Freitag, 19. April 2024

Archiv

Ray Cokes
"Ich spielte Videogames und schaute Pornos"

Ray Cokes wurde mit der MTV-Show "MTV's Most Wanted" zum Moderatorenlegende. Doch nach dem Bruch mit dem Musiksender ging es rapide bergab. Im DLF erzählt er von den guten Zeiten - und wie er in die Depression rutschte.

Ray Cokes im Corso-Gespräch mit Bernd Lechler | 22.10.2014
    Der ehemalige MTV-Moderator Ray Cokes
    Der ehemalige MTV-Moderator Ray Cokes (dpa/picture alliance/Daniel Reinhardt)
    Bernd Lechler: Ray Cokes ist eine Fernsehlegende. "MTV's Most Wanted" hieß seine erfolgreichste Sendung auf MTV Europe Anfang bis Mitte der 90er-Jahre, in der Goldenen Ära des Musikfernsehens. Es wurden die neusten Videos gezeigt, Radiohead oder Blur spielten live, ein junger Robbie Williams zeigte seinen nackten Hintern, und mittendrin alberte der Schalk mit den Stoppelhaaren auf englisch vor einem gesamt-europäischen Publikum. Selbst wer die Sprache nicht ver¬stand, schien seine freundliche Mischung aus ernsthafter Leidenschaft und totalem Nonsens zu verstehen. Diese Woche nun erscheint "My Most Wanted Life", die Autobiografie von Ray Cokes, in der er seine Zeit bei MTV und die Geschehnisse hinter den Kulissen beschreibt, seine Kindheit in England, Südafrika und auf Mauritius beschreibt, aber auch seinen Absturz, nachdem eine schlecht organisierte MTV-Veranstaltung auf dem Hamburger Spielbudenplatz im Mai 1996 seine Karriere über Jahre lahmlegte. Im Corsogespräch sollte Ray Cokes erst einmal den Zauber von "MTV's Most Wanted" erklären.
    Ray Cokes: Zum einen waren viele der Zuschauer im Teenager-Alter. Sie waren von ihren Eltern genervt und mussten darum kämpfen, die Sendung sehen zu dürfen. Und die Musik war toll, wir hatten diese ganzen großen Bands zu Gast, die in unseren kleinen Klub kamen, wo wir uns nicht besonders ernst. Als Teenager will man ja irgendwo dazugehören. Bei uns konnte sich ein An¬rufer aus, sagen wir, Nordfinnland, der sich von niemand in seinem Dorf verstanden fühlte, plötzlich mit jemandem in London identifizieren. "Hey, der mag die gleiche Musik wie ich, der redet wie ich!" Da entstanden Zusammengehörigkeiten quer durch Europa. Die Leute ließen sich was einfallen, sie faxten Zeichnun¬gen, sie wollten dabei sein. Und man konnte den Ablauf als Zuschauer beeinflussen. Wenn jemand ein gutes Fax schickte, riefen wir ihn an. Dann waren die nächsten fünf Videos eben gestrichen, und wir redeten stattdessen über seine Geschichte. Das heißt, die Leute haben die Show gemacht. Das war das Besondere an "Most Wanted".
    "Ich wusste immer, wo die Grenze ist"
    Lechler: Es endete mit einem großen Knall in Hamburg. Was ist da passiert?
    Cokes: Wir bekamen Konkurrenz von VIVA. MTV war in Sachen Musik¬fernsehen der König der Welt, aber VIVA wurde gefährlich. Also hieß es, wir machen ein großes Event in Hamburg. Das hatte zuvor in Köln schon geklappt. Um es VIVA zu zeigen. "Okay", sagte ich, "aber dann müssen wir erst mal was schreiben." Man braucht ja Inhalte, auch wenn es manchmal nicht so aussieht. Ein paar Spiele mit dem Publikum, und vor allem zugkräftige Bands. "Keine Sorge", hieß es, "ist alles geklärt, wir haben R.E.M. und Tina Turner. Das war gelogen. Es gab überhaupt keine Attraktion. Am Ende hatten wir je¬mand, der mal bei "Baywatch" durchs Bild gelaufen war. Ich hatte vor einem Desaster gewarnt, ich hatte mich geweigert, am Ende zwangen sie mich mitzumachen. Der Abend lief dann ganz okay. Bis ich sagte: "Und jetzt, Ladies and Gentlemen: Die Toten Hosen!" Plötzlich hörte ich Buhrufe. Bierbecher kamen geflogen. Vollgepinkelte Becher. Und es wurde immer schlimmer. Ich begriff erst hinterher, was passiert war: Das Hamburger MTV-Büro hatte einen Liveauftritt der Hosen angekündigt. Dabei war das nie geplant, wir hatten sie zwei Tage vorher aufgezeichnet. Und die Fans der Toten Hosen - sehr laut, sehr betrunken, hatten den ganzen Tag auf ihre Lieblingsband gewartet - die drehten durch.
