Donnerstag, 28. März 2024

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Raymond Carvers
Mit Seele und Zärtlichkeit

Raymond Carvers Leben war lange Jahre von Armut und Alkoholismus geprägt. Nach dem Entzug blieben ihm noch zehn Jahre zum Leben und Schreiben: 1988 starb er mit 50 Jahren an Lungenkrebs. "Call if you need me" versammelt seine letzten unveröffentlichten Texte.

Von Tabea Soergel | 30.01.2014
    Raymond Carver wurde ein Leben lang von dem Gefühl beherrscht, nicht genug Zeit zum Schreiben zu haben. Als junger Mann schlug er sich mit schlecht bezahlten, aber kraftraubenden Jobs durch, um seine Familie und sich zu ernähren. Seinem Drang zu schreiben tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil, mit dem ständigen Mangel an Zeit für das Wesentliche ging er sehr pragmatisch um: Er konzentrierte sich auf Kurzgeschichten - denn die Rohfassung einer Erzählung ließ sich an einem einzigen Tag niederschreiben. So führten gewissermaßen die prekären Lebensumstände dazu, dass Raymond Carver heute als Erneuerer der Short Story gilt. In einem der sehr persönlichen Essays in diesem Band wendet sich Carver diesem Aspekt seiner Biografie zu:
    "Ich muss sagen, dass der Faktor, der mein Leben und mein Schreiben direkt und indirekt am allermeisten beeinflusst hat, meine zwei Kinder sind. Als sie auf die Welt kamen, war ich noch keine zwanzig, und vom ersten bis zum letzten Augenblick unserer Zeit unter einem gemeinsamen Dach - insgesamt etwa neunzehn Jahre - gab es keinen Bereich in meinem Leben, wohin ihr großer und oftmals schädlicher Einfluss nicht reichte."
    Wenn man mit Carvers Geschichten vom Alltag der kleinen Leute vertraut ist, verwundert dieses Eingeständnis nicht. Komplizierte zwischenmenschliche Gefühle, Armut, Alkoholismus - das Schicksal seiner Protagonisten kannte er aus erster Hand. Seinem Vater, einem tragischen Säufer, widmete er beispielsweise einen Essay, aber auch seinen engen Autorenfreunden Tobias Wolff und Richard Ford. Und er bedankte sich mit einem warmherzigen Aufsatz bei seinem Mentor John Gardner. Dieser hatte ihn einst die obersten Gebote des Schreibens gelehrt: Aufrichtigkeit und Genauigkeit. Für Carver waren Leben und Literatur kaum zu trennen. Und so gerät die poetologische Betrachtung zu seinem Gedicht "For Tess" zugleich zu einer Liebeserklärung an seine zweite Frau Tess Gallagher:
    "[...] ich habe das Gedicht nicht nur an Tess gerichtet, die Frau, die während der letzten zehn Jahre meine Lebensgefährtin war, und ihr 'Neuigkeiten' aus meinem Leben in Port Angeles erzählt - ich denke hier an Ezra Pounds Bemerkung 'Literatur, das sind Neuigkeiten, die neu bleiben' -, sondern ich habe diese Gelegenheit auch genutzt, um ihr zu sagen, dass ich dankbar dafür bin, dass sie in mein Leben getreten ist, damals im Jahr 1977. Seit sie da ist, hat sich mein Leben von Grund auf verändert, und der Unterschied zur Zeit vorher ist enorm."
    Melancholisch wie Hopper
    Auf dem Buchumschlag ist ein Gemälde von Edward Hopper abgebildet. Hoppers Bilder und Carvers späte Texte umweht die gleiche lichte Melancholie: Mit der Darstellung einsamer Menschen in uramerikanischen Landschaften wecken sie im Rezipienten eine tiefe Sehnsucht. Zugleich lassen sie ihn durch die Spannung zwischen nebensächlichen Details und kapitalen Leerstellen auf subtile Weise ahnen, dass sich die eigentlichen Dramen im Verborgenen abspielen. Carvers letzte Erzählungen mögen unvollendet sein; meisterlich sind sie trotzdem. Die Figuren scheinen, verglichen mit den früheren Short Storys, eine neue Milde hinzugewonnen zu haben. Sie begegnen einander nicht mehr kalt und brutal, sondern mit hilfloser Zärtlichkeit. Und doch hält das Grauen immer wieder Einzug in ihre Welt, auch wenn es nur in Form eines Blickwechsels zwischen Freunden geschieht, die Zeugen eines Hausbrands werden:
