Donnerstag, 25. April 2024

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Reaktionen von Schwulen und Lesben
CSD-Veranstalter: Merkel ignoriert Opfergruppe von Orlando

Stefan Mielchen vom Verein "Hamburg Pride" wirft Bundeskanzlerin Angela Merkel vor, sich nach dem Anschlag von Orlando nicht demonstrativ an die Seite von Schwulen und Lesben zu stellen. Er sagte im Deutschlandfunk, er erwarte von ihr ein Signal, dass sie die LGBT-Szene ebenso wie US-Präsident Barack Obama als bedingungslosen Teil unserer Gesellschaft anerkenne.

Stefan Mielchen im Gespräch mit Sandra Schulz | 16.06.2016
    Kerzen in den Regenbogenfarben rot, orange, gelb, grün, blau und violett
    Mit Kerzen gedachten Schwule und Lesben weltweit der Opfer des Anschlags von Orlando, wie hier in Lyon. (picture alliance / dpa / Mast Irham)
    Der Verein "Hamburg Pride" organisiert den Christopher Street Day (CSD) in der Stadt, die wichtigste Veranstaltung der LGBT-Szene. Beim CSD wird für mehr Rechte demonstriert, aber auch die Subkultur gefeiert. Der "Hamburg Pride"-Vorsitzende Mielchen kritisierte, dass Bundeskanzlerin Merkel es vermieden habe, die Opfergruppe gezielt zu erwähnen. Mielchen hatte Merkels Reaktion in einem Gastbeitrag für stern.de als erbärmlich bezeichnet.
    "Wenn es eine Redaktion trifft, dann ist ein solcher Anschlag immer ein Angriff auf die Pressefreiheit, trifft es eine Synagoge, ist es ein Anschlag auf die jüdische Gemeinschaft, trifft es einen Gayclub, dann ist es ein Anschlag auf eine ganz bestimmte Lebensform", bemängelt Mielchen im Deutschlandfunk. "Das darf man auch so ganz klar benennen."
    Der LGBT-Begriff fasst Menschen zusammen, die gemeinsam haben, nicht der heterosexuellen Norm zu entsprechen. Die englische Abkürzung steht für: Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender, also Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender. Es geht um die sexuelle Orientierung, um die eigene Geschlechtsidentität und um körperliche Geschlechtsvariationen.
    Signal von Merkel erwartet
    Wenn sich ein Staats- und Regierungschef wie US-Präsident Obama an die Seite der Adressaten eines solchen Anschlags wie dem in Orlando stelle, dann laute das Signal: Ihr seid ein bedingungsloser Teil unserer Gesellschaft. Das mache die Opfer nicht zu besseren oder schlechteren Opfern, sage aber denen, die andere ausgrenzten, dass sie damit in unserer Gesellschaft keinen Platz haben. Dieses Signal vermeide die Kanzlerin, so Mielchen. "Dieses Signal würde ich von Angela Merkel eigentlich erwarten."
    Der "Hamburg Pride"-Vorsitzende führte aus, bei dem Attentat in Orlando habe es sich um einen gezielten Anschlag auf einen Schutzraum für Homosexuelle gehandelt: "Die waren ganz gezielt gemeint." Es sei ein Anschlag auf eine ganz bestimmte Gruppe gewesen. "Das unter den Tisch fallen zu lassen, nur weil man sagt, Sexualität ist Privatsache, das ist mir viel zu wenig."

    Das Interview im Wortlaut:
    Sandra Schulz: Nach dem Angriff von Orlando auf einen Homosexuellen-Club, da liegen die Motive des Attentäters nach wie vor weitestgehend im Dunkeln. Der Todesschütze hatte sich zum IS bekannt, aber die Ermittler gehen auch Hinweisen nach, wonach der Mann aus Hass auf Homosexuelle gehandelt haben könnte. Die Ehefrau des Attentäters, die ihn auch bereits als psychisch krank bezeichnet hatte, die sprach gestern öffentlich davon, Omar Mateen habe auch Disney World im Visier gehabt. Heute kommt US-Präsident Barack Obama nach Orlando.
    Hillary Clinton, die hatte nach dem Anschlag von Orlando ihre Solidarität mit Schwulen und Lesben ganz schnell klar gemacht, und übrigens auch ihr Konkurrent Donald Trump. Der hatte der LGBT-Community versprochen, ich werde für euch kämpfen, wobei LGBT im englischen Sprachraum eine gängige Abkürzung ist für "Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender", also für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgeschlechtliche.