    Lechler: Es gab Tumulte. Aber so was ruiniert normalerweise nicht bis auf Weiteres die Karriere eines beliebten Moderators. Man hielt Sie ab da für unzuverlässig...
    Cokes: Ja. Ich galt schon davor als "loose cannon", also als jemand, der unversehens losgehen kann, wobei das nicht schlecht ist - ich wusste ja immer, wo die Grenze ist, ob es um Anzüglichkeiten oder Politik ging, und ich bin immer ganz nah ran an diese Grenze, aber ich überschritt sie nie! Aber auf dieser Bühne in Hamburg, da vergaß ich kurz, dass ich der Präsentator war, und wurde zum englischen Hooligan, den ich auch im Blut habe. "Okay, ihr wollt euch prügeln? Dann kommt her!" Am Ende ging ich ab und sagte: "Ihr könnt nichts dafür, Leute, man hat euch belogen, schuld sind die Scheiß-Bosse von MTV." Live im Fernsehen. Bei MTV sagten sie: "Das ist alles allein deine Schuld. Deine Show ist gestrichen. Aber: Du bist überarbeitet, dein Ego ist zu groß geworden, mach mal sechs Wochen Urlaub, und dann fangen wir mit einem kleineren Format noch mal an." Und ich sagte dann dummerweise auf meine störrische Art: "Nö. Ihr schiebt mir die Schuld in die Schuhe, obwohl ihr es wart? Ich gehe."
    "Plötzlich ist man ein Niemand"
    Lechler: Eine Zeit lang haben wir Sie später auf ARTE gesehen, das war aber auch bald vorbei...
    Cokes: Ich hatte mich sehr gefreut, als das Angebot kam, für die Sendung "Music Planet", weil ARTE einen guten Ruf hatte, und dort Musik als Kunstform einfach ernstgenommen wurde. Dann hörte ich das Gerücht, man würde uns absetzen. Als ich mit dem Chef sprach, sagte er: "Die Quoten sind zu schlecht." Ich sagte: "Dann weiß ich nicht, wer diese ganzen Leute sind, die mich ständig auf die tolle Sendung ansprechen - außerdem ist das kein Argument: Du kannst mir nicht erzählen, dass eure Doku über äthiopische Fischer bessere Quoten hat als The Cure!" Und später gab er zu: "Wir haben zwei Musiksendeplätze auf ARTE: "Tracks" und deine Sendung. Wir haben nächstes Jahr aber nur noch für eine Sendung Budget. Ich habe also einfach eine Münze geworfen. Und du hast verloren."
    Lechler: All diese Niederlagen, und vor allem als Sie nach dem MTV-Eklat nirgendwo mehr unterkamen, mündeten in eine Depression. Wie kamen Sie wieder raus?
    Cokes: Man ist natürlich als erfolgreicher Moderator der King. Und verdient gut. Und plötzlich ist man ein Niemand. Keine Redaktion rief mich zurück, niemand gab mir Arbeit, und dann saß ich zu Hause und tat, was man als Mann da gerne mal tut: Ich spielte Videogames und schaute Pornos. Wurde süchtig nach dem Internet - damals lud man fünf Stunden lang ein Foto runter und hatte eine astronomische Telefon¬rechnung. Meine Freundin ging zur Arbeit, und wenn sie abends um halb sieben zurückkam, war ich angezogen, hatte gekocht und Blumen besorgt, alles schien wunderbar. "Wie geht's dir?" - "Mir geht's gut!" - "Hast du irgendeinen Agenten erreicht?" - "Ja, ich hab einige angerufen..." Dabei hatte ich gar nicht mehr das Selbstvertrauen, irgendwen anzurufen, ich hielt mich für erledigt. Aber einmal hatte sie ihren Laptop vergessen, kam am Nachmittag zurück und ertappte mich in meinem Elend. "Was machst du denn da?! Du bist mein Mann! Wie soll ich dich noch respektieren?" Das reichte, um mich aufzuwecken.
