Donnerstag, 18. April 2024

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Reaktorsicherheit
Erneuter Zwischenfall im belgischen Doel

Im März musste der erste Block des belgischen Kernkraftwerks Doel vom Netz genommen werden, nachdem Risse im Druckbehälter festgestellt worden waren. Nun lief die Hochdruckdampfturbine in Block 4 heiß und schaltete sich automatisch ab. Diese beiden Reaktorblöcke sind nicht die einzigen, die aktuell in Belgien vom Netz genommen wurden.

Dagmar Röhrlich im Gespräch mit Britta Fecke | 18.08.2014
    Britta Fecke: Wir wollen den jüngsten Zwischenfall zum Anlass nehmen, um über den allgemeinen Zustand des Nuklearparks in Belgien zu sprechen. Wissenschaftsjournalisten Dagmar Röhrlich ist bei mir im Studio. Was ist da eigentlich passiert?
    Dagmar Röhrlich: Die Hochdruckdampfturbine hatte zu diesem Zeitpunkt schon 65.000 von 90.000 Liter Schmieröl verloren, überhitzte deshalb. Die Betriebsmannschaft stoppte die Turbine und der Reaktor schaltete sich automatisch ab. Bei den Untersuchungen stellte sich heraus, dass ein nur per Hand zu bedienendes Ventil offen stand. Es ist unbeschädigt und dient eigentlich dazu, das Öl bei einem Brand in eine große, unterirdische Wanne auslaufen zu lassen. Zunächst gab es noch den Verdacht, dass es sich um ein Versehen handeln könnte, aber inzwischen gehen der Betreiber Electrabel und die Atomaufsichtsbehörde FANC von Sabotage aus. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.
    Fecke: Hat die automatische Abschaltung problemlos funktioniert?
    Röhrlich: Im Prinzip schon, allerdings fiel dabei auf, dass eine der drei Wasserpumpen im Notkühlsystem wegen eines technischen Problems nicht gearbeitet hat. Der Zwischenfall wurde inzwischen in die Kategorie 1 der siebenteiligen INES-Skala eingestuft. Die Ines-Skala bewertet nukleare Ereignisse - vom kleinen Zwischenfall bis zum großen Desaster.
    Fecke: Menschen betroffen?
    Röhrlich: Weder Menschen, noch die Natur sollen betroffen sein, denn der Unfall ereignete sich nicht im nuklearen Teil der Anlage.
    !!Fecke:! Falls es Sabotage war, wie ist das möglich?
    Röhrlich: Dass jemand von außen in die Anlage eingedrungen ist, soll ausgeschlossen worden sein. Also läuft die Suche unter den Mitarbeitern. Insgesamt 1500 haben Zutritt zu diesem nicht nuklearen Bereich des KKW. Das sind sowohl Mitarbeiter des KKW selbst, aber auch von Fremdfirmen, die dort tätig sind. Sie alle werden von der Polizei befragt. Als der Unfall passierte, sollen zwischen 60 und 65 Menschen in der Turbinenhalle gewesen sein.
    Fecke: Konsequenzen?
    Röhrlich: Electrabel hat inzwischen die Sicherheitsmaßnahmen an den beiden belgischen Kernkraftwerksstandorten Doel und Tihange erhöht: Jeder, der die Anlagen betritt, wird kontrolliert. Und außerdem gibt es in allen Bereichen, in denen Maschinen stehen, zusätzliche Wachen. Außerdem soll das bislang in den kritischen nuklearen Bereichen geltende Vier-Augen-Prinzip auf die nicht nuklearen ausgedehnt worden sein - das heißt, es geht niemand mehr alleine durch die Anlage.
    Fecke: Ausmaß?
    Röhrlich: Noch ist das Ausmaß des Turbinenschadens unklar. Nachdem zunächst der 15. September als möglicher Termin für das Wiederanfahren genannt wurde, sieht es nach einer ersten Analyse auch von unter Druck stehenden Teilen der Anlage so aus, als bliebe der 1985 in Betrieb gegangene Block 4 mindestens bis zum Jahresende abgeschaltet.
    Fecke: Zustand der KKW in Belgien?
    Röhrlich: Drei von insgesamt sieben Reaktoren sind vom Netz. In Doel ist neben Block 4 auch Block 3 abgeschaltet, auch Tihange 2 steht. Bei diesen beiden Anlagen sind im November 2012 bei einer Routineinspektion mit Ultraschall Risse in den Reaktordruckbehältern entdeckt worden: Tausende von Rissen, die manchmal bis dicht an die stark belastete Innenwand des Behälters reichen. Zunächst waren die Anlagen nach einer Prüfung im Juni 2013 wieder hochgefahren worden. Im März 2014 wurden sie wieder abgeschaltet, weil die belgische Behörde für Nuklearkontrolle nach Experimenten nicht sicher war, dass die RDB mechanisch wirklich noch belastbar sind.
    Fecke: Ursache der Risse?
    Röhrlich: Ursache sind gravierende Materialfehler, die anscheinend schon bei der Fertigung entstanden sind und unentdeckt blieben. Da der stählerne RDB hohe Temperaturen und Drücke aushalten muss und dazu auch noch die ständige Belastung durch den Beschuss mit energiereichen Neutronen, müssen betroffene Anlagen vom Netz. Derzeit sind viele Anlagen vom Netz: Gerade sind drei EdF-KKW in Großbritannien abgeschaltet worden, nachdem auch bei einem von ihnen durch Kontrollen Risse in den Dampferzeugern gefunden worden sind. Das Ganze zieht noch weitere Kreise: So sind mehr als ein Dutzend der knapp 30 französischen Druckwasserreaktoren nach diesem Design errichtet worden. Werden bei einem dieser Reaktoren Risse in den Dampferzeugern entdeckt, müssten auch die anderen vorsichtshalber abgeschaltet werden und das hätte weitreichende Folgen: Frankreichs Stromproduktion hängt zu Dreiviertel vom Nuklearsektor ab. Die französische Atomaufsichtsbehörde hat bereits gewarnt, dass man zusätzliche Versorgungskapazitäten zur Verfügung stellen solle. In Schweiz: Mühleburg (SWR) läuft noch mit Rissen im Kernmantel (im RDB) - Überwachungsprogramm.
    Fecke: Und welche Folgen hat die Entwicklung derzeit bereits ganz real für die belgische Stromversorgung?
    Röhrlich: Es werden bereits Stimmen laut, die Belgien für den kommenden Winter Stromknappheit und mögliche Black-Outs prophezeien. Insgesamt sind damit mehr als drei Gigawatt Kernkraftwerkskapazität vom Netz und damit 55 Prozent des gesamten in Belgien möglichen Atomstroms. Überhaupt plant Belgien, bis 2025 alle KKW abzuschalten: Doel 1 und 2, die noch aus den 1970er-Jahren stammen, sollten im kommenden Jahr vom Netz gehen, ebenso der gleich alte Tihange 1. Es könnte sein, dass nun die neueren Anlagen vom Netz bleiben und dafür die älteren länger laufen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.