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Realismus aus der Hühnerfabrik

Sie kommen im unerbittlichen Rhythmus des mechanischen Transportbands auf ihn zu, fallen ihm vor die Füße und drohen, ihn mit ihren Leibern zu begraben: Tote Hühner sind Seans Schicksal, jeden Tag acht Stunden lang in der Fabrik. Dabei hat Sean noch Glück, er schuftet nicht in "Teile" oder - schlimmer - in "Ausnehmen", dem tiefsten Orkus der industriellen Arbeitshölle.

Von Florian Felix Weyh | 02.07.2008
    "Vor 20 Jahren arbeitete ich in einer Geflügelfabrik. Dort gab es verschiedene Abteilungen: "Gefrier", eine wurde "Teile" genannt und eine "Frisch", wo die frischen Hähnchen verkauft wurden."
    Einen Job in "Frisch" zu erhalten, ist ein Privileg. Dort stinkt es nicht wie in "Ausnehmen", wo die Innereien der Vögel entfernt werden, und man bleibt von eitrigen Abszessen und Geschwulsten verschont, die einem in "Teile" begegnen, jenem Raum, in dem von kranken Tieren verwertbare Körperteile abgelöst und zum Verkauf präpariert werden. Die Erfindung praktisch portionierbarer Hühnerhäppchen à la Chicken Wings verdankt sich, glaubt man Mark McNay, keineswegs besonderer Freundlichkeit der Nahrungsmittelindustrie, sondern im Gegenteil deren Profitgier, auch noch aus eigentlich unverwertbaren Kadavern Gewinn zu schlagen. Deswegen findet McNay, sollte jedermann wenigstens für kurze Zeit in einer Geflügelfabrik jobben, so wie er das einige Monate lang getan hat:

    "Ich glaube, jeder bekäme einen besseren Eindruck davon, woher unser Essen kommt, wenn er einmal in eine Geflügelfabrik gearbeitet hätte. Vielleicht würde er sich dann auch für Nahrungsmittel entscheiden, die auf eine ethische Weise produziert werden. Das ist ein Grund. Der andere Grund ist: Viele Leute müssen ihr Leben lang an solchen Orten arbeiten. Das ist für sie sehr schwierig, während andere Leute privilegiert sind, so etwas nicht zu tun. Wären sie für einen Monat, sechs Monate oder für ein Jahr dazu gezwungen, würde dies sie über die Umstände aufklären, in denen unglücklichere Menschen als sie selbst leben müssen. Vielleicht."

    In Mark McNays ebenso ergreifender wie kämpferisch-komischer Fabel "Frisch" erlebt das engagierte sozialrealistische Erzählen eine neue Blüte. Zwei sehr unterschiedliche Brüder sind die Helden. Der aufrechte Proletarier Sean beugt sich dem Schicksal einer harten Arbeitsbiografie in der Geflügelfabrik, während sein älterer Bruder Archie schon als Jugendlicher die kriminelle Laufbahn einschlägt: Einbrüche stehen am Anfang, eine Karriere als Drogendealer