    Anders hat es die deutsche Bundeskanzlerin gemacht. Angela Merkel hat den Opfern und Angehörigen von Orlando ihr Mitgefühl ausgesprochen. Da fehlte aber ein Hinweis auf die sexuelle Orientierung - und daran gibt es jetzt Kritik. Der Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg spricht von mangelnder Solidarität. Wen oder was der Angreifer von Orlando getroffen hat, ist das bei uns zu wenig Thema? Darüber wollen wir in den kommenden Minuten sprechen. Am Telefon ist Stefan Mielchen, er ist der Vorsitzende des Vereins "Hamburg Pride", der den Christopher Street Day in Hamburg organisiert. Guten Morgen!
    Stefan Mielchen: Schönen guten Morgen, Frau Schulz.
    Schulz: Sie kritisieren ja ganz scharf, dass die Kanzlerin die sexuelle Orientierung der Opfer nicht genannt hat. Warum?
    Mielchen: Wissen Sie, wenn es eine Redaktion trifft, dann ist ein solcher Anschlag immer ein Angriff auf die Pressefreiheit. Trifft es eine Synagoge, ist es ein Anschlag auf die jüdische Gemeinschaft. Trifft es einen Gay Club, dann ist es ein Anschlag auf eine ganz bestimmte Lebensform und ist genau so gemeint. Das darf man auch so ganz klar benennen. Und wenn sich ein Staats- oder Regierungschef in einer solchen Situation demonstrativ an die Seite der Adressaten stellt, so wie es Barack Obama getan hat, so wie es Hillary Clinton getan hat, dann lautet das Signal, ihr seid ein bedingungsloser Teil unserer Gesellschaft. Ich finde das wichtig. Das macht jetzt die Opfer nicht zu besseren oder schlechteren Opfern, aber es sagt all denen, die Menschen wie mich zum Beispiel ausgrenzen, nur weil wir eine andere sexuelle Orientierung haben als sie selbst, dass sie damit in unserer Gesellschaft keinen Platz haben.
    Dieses Signal vermeidet die Kanzlerin. Sie sagt, wir werden unser offenes und tolerantes Leben fortsetzen. Aber es geht nicht mehr um Toleranz; es geht um Akzeptanz, und das ist ein großer Unterschied. Es geht auch um die Frage, wie offen ist unsere Gesellschaft tatsächlich. Es geht darum zu zeigen, wir nehmen euch und eure Lebensform nicht einfach nur hin, weil wir das nicht anders können, sondern wir akzeptieren euch in all eurer Vielfalt. Dieses Signal würde ich mir von Angela Merkel eigentlich erwarten.
    Demonstration von Angehörigen der LGBT-Community auf einem Platz mit Brunnen, es wehen Regenbogenflaggen, auf Plakaten steht "Stop the Hate"
    Auch in der philippinischen Hauptstadt Manila haben Angehörige der LGBT-Community an die Opfer des Anschlags von Orlando erinnert. (picture alliance / dpa / Mark R. Cristino)
    "Gezielter Anschlag auf einen Schutzraum"
    Schulz: Jetzt ist die sexuelle Orientierung vielleicht noch mehr Privatsache als das Beispiel, das Sie zitieren, die Arbeit in einer Redaktion. Dass der Hinweis fehlt bei Angela Merkel, könnte es nicht einfach ein Zeichen dafür sein, wie normal Homosexuelle in unserer Gesellschaft sind?
    Mielchen: Vermeintlich ja. Ich habe gestern auf meine Äußerung viele Reaktionen bekommen von Menschen, die sagen, na ja, es geht doch um Menschen. Aber das ist ein gezielter Anschlag gewesen auf einen Schutzraum, möchte ich mal sagen, für Homosexuelle. Er ist genau so gemeint gewesen. Und ja, es ist ein Anschlag auf eine ganz bestimmte Lebensform, auf eine ganz bestimmte Gruppe, und das unter den Tisch fallen zu lassen, nur weil man sagt, Sexualität ist Privatsache, das ist mir viel zu wenig. Es geht in meiner, in unserer Identität als Homosexuelle um viel mehr als nur um Sexualität. Das muss man, glaube ich, einfach mal begreifen. Deshalb darf man damit auch sehr offen und offensiv umgehen.
    Schulz: Und das würde ich noch gerne besser verstehen. Ich verstehe Sie richtig, dass ein Schwulen- und Lesbenclub keine normale Disco ist. Warum nicht?