    "Nick wandte den Kopf leicht in Roberts Richtung und stellte überrascht fest, dass Robert ihn anstarrte und nicht das Haus. Roberts Gesicht war gerötet, sein Ausdruck streng, als ob alles, was passiert war - Brandstiftung, Gefängnis, Betrug und Ehebruch, der Umsturz der etablierten Ordnung -, Nicks Schuld sei und ihm zur Last gelegt werden könne. Nick starrte zurück, den Arm um Joanne gelegt, bis die Röte aus Roberts Gesicht wich und er die Augen senkte. Als er wieder aufblickte, sah er nicht mehr Nick an. Er stellte sich näher zu seiner Frau, wie um sie zu beschützen."
    Der Autor als Leser
    So leidenschaftlich und unermüdlich, wie er schrieb, las Raymond Carver. Der Band versammelt Vorworte, die er zu von ihm herausgegebenen Anthologien beisteuerte, sowie Rezensionen. Man spürt, was ihm die Literatur bedeutete: nämlich alles. Sie nahm er so ernst wie das Leben, ernster vielleicht sogar als seine Kinder, seine Familie. Euphorische Entdeckerfreude teilte er in seinen Artikeln ebenso freimütig mit dem Leser wie bittere Enttäuschung, ohne Scheu vor großen Namen; an fremde Texte hatte er dieselben Ansprüche wie an eigene Arbeiten, und dabei war er unbestechlich. Über Autoren, deren Werk er schätzte, schrieb er mit soviel Hingabe, Inspiration und Bewunderung, dass man auf der Stelle jedes von ihm empfohlene Buch lesen will, um der Seligkeit ähnlich nahe zu kommen wie er:
    "Wenn wir Glück haben, Verfasser und Leser gleichermaßen, lesen wir den letzten Satz oder die letzten beiden einer Kurzgeschichte und sitzen dann einfach einen Augenblick lang ruhig da. Im Idealfall denken wir über das nach, was wir gerade geschrieben oder gelesen haben; vielleicht haben unser Herz und unser Verstand sich ein klein wenig von der Stelle, an der sie vorher waren, fortbewegt. Unsere Körpertemperatur ist um ein Grad gestiegen oder gesunken. Dann atmen wir tief durch, besinnen uns, Autor wie Leser, stehen auf, erschaffen 'aus warmem Blut und Nerven', wie eine Figur bei Tschechow sagt, und wenden uns dem nächsten zu: dem Leben. Immer dem Leben."
    Nur noch Poesie
    Am Ende reichte Raymond Carvers Zeit nicht einmal mehr für Kurzgeschichten: Nachdem man bei ihm Krebs diagnostiziert hatte, schrieb er nur noch Gedichte. Dieses Buch enthält seinen letzten Prosatext: Gedanken zu einem Zitat der Heiligen Theresa, das ihn sehr beeindruckte: "Worte führen zu Taten ... Sie bereiten die Seele vor, machen sie reif und lenken sie zur Zärtlichkeit". "Seele" und "Zärtlichkeit" - viel präziser als mit diesem Koordinatenpaar lässt sich der Kosmos von "Call if you need me" kaum definieren.
    "Denken Sie dann auch an dieses selten verwendete Wort, das in der Öffentlichkeit wie im Privaten fast ganz außer Gebrauch gekommen ist: Zärtlichkeit. Es kann nichts schaden. Und jenes andere Wort: Seele - wenn Sie wollen, nennen Sie es Geist, wenn es Ihnen dann leichter fällt, sich auf dieses Terrain zu begeben. Vergessen Sie das ebenfalls nicht. Achten Sie auf den Geist, der Ihre Worte, Ihre Taten erfüllt. Das ist Vorbereitung genug. Mehr Worte brauchen wir nicht."
    Raymond Carver: "Call if you need me"
    Fischer Klassik. 400 Seiten, 9,99 Euro.