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Rassismus, Hass und Vorurteile

Mosaiksteinchen des palästinensischen Alltags setzt die Korrespondentin der linken israelischen Tageszeitung "Ha'aretz", Amira Hass, zusammen. Sie schildert die regelmäßigen Ausgangssperren, Invasionen, Bombardierungen und Belagerungen im Gazastreifen. Ihr Buch "Morgen wird alles schlimmer" ist ein eindrückliches Protokoll der "katastrophalen Routine" in Nahost.

Von Beate Hinrichs | 28.09.2006
    Als der Sohn ihrer palästinensischen Nachbarn in Ramallah elf Jahre alt wird, zeigt er Amira Hass die Geschenke, die seine Spielkameraden ihm mitgebracht haben:

    Ein Armeemesser (Plastik), eine silbrig glänzende Metallpistole (nicht echt), einen Plastikhubschrauber, einen Plastiksoldaten, ein Dominospiel, Pfeil und Bogen. Die Eltern können nicht verhindern, dass ihre Kinder Krieg spielen. Schließlich ist das zu ihrer natürlichen Umgebung geworden.

    Der 15jährige Bruder erzählt dem Jüngeren daraufhin, daaa der Plastiksoldat ein Jude sei und kleine Kinder mit einem Messer abschlachte. Seine schockierten Eltern erklären ihm, dass nicht alle Juden Soldaten seien - Amira beispielsweise sei Jüdin und keine Soldatin, sondern ihre Freundin. Der palästinensische Teenager glaubt ihnen nicht. Kein Wunder, findet die Autorin, denn der Junge habe seit frühester Kindheit israelische Panzer und Soldaten aus nächster Nähe erlebt.

    Amira Hass, die kämpferische, engagierte und international ausgezeichnete Korrespondentin der linken israelischen Tageszeitung "Ha'aretz", wohnt seit 13 Jahren in den besetzten palästinensischen Gebieten, zur Zeit in Ramallah in der Westbank. In ihrem jüngsten Buch hat sie von Februar 2001 bis Juni 2006 Tagebuchnotizen wie die geschilderte gesammelt. Im Mittelpunkt stehen Israels Besatzung und die Abriegelung der palästinensischen Gebiete. Deren Auswirkungen schildert die Autorin anhand einer Vielzahl von Begebenheiten und individuellen Schicksalen - Mosaiksteinchen des palästinensischen Alltags.

    Für Erwachsene und Kinder aus Westbank und Gazastreifen bedeutet das: regelmäßige Ausgangssperren, Invasionen, Bombardierungen, Belagerungen und mitzuerleben, wie Menschen verwundet oder getötet werden. Kinderrechte spielen dabei keine Rolle - im Gegenteil. Das israelische Militärrecht erlaubt beispielsweise, bereits vierzehnjährige Palästinenser zu Gefängnisstrafen zu verurteilen. Amira Hass berichtet von einem palästinensischen Jungen,

    …der von Soldaten durch einen Schuss ins Bein verletzt und zur Operation in ein israelisches Krankenhaus gebracht worden war. Die Militärpolizei bewachte ihn und bestand darauf, ihn mit stählernen Hand- und Fußfesseln zu sichern."

    Noch militanter als Armeeangehörige gehen manche jüdischen Siedler gegen palästinensische Kinder vor. Im Süden Hebrons griffen maskierte, englisch und hebräisch sprechende Personen wiederholt Kinder auf dem Schulweg mit Knüppeln und Steinschleudern an. Als Erwachsene einer Friedensgruppe die Kinder begleiteten, handelten sie sich gebrochene Rippen und Gliedmaßen ein.
    Amira Hass protokolliert solche Details ohne Pathos, fast lakonisch.

    Wie sehr sie Kinder traumatisieren und Hass auf Israelis schüren, lässt sich leicht vorstellen. Kinderpsychologen haben herausgefunden, dass noch weit mehr Rassismus und Vorurteile produziert werden, wenn Kinder mit ansehen müssen, wie ihre Eltern gedemütigt werden.

    Die Autorin berichtet von einem Jungen, der dabei war, als sein Vater - ein leitender Angestellter des palästinensischen Planungsministeriums - irrtümlich als Terrorist festgenommen wurde und achtzehn Tage in Haft blieb.

    "Deine Aufgabe, sagte die Mutter dem kleinen Jungen, ist es, in die Schule zu gehen, fleißig zu lernen, erwachsen zu werden, Architektur zu studieren und Häuser zu bauen." Das Kind klammerte sich an seine Mutter. "Ich will nicht in die Schule, jammerte er. Denn wenn ich erwachsen werde und Häuser baue, machen die Juden sie wieder kaputt."

    Natürlich werden bei den kämpferischen Auseinandersetzungen auch Kinder getötet. Aus "absichtlicher Gleichgültigkeit", wie Amira Hass es formuliert. Denn die israelische Armee untersucht solche Fälle in der Regel nicht und bestraft auch keinen Soldaten, der achtlos Kinder erschießt.

    Unbeteiligte Opfer sind auch Kinder, die durch palästinensische Selbstmordattentäter getötet werden - besonders oft Arme und Einkommensschwache, die gezwungen sind, mit öffentlichen Bussen zu fahren. Eltern auf beiden Seiten versuchen darum zunehmend, ihre Kinder aus der Gefahrenzone fort zum Schulbesuch oder Studium ins Ausland zu bringen - wenn sie es sich leisten können.

    Dabei ist das subjektive Erleben der Kinder manchmal ganz anders als das ihrer Eltern. Es sei zwar nicht "politisch korrekt", das zu erwähnen, bekennt Hass, aber wenn die Israelis Ausgangssperren verhängten, die nicht von gewaltsamen Störungen begleitet seien, dann freuten die Kinder sich über die schulfreien Tage.

    Es ist immer erfrischend, wenn ein Stereotyp Sprünge bekommt.

    "Politisch korrekt" berichtet Amira Hass - als gute Korrespondentin - Gott sei Dank nicht. Sie fühlt sich vor allem dem Vermächtnis ihrer Eltern verpflichtet, rumänischen Holocaust-Überlebenden. Sie haben ihr Leben lang gegen Rassismus und Unterdrückung gekämpft - auch in Israel. Sie selber wolle niemals "tatenlos zusehen", bekennt die Tochter.

    Insgesamt ist ihr Buch ein eindrückliches, oft erschütterndes Protokoll der "routinemäßigen Katastrophen" oder "katastrophalen Routine", wie Amira Hass es nennt, in der Westbank und Gaza. Dennoch - oder gerade deshalb - berühren viele ihrer Geschichten menschlich besonders.

    Panzer heißt auf arabisch "dababe". Das klingt ein bißchen ähnlich wie Baba, Vater. Leicht auszusprechen. Vielleicht ist das der Grund, warum selbst fünfzehn Monate alte Babys das Wort ständig wiederholen. Sie sehen zum Fenster hinaus, und dann rufen sie dieses Wort, als wäre es der Name eines Vogels oder einer Blume.

    Auch Ahmed, der jüngste Sohn von Freunden in Nablus, kann mit zwei Jahren bereits "dababe" sagen, auch wenn er noch gar nicht weiß, was Palästinenser und Juden oder Soldaten sind.

    Ich begann, Ahmed mit "K'tantan" anzureden. "Katan" heißt auf hebräisch "klein". "K'tantan" ist "noch kleiner". Er kann nicht wissen, was der Name bedeutet, aber der Klang gefällt ihm. Er wackelt in der Wohnung herum und brabbelt immer wieder "tantan, tantan". Mein persönlicher kleiner Sieg über den dababe.