    Mielchen: Es ist in erster Linie schon eine ganz normale Disco und dann ist es doch wieder ein Unterschied. Es ist ein Schutzraum, in dem sich Schwule und Lesben, Transmenschen und wer auch immer ganz ungezwungen und angstfrei bewegen können, und das ist wichtig, weil wir das häufig in unserem Alltag so nicht können. Solche Schutzräume braucht man und da muss man sich nicht erklären. Ich glaube, das ist etwas, was viele Heteros so gar nicht nachvollziehen können, weil sie diese Diskussion und diese Lebensrealität gar nicht so haben. Heterosexuell ist man einfach, das ist die Norm, und wer von dieser Norm abweicht, muss sich ständig erklären, hat in seinem Alltag ständig Situationen, wo man das Gefühl hat, sich rechtfertigen zu müssen. Deshalb sind solche Orte, Orte der schwulen, lesbischen Subkultur, einfach auch ganz wichtig und wir merken jetzt, dass solche Schutzräume, dass wir in diesen Räumen, in die wir uns so zurückgezogen haben, um einfach auch mal ganz ungezwungen sein zu können, dass wir an einem solchen Ort jetzt angreifbar sind. Das erklärt, glaube ich, auch nicht nur die große Trauer, die die LGBT-Community jetzt empfindet, sondern auch die Wut, die damit verbunden ist, dass das nicht thematisiert wird.
    70 Prozent der Jugendlichen haben Angst vor Coming Out
    Schulz: Sie schreiben ja in Ihrem Kommentar im "Stern", den ich gerade zitiert habe, auch von Angsträumen. Sie sprechen das jetzt auch wieder an: Familie, Schule, Arbeitsplatz. Warum sind das für Homosexuelle im Jahr 2016, im 21. Jahrhundert Angsträume?
    Mielchen: Das ist eine gute Frage, warum das so ist. Weil es einfach keine Selbstverständlichkeit und keine Normalität gibt zu sagen, ihr seid bedingungslos Menschen wie wir alle in der Mehrheitsgesellschaft auch. Es gibt eine Studie des Deutschen Jugendinstituts, die ist relativ neu. Da heißt es, dass fast 70 Prozent der Jugendlichen im Coming Out Angst davor haben, sich ihrer Familie zu offenbaren, weil sie Angst haben, durch Eltern und Geschwister abgelehnt zu werden. Sieben von zehn Jugendlichen haben in der Familie in einer ganz zentralen Entwicklungsphase Angst und erleben die Familie als Angstraum. Und da kann man nicht sagen, das hat mit der Gesellschaft nichts zu tun. Das hängt natürlich damit zusammen, wie offen, wie akzeptierend, wie selbstverständlich wir mit der Vielfalt von Lebensweisen umgehen, zum Beispiel in der Schule, wo dieses Thema fast komplett ausgeblendet wird. Da gibt es große Diskussionen darum, wie kann man über die Vielfalt von Lebensweisen in der Schule eigentlich reden, aber das ist wichtig, um einfach ein Stück Normalität herzustellen.
    Schulz: Aber kommen wir dieser Normalität denn jetzt durch die Diskussion, die wir gerade führen, näher? Ich kann mich nicht erinnern, dass die sexuelle Orientierung mal Thema gewesen wäre bei Anschlägen. Ich unterstelle, dass es daran gelegen hat, dass es in erster Linie heterosexuelle Opfer waren, so wenig Sie und ich darüber wissen. Jetzt dringen Sie darauf, das in diesem speziellen Fall zum Thema zu machen. Lösen Sie sich nicht dann gerade selbst von dieser Normalität?
    Mielchen: Nein. Es ist natürlich kein Thema, wenn der Anschlag zum Beispiel einen Flughafen trifft, wie das in Brüssel der Fall war, oder in Paris ein Stadion. Da ist die sexuelle Orientierung der Opfer natürlich überhaupt kein Thema. Aber hier hat es jetzt gezielt eine Einrichtung getroffen, ich sage das noch mal, einen Schutzraum für Homosexuelle, und die waren ganz gezielt gemeint, und darüber muss man reden.
    Schulz: Das haben wir getan in den letzten Minuten. Herzlichen Dank an Stefan Mielchen, er ist der Vorsitzende des Vereins "Hamburg Pride", der den Hamburger Christopher Street Day organisiert. Ganz herzlichen Dank für das Interview.
    Mielchen: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.