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Raul Hilberg: Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren

Der Historiker Raul Hilberg zählt zu den angesehensten und bedeutendsten Forschern der Geschichte des Holocausts, schon als diese noch gar nicht so genannt wurde.Viele Jahrzehnte Archivarbeit und Aktenauswertung liegen hinter dem 1926 in Wien geborenen Wissenschaftler, der mit seinen Eltern vor den Nazis in die USA flüchtete. Mit der mehrbändigen Studie "Die Vernichtung der europäischen Juden" hat er das inzwischen weltweit respektierte Standardwerk zum Prozess des Genozids vorgelegt. Es folgten im Laufe der Jahre Einzelstudien, z.B. über die Beteiligung der Deutschen Reichsbahn an dem Verbrechen und die Untersuchung "Täter, Opfer, Zuschauer". Unter dem Titel "Unerbetene Erinnerung" brachte Raul Hilberg 1994 einen autobiographisch angelegten Essay heraus, der heutigen Leserinnen und Lesern, die kaum mehr etwas anderes kennen als die mediale Omnipräsenz des Themas "Holocaust", an Zeiten erinnert, in denen nicht einmal die Geschichtswissenschaft in den USA an der Erforschung des Mords an den Juden Interesse zeigte. Das Manuskript von Hilbergs Pionierarbeit, der "Vernichtung der europäischen Juden" wanderte damals von einem Verlag zum anderen; und auch in der Bundesrepublik war es keiner der großen Verlage, der später die Rechte daran erwarb, sondern einer kleiner, heute verschwundener linker Verlag namens Olle & Wolter, der das Wagnis auf sich nahm, diese Arbeit zu publizieren, als noch kein Bundespräsident Festreden zum Thema halten mochte. Nun hat der 76jährige Raul Hilberg sich noch einmal an die Arbeit gemacht. "Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren", lautet der Titel seines gerade eben bei uns erschienenen Buches.

Lothar Baier | 14.10.2002
    "Quellen" meint im Verständnis von Raul Hilberg nichts im Sinn von tieferliegenden Ursachen, sondern die Materialien und Dokumente, auf die sich die historische Forschung stützt. Beim Rückblick auf die eigene Arbeit, bekennt Hilberg im Vorwort, sei ihm ein Manko aufgefallen, nämlich mangelnde Analyse der von ihm benutzten Quellen selbst:

    Fünfzig Jahre lang habe ich mich hauptsächlich mit dem Ereignis selbst beschäftigt und die Quellen als Rohmaterial aufgefasst, das mich in die Lage versetzen würde, den Vernichtungsprozess darzustellen. Ich konnte über dieses komplexe Phänomen nicht schreiben, ohne nach Belegen in Schriftstücken zu suchen, sie zu sichten, aufeinander zu beziehen, mich in die Atmosphäre der Zeit zu versetzen, in der sie verfasst wurden, den Puls der ganzen Entwicklung zu fühlen und die Schwere ihrer Bedeutung zu ermessen. Doch dann habe ich innegehalten und mich gefragt: Was ist das Wesen meiner Quellen? Sie sind nicht identisch mit dem Gegenstand. Sie haben ihre eigene Geschichte und ihre speziellen Eigenschaften, die sich von den Handlungen unterscheiden, von denen sie sprechen, und die einen eigenen Zugang erfordern.

    Diese Geschichte und diese Eigenschaften untersucht Hilberg nun in seiner neuen Arbeit. Es liegt in der Natur des Projekts selbst, dass die Lektüre der Untersuchung nicht kurzweilig ausfallen kann. Schriftwechsel der Nazibürokratie nach Absender und Empfänger, nach Vorgang und Funktion eingeteilt und deskriptiv analysiert zu sehen, wirkt auf den ersten Blick nicht besonders spannend. Es kommt hinzu, dass Hilberg sich als Autor eines betont trockenen Stils bedient, der zwar auf der einen Seite - und angenehmerweise - wohlfeilen Ausdruck nachgetragener Empörung über die Nazis ausschließt, auf der anderen Seite sich aber auch merkwürdig der Verwaltungsdiktion annähert, die den Stoff der Untersuchung bildet. Zu ihr merkt Hilberg an:

    Die besonderen Merkmale einer Bürokratie sind Zweckrationalität und Routine: ihre typische Haltung ist Leidenschaftslosigkeit, und ihre Sprache, angereichert durch Fach- und Spezialbegriffe, ermöglicht die Erörterung der unterschiedlichsten Themen in stets demselben gefühllosen Ton.

