bezer, von der es viele Gerüchte gibt, aber nichts Handfestes, weil niemand sie verlassen darf, wer sie einmal betrat. Das muss auch der Freiherr v. Erlenberg erfahren, der sie neugierig besucht. Ramoth-Bezer ist ein idealer Ort, ähnlich wie das "Utopia" von Thomas Morus. Doch nach allen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wissen wir, dass Idealstaaten auch ihre Schattenseiten haben. Man muss den Roman, der auf dänisch schon vor zehn Jahren erschien, auch als Abrechnung mit der DDR betrachten, die bei dänischen Akademikern in hohem Ansehen stand. Niels Brunse:

    "Es ist eine Mischung aus Utopie und Dystopie. Es ist ja auch gar nicht so schön, in dieser Stadt zu sein. Was mich faszinierte, ist dieser Gegensatz von Geborgenheit und Freiheit, man kommt in diese Stadt hinein, wenn man alles verloren hat, die Alten, die Schwachen, die Verstoßenen, die können alle dorthin, aber sie dürfen dann die Stadt nicht wieder verlassen. Das hat ja etwas mit unserer Welt und unserer Gesellschaft zu tun, man muss halt einen Preis dafür bezahlen, dass es diese Geborgenheit gibt, dass die Gesellschaft sich um einen kümmert, das kommt nicht von allein, da müssen auch irgendwelche Gegenleistungen sein."

    Wer trotzdem fliehen will oder sich den Beschlüssen des weisen Stadtrats widersetzt, muss mit schwerer Strafe oder gar mit dem Tode rechnen; in Ramoth-Bezer werden die Dissidenten mit Giftmittelchen behandelt. Ähnlich wie der etwa gleichaltrige französische Schriftsteller Jean Echenoz in seinen ersten Büchern spielt der Däne Niels Brunse mit trivialen Elementen und Gattungen, mit dem Schauerroman, dem Kriminalroman, dem Zukunftsroman. Im Gegensatz zu Echenoz freilich, dessen gauklerhafte Ironie dem Leser jede Sicherheit nimmt, weiß man bei Brunse eigentlich, woran man ist und worauf er hinaus will - obwohl das Ganze auch ein intellektueller Spaß ist.

    "Dieses Buch, mein erster Roman, ist eine "gotische Erzählung", wie man das nennt, und mein zweiter Roman war an Krimis angelehnt, ohne ein Krimi zu sein, und der dritte Roman ist eine Mischung aus historischem und Science-fiction-Roman. Ich mag das, das ist eine Einladung an den Leser, man braucht nicht die große Hochachtung für die Literatur, und dann hoffe ich doch, dass die eigentlichen Themen und die eigentliche Struktur des Buches auf den Leser einwirken wird, ohne dass man es als Literatur in einem beängstigenden Sinne empfindet."

    Dabei ist sein Roman mit gelehrten Hinweisen, Anagrammen, biblischen Motiven, Zahlen- und Buchstabenmystik nur so gespickt - aber auch mit ganz realen Elementen. Wie den sogenannten "erstaunlichen Gerätschaften", den Perpetua mobilia, Maschinen, die ohne Energieverbrauch in ständiger Bewegung sind und das sorglose Leben in der Stadt überhaupt erst ermöglichen. Schon viele Erfinder haben sich daran versucht, natürlich auch Scharlatane; das 18. war eben nicht nur das Jahrhundert der Aufklärung, sondern auch der Entdeckung des Gefühls und des Volkstümlichen. Einer dieser Scharlatane war der mysteriöse Herr Orffyréus aus unserem Buch, auch ihn gab es wirklich, eigentlich hieß er Johann Ernst Elias Bessler. Vor zehn Jahren, also zur selben Zeit wie Brunse, beschäftigte sich auch der deutsche Essayist Joachim Kalka mit Orffyréus. Kalkas damaliger Artikel erschien 2006 in erweiterter Form in dem Band "Phantome der Aufklärung". Fast alles, was er darin von Orffyrés alias Besslers Perpetuum mobile erzählt, können wir bei Brunse noch einmal lesen. Beide reizte der Gegensatz von Wissenschaft und Träumerei. Nicht nur das 18. Jahrhundert hatte ein Faible für derlei Erfindungen, selbst der aufgeklärte Robert hält sie ja für möglich.

    "Das hat viel mit Personencharakteristik zu tun. Robert ist ja ein gelehrter Mensch, er hat viel gelesen, viel gedacht, viel studiert, viel geforscht, und er ist nicht zufällig ein großer Freund der Aufklärung, also dieser Epoche besonders der deutschen Literatur, wo alles ja systematisiert wurde, es musste alles vernünftig sein, und er leidet jetzt unter seiner Agoraphobie, und das ist ja in höchstem Grade Unvernunft. Da kommt dann auch so ein Widerspruch zustande, was mich interessiert."

    Der Sonderling Paul Scheerbart sah laut Joachim Kalka im Perpetuum mobile ein "Symbol universaler Weltverwandlung". In Ramoth-Bezer hat man mit Hilfe der Ewigkeitsmaschinen eine Weltverwandlung im kleinen versucht. Der Freiherr v. Erlenberg, der schließlich aus der Stadt fliehen kann und seinen Bericht schreibt, hat die Verwandlung zwar bestätigt, aber nicht gerade für erstrebenswert befunden. Jede Utopie führt in den Gulag, diese Erkenntnis des französischen Intellektuellen André Glucksman bestimmt auch Brunses Roman. Nur die Liebe könnte vielleicht eine positive Weltverwandlung nach sich ziehen. Aber was, wenn die Liebe nicht ausgesprochen wird? Wir verraten hier nur noch zwei Dinge. Erstens: In dieser nicht ausgesprochenen Liebe kommen die beiden Geschichten, die hier erzählt werden, zusammen. Zweitens: Ramoth-Bezer ist ein Anagramm. Für Robert Zahme.

    Niels Brunse: Die erstaunlichen Gerätschaften des Herrn Orffyreus. Roman. Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Sammlung Luchterhand, München 2007. 320 Seiten, 9,- Euro.