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Raus aus der Langeweile

Bereits ihr erster Film "Die Unerzogenen" wurde 2007 in Rotterdam mit dem Tiger Award ausgezeichnet. Nun legt Pia Marais mit "Im Alter von Ellen" ihren zweiten langen Film vor und hat doch schon eine vielgerühmte sehr eigene Handschrift.

Von Josef Schnelle | 20.01.2011
    Irgendwann hat sie einfach genug. Ellen, die sonst so beflissen ihr Stewardessen-Köfferchen hinter sich her zieht und wieder einmal in einem dieser "coolen" standardisierten Hotelzimmer irgendwo auf der Welt wach wird wie jeden Tag: traurig, einsam und perspektivlos. Doch dann bricht es aus ihr heraus. Eine dramatische Begegnung mit Tieraktivisten in Afrika lässt sie kurz vor dem Start ihres Flugzeugs einfach flüchten. Das hat Folgen:

    "Nicht von Ihrer fristlosen Kündigung auszugehen wäre naiv."

    Nun ist sie auch noch ihre Arbeit los. Für sie beginnt ein Tag, der ihr ganzes Leben enthält. Alles muss sie auf den Kopf stellen, alles bedenken und nichts vergessen und dann wieder alles neu in Gang kriegen. Es gibt keinen Lebensumbruch, der nicht andere betrifft. Ihr ganzes Leben stürzt zusammen oder anders gesagt. Es wird zum ersten Mal überhaupt wichtig, was sie selbst will? Äußerst abenteuerlustig, zugleich naiv und keck stiefelt die französische Schauspielerin Jeanne Balibar als traumverlorene Hauptfigur Ellen in diesem Film in eine militante deutsche Tierschützerwohngemeinschaft mit Julia Hummer als Anführerin. Einer militanten Crew, die zugleich das Verführerische wie das Lächerliche der Aktivisten der 70er-Jahre repräsentiert.

    Das ist sowieso das liebste Themenfeld von Pia Marais, die in ihrem Film "Die Unerzogenen" schon die Defizite einer Jugend im Gefolge der 68er-Revolte zu ihrem Thema gemacht hat. Die Kinder der Hippies haben schwer an der Last einer verkopften unvollendeten Revolution zu tragen. In ihrem seltsamen schwerelosen Schwebezustand, ohne jeden Sinn für die Risiken, bringt Ellen einmal alle ihre Gefährten in Gefahr, gibt ihnen aber auch die Chance, die Grenzen ihres Handelns zu erkennen. Spektakuläre Nacktdemos, befreite Hühner beim Tiertransport, eine Invasion weißer Experimentiermäuse auf der Hauptstraße.

    Das alles ist ungewöhnlich und originell, löst aber Ellens Grundproblem nicht. Sie muss sich neu erfinden. Großartig spielt das Jeanne Balibar, die bei Michael Winterbottom in "Code 46" schon mitgespielt und auch eine Karriere als Sängerin hinter sich hat. Man kann jedenfalls nicht anders als verzaubert zu sein von ihrer betörenden leicht anämischen Präsenz. Mit ihrem alten Leben will diese Figur jedenfalls nichts mehr zu schaffen haben. Da prallen die Vorwürfe ihres Ex-Freundes an ihr ab.

    "Wie ich das mitkriege, flatterst du völlig verpeilt durch die Gegend." - "Du bist doch selber in einer Schieflage." - "Aber ich hab noch Zeit."

    Neue Hoffnungen, ein neues Leben, das baut sich nur langsam auf. Man muss auch nicht allen Thesen dieses Films folgen, dem Pia Marais vielleicht allzu viele Botschaften aufbürdet. Eine Identitätskrise wird bewältigt, die ganze Welt gerettet und nebenher werden noch die Ideale der 70er-Jahre zugleich kritisiert und auch gerettet. Die Schauspielerinnen Jeanne Balibar und Julia Hummer folgen immerhin so überzeugend dem Konzept dieses modernen politischen Thesenfilms mit so heftigen emotionalen Spitzen, dass er das halbe 20. Jahrhundert der Lebensutopien so dynamisch und so lebendig abbildet wie kaum ein zweiter deutscher Film.

    Pia Marais ist in Südafrika aufgewachsen, hat in mehreren europäischen Ländern studiert, schließlich an der Berliner Filmhochschule ihren Abschluss gemacht. Ihr Debüt "Die Unerzogenen" gewann in Rotterdam den Tiger-Award und ist ebenso eine deutsche Produktion wie "Im Alter von Ellen", der in Locarno an den Start ging. Ellen geht am Ende des Films zurück nach Afrika, dem Hoffnungskontinent der Hoffnungslosen, vielleicht auf der Suche nach der Zukunft, die noch gar keiner kennt. Dort hat immerhin die Häutung ihrer Hoffnungslosigkeit begonnen. Man möchte mit ihr gehen und endlich entdecken, worum es wirklich geht in diesem Leben. Es könnte also sein, dass Pia Marais irgendwie doch ein ganz großer Wurf gelungen ist. Ein ungewöhnlicher zweiter Film, locker und entspannt inszeniert , aber auch reich an Themen und Bezügen. Auf Pia Marais wird man zu achten haben. Sie ist eines der ganz großen Talente des deutschsprachigen Films.

    "Dass du was riskierst, mag ich an dir. Aber mach dir nichts vor. Du bist eine Brücke für mich."