    Das ließe sich in gewissen Grenzen auch Hilbergs teilnahmsloser Darstellungsweise nachsagen, gäbe es nicht einen gewichtigen Unterschied. Die Vertrautheit des Verfassers mit der Logik bürokratischer Diktion ermöglicht ihm bedeutsame Beobachtungen, die unter anderen Umständen schwer zu erhalten wären. So kann Hilberg zu der Feststellung gelangen, dass auch rein nationalsozialistische Institutionen wie das Reichssicherheitshauptamt sich in ihren terminologischen Gepflogenheiten eng an die Modelle hielten, die lange vor dem Nationalsozialismus in der Verwaltungsbürokratie eingeführt waren. Aufgrund der gleichen Voraussetzungen fallen Hilberg jedoch auch feine Abweichungen von der Routine auf. In einem total bürokratisierten Universum, in dem alles, was von oben entschieden und angewiesen wurde, bis ins kleinste Detail schriftlich geregelt war, entdeckt Hilberg merkwürdige Lücken. Hinterlassenschaften eines Befehls Hitlers, die mehrfach angekündigte Ausrottung der Juden ins Werk zu setzen, sind bis heute unauffindbar geblieben. Eines solchen Befehls hat es offenbar auch gar nicht bedurft, weil die Apparate von Staat, Partei, Polizei und Militär auf das Projekt der Vernichtung der Juden bereits eingestellt waren. Gerade in Sachen antijüdischer Politik, kann Hilberg nachweisen, fehlen häufig eindeutige Befehle, Anweisungen oder Vorschriften: höchstens "Richtlinien" zur Durchführung wurden bekanntgegeben, so als verstünde sich die ungeheuerliche Hauptsache, das Beseitigen jüdischen Lebens in Deutschland und im besetzten Europa, ohnehin von selbst. Bei der Durchsicht des Vokabulars, das Befehlshaber und Vorgesetzte in ihren Schreiben benutzten, ist Hilberg das häufige Auftauchen eines Alltagsworts aufgefallen, und zwar des Adverbs "selbstverständlich". Für einen hohen Beamten aus dem Reichsministerium für Wissenschaft und Erziehung war es etwa "selbstverständlich", dass Deutsche und vor allem Parteigenossen "nicht beim Juden" kauften. Ebenso "selbstverständlich" war es für einen Offizier der Abwehr, dass deutsche Soldaten gegenüber jüdischen Zwangsarbeitern mit "Unbarmherzigkeit" auftraten. Reinhard Heydrich erklärte kurz vor dem Überfall auf die Sowjetunion, dass die dort angetroffenen Juden "selbstverständlich" zu erschießen seien. Das heißt, neben dem ausdrücklichen Befehl existierte für die Befehlshaber das Mittel des Hinweises auf etwas nicht inhaltlich ausgesprochenes Selbstverständliches, um eine Absicht durchzusetzen.

