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Rassismus
Europas ambivalenter Humanismus

Die Idee des Humanismus ist mit der europäischen Tradition verbunden. Aber Letztere beinhaltet auch Kolonialzeit, Rassismus und ausbeuterischen Kapitalismus. Der europäische Rassismus habe deshalb eine besondere Dimension, betont die Historikerin und Drehbuchautorin Fatima El-Tayeb in ihrem neuen Buch "Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft".

Von Norbert Seitz | 28.11.2016
    An einem Haus in Loitz (Mecklenburg-Vorpommern) steht am 06.10.2013 der Schriftzug " Multikulti nein Danke".
    Schriftzug " Multikulti nein Danke" (picture alliance / dpa / Stefan Sauer)
    Von den Rettungsschirmen über den Brexit bis zur Flüchtlingsbewegung - Europa stolpert von einer Krise in die andere. Doch die Ursachen für die derzeitige Instabilität des Kontinents liegen tiefer als nur in Finanzierungslücken oder nationalen Egoismen, sagt Fatima El-Tayeb, die schwarze deutsche Historikerin und Drehbuchautorin. Sie beklagt eine folgenreich missratene Geschichtsaufarbeitung nach dem Epochenbruch von 1989.
    "Um den veränderten Konstellationen Rechnung zu tragen, war nicht nur eine Neuformulierung deutscher und europäischer Zukunftsvisionen nötig, auch die Erinnerung musste neu gestaltet werden. Im Übergang zur gegenwärtigen Weltordnung wurde die Chance zu einer realen Neuordnung der Welt auf allen Ebenen verpasst."
    Die an der Uni Hamburg ausgebildete Kulturwissenschaftlerin spezialisierte sich schon früh auf "Black European Studies" und stieß dabei auf die spezifische Form einer – Zitat: - "europäischen Rassifizierung", die sie für ein strukturelles und nicht nur für ein Außenseiterproblem hält.
    Europäischer Diskurs bestimmt das "Menschsein"
    Danach ist Rassismus "Aktion und nicht Reaktion", er dümpele nicht nur an den Rändern vor sich hin, sondern sei fundamentaler Bestandteil des globalen kapitalistischen Systems; eine radikale Position, wie sie die Autorin schon in einem Podiumsgespräch der Rosa-Luxemburg-Stiftung 2015 dargelegt hatte:
    "Ich glaube, europäischer Rassismus hat etwas Besonderes, weil Europa was Besonderes ist. Also, wie wir Menschsein definieren, ist ganz klar bestimmt von einem europäischen Diskurs, der globalisiert wurde. Zum einen als universalistischer Humanismus, aber dann natürlich auch als System von rassistischem Kapitalismus, das immer noch existiert."
    Die Autorin geißelt, was sie für eine universalistische Anmaßung hält: dass Europa sich als gänzlich unabhängig vom Rest der Welt und als einzigartig repräsentativ für die progressive Menschheit halte:
    "Nirgendwo in der Welt kann man Menschsein, kann man eigene Identität denken ohne sich in irgendeiner Art auf Europa zu beziehen. Aber Europa muss sich nie auf andere Teile der Welt beziehen und macht es auch nicht."
    Autorin geißelt anhaltende Ausbeutung
    Geschichtspolitisch betrachtet, vermisst die Autorin eine schonungslose Analyse des Kausalzusammenhangs zwischen kolonialistischer Vergangenheit und dem aktuellen Wohlstandsgefälle.
    "Dieses Ungleichverhältnis und seine Wurzeln in kolonialen Strukturen wird im Allgemeinbewusstsein überschattet von einer großzügigen 'Entwicklungshilfe', die Jahrhunderte kolonialer Ausbeutung ebenso ignoriert wie zeitgenössische Ausbeutungspraktiken – siehe TTIP – das afrikanische Nationen auf die Rolle der Rohstofflieferanten festzuschreiben droht."
    An mehreren Beispielen aus der musealen Welt versucht die Autorin, postkoloniale Denkstrukturen nachzuweisen. Noch immer mogele sich der hehre Begriff des "Weltkulturerbes" in völkerkundlichen Abteilungen an der Aufdeckung kultureller Plünderungspraktiken vorbei. Ebenfalls müsse – so Fatima El-Tayeb - das Gedenken an Opfer der Sinti und Roma vor der ritualisierten Singularität der Schoah zurückweichen. Außerdem würde die arabische Kollaboration mit den Nazis überbetont, um einen antisemitischen Zusammenhang gegen Muslime zu konstruieren.
    Rassismus ist ein strukturelles deutsches wie europäisches Problem
    Schon sprachlich hapere es: Wer bürokratisch distanzierend von "Fremdenfeindlichkeit" rede, wolle offenbar vom alltäglichen Rassismus nicht sprechen.
    "Der Ekel, die Angst und die Schuldgefühle, die Armut und ihre Begleiterscheinungen in den Mittelklasse-BewohnerInnen ehemals hipper Viertel wie Berlin-Kreuzberg und Neukölln auslösen, wird in einen nach wie vor völlig akzeptablen Rassismus kanalisiert", konstatiert Fatima El-Tayeb, die in San Diego in Kalifornien Literatur und ethnische Studien lehrt.
    Problematisch sei nicht, warum die Integration von Migranten scheitere, sondern wie und warum sie zu Außenseitern gemacht würden durch Abweichung von der neuen, nach 1989 propagierten Normalität, einem Prozess, den die Autorin auf den plakativen Begriff "Rassifizierung" bringt.
    Doch in Ihrem Bemühen, zu zeigen, dass rassistische Gewalt ein strukturelles deutsches wie europäisches Problem sei und keine Ausnahmeerscheinung, überschreitet die Autorin mitunter die Grenzlinie zwischen einer seriösen Analyse und einer politischen Kampfschrift.
    Fatima El-Tayeb berührt mit ihrer weit ausholenden Untersuchung sicher manchen wunden Punkt, vor allem, was das vielfach ausgesparte kolonialistische Erbe Europas betrifft. Sie äußert sich aber nicht zu den durchaus plausiblen Gründen für die wachsenden Zweifel an der postulierten Friedfertigkeit des Islam. Dabei klammert sie sich krampfhaft an das alte Dritte-Welt-Schema, wonach der Westen, Europa und allen voran Deutschland das irreparable Böse repräsentieren, während der ärmere Süden mit dem Islam die Unschuldszone der Welt darstellt, der auch Gewaltverbrechen nachgesehen werden.
    Fatima El-Tayeb: "Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft"
    Transkript Verlag, 256 Seiten, 19,99 Euro.