    Lechler: Im Moment ist ihr Hauptjob ja ein Platz in der Jury der belgischen Ausgabe von "Das Supertalent". Ist eine Castingshow nicht das Böse schlechthin, verglichen mit richtigem Musikfernsehen?
    Cokes: Natürlich. Davor hat man mir mehrmals "Pop Idol" und die "...sucht den Superstar"-Sendung angeboten, und ich sagte immer empört Nein: "Das hat doch die Musik im Fernsehen gekillt! Ihr verdient einen Haufen Geld, und die jungen Leute gehen nicht mehr in einen Keller und nehmen da Drogen und trinken zu viel und machen Musik, sondern sie wollen berühmt werden und nichts sonst! Damit will ich nichts zu tun haben!" Das hätte ich als Ausverkauf empfunden. Andererseits muss ich die Miete bezahlen. Aber bei "Belgium's Got Talent" geht's ja nicht um Musik, da wird auch gezaubert und Comedy und Unsinn gemacht - das ist ok.
    Also, ich hab schon mit mir gerungen, ob ich in die große Maschinerie einsteige, aber ich bin 56 und wollte in diesem Geschäft bleiben. Und es erlaubt mir eben, auch kleine Shows vor 250 Leuten für 200 Euro zu machen. Den Lebensunterhalt liefert die große Show.
    "Hey, so bin ich halt"
    Lechler: Wo Sie die 56 erwähnen: Bei MTV waren Sie auch immer mit Abstand der Älteste - war das ein Thema?
    Cokes: Nein! Es stimmt, ich war zehn Jahre älter als die anderen, und das beim Jugendkanal MTV, in einer Show für Teenager. Aber das war egal, ich hatte Zwanzigmal mehr Energie als die zehn Jahre jüngeren, und ich war viel frecher: Die dachten alle an ihre langfristigen Perspektiven, ich dachte an die nächsten fünf Minuten. Das Alter spielte keine Rolle.
    Lechler: Und jetzt steht alles in Ihrem Buch. Wie ging's Ihnen mit dem Schreiben?
    Cokes: Es war der schwierigste Prozess meiner Karriere - weil ich nicht weiß, wie man schreibt! Wenn ich auf der Bühne bin, lachen die Leute, bei einer Fernsehsendung sagt der Regisseur: "Super!", aber hier schreibt man in dieses Vakuum hinein. Der Stress toppte alles, was ich kannte - dabei lebe ich immer schon vom Adrenalin. Aber bei einem Verleger zu sitzen, der sagt: "Jetzt mach's endlich fertig!" - "Ich kann nicht! Es kommt nichts!" -"Mach's fertig!" Ich hab die erste Deadline verpasst, die zweite auch, hab fast meine Beziehung ruiniert, weil ich vor lauter Druck so reizbar war - und weil ich halt auch ein Perfektionist bin, selbst wenn das im Fernsehen nicht so aussieht. Und es ging eben um ein Buch. Ein befreundeter Autor sagte mir: "Sei vorsichtig, es ist ein Buch über dich selbst."
    Lechler: Und es kommt eine Menge Sex & Drugs & Rock'n'Roll drin vor. Sex vor allem. Nicht immer schmeichelhaft. Ein Besuch in einem Swingerklub. Wird das nicht komisch sein, wenn das alles bald jeder von Ihnen weiß? Die Öffentlichkeit, aber auch Freunde...
    Cokes: Damit werde ich tatsächlich klarkommen müssen, aber die Entscheidung muss man bei einer Autobiografie nun mal treffen. Wie weit gehe ich? Wenn ich nichts verrate, wird's lang¬weilig. Eines war von vornherein klar: kein Klatsch über prominente Freunde, über deren geheime Probleme. Aber über mich? Hey, so bin ich halt.