    Nebeneinander von Klartext und Verschleierung zeichnet die Sprache vieler Nazidokumente aus. Hilberg unterscheidet zwischen drei Varianten der Verschleierung: erstens Legitimierung des Verbrecherischen, etwa Gleichsetzung der Massenerschießung von Juden mit einer "Aktion nach Kriegsbrauch"; zweitens die sprachliche Codierung, etwa die Tarnung der Vergasung durch Ausdrücke wie "Sonderbehandlung" oder "Durchschleusen"; drittens das Einhüllen eines Vorgangs in eine gewundene, barocke Ausdrucksweise. Während die damaligen Adressaten wussten, was gemeint war, bleibt dem späteren Historiker die Aufgabe, die Verschleierungen von den Vorgängen wegzuziehen, um zu ihrem Kern zu gelangen. Aufgrund seiner profunden Kenntnis der Materialien ist Raul Hilberg bestens dazu ausgestattet, solche Rückübersetzungen anzufertigen. Manche der Kategorisierungen und Feineinteilungen der verschiedenen Typen von Quellen, die Hilberg vornimmt, wirken reichlich akademisch und dürften mehr für Forscherkollegen von Interesse sein als für eine breitere Leserschaft. Doch diese kommt auf ihre Kosten, sobald sie die Beispiele zur Kenntnis nimmt, die der Autor zu Illustrationszwecken seinem Quellenmaterial entnommen hat. Darunter finden sich einmalige Fundstücke wie zum Beispiel der Bericht des Leiters der Städtischen Leihanstalt Dortmund, die sich 1939 aus dem gestohlenen Eigentum von Juden bedient hatte, was dann dann im einzelnen bilanziert wird. Der Schlusssatz des Dokuments lautet:

    Wenn in späteren Jahren einmal ein Forscher, der die Juden nur vom Hörensagen kennt, die Akten im Stadtarchiv Dortmund durchwühlt, wird er die Erkenntnis gewinnen, dass auch die deutschen städtischen Pfandleihanstalten zu ihrem geringen Teil an der Lösung der Judenfrage in Deutschland mitgearbeitet haben.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte bekanntlich kein Verwaltungsbeamter und kein Wehrmachtsangehöriger etwas von der Ausplünderung, Vertreibung und Ermordung der Juden gehört gehabt haben. Ein anderes Dokument, der Bericht eines Luftwaffenkommandos vom 1. Juni 1943, erwähnt eine denkwürdige Erholungsmaßnahme für abgeschossene Piloten, die noch unter Schock standen: Im Bezirk Bialystok in Polen durften sie in den Wäldern nach Herzenslust Jagd auf versprengte Juden machen. Aber natürlich hat die Luftwaffe nach den Worten ihrer in die Bundesluftwaffe übernommenen Kommandeure nie etwas mit den schmutzigen Geschäften der Nazis unten am Boden zu tun gehabt. Mosaiksteinchen dieser Art ergeben ein Bild, das der bereits dokumentierten Geschichte der Vernichtung der Juden nichts grundsätzlich Neues hinzufügt, doch ihr dadurch, dass das Monströse mit dem Gewöhnlichen zusammengebracht wird, zusätzlich Farbe verleiht. Mit Deportierten vollgestopfte Güterzüge, ist da zu erfahren, sind auf dem Weg nach Osten aus keinem anderem Grund als dem tagelang aufgehalten wurden, weil die mit Massenerschießungen in Minsk beschäftigten deutschen Polizisten auf ihrem freien Wochenende bestanden. Indem Hilberg aus dem mit dem Namen "Holocaust" versehenen, allmählich unvorstellbar werdenden Gesamtkomplex solche fassbaren und gleichzeitig unfasslichen Einzelheiten heraussprengt, präsentiert zusammen mit einer methodologischen Abhandlung ein weiteres aufregendes Geschichtsbuch von höchster Qualität.

    Bedauerlich ist nur, dass das Lektorat des S. Fischer Verlags es bei der Herstellung der deutschen Fassung an Sorgfalt hat fehlen lassen. So wird etwa der folgenreiche Vorschlag des Militärbefehlshabers in Frankreich Otto von Stülpnagel, als Vergeltung für Attentate auf Wehrmachtsangehörige Juden aus Frankreich zu deportieren, um ein Jahr nachverlegt, was an der betreffenden Stelle den Zusammenhang unverständlich macht. Und gleich am Beginn von Hilbergs Vorwort verstört das falsche Deutsch der Rede von den "Stätten, wo die drakonischen Taten verübt wurden". Strafen können drakonisch sein, nicht aber Taten.

    "Raul Hilberg; Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren", erschienen bei S. Fischer. Das Buch hat 256 Seiten und kostet 22.90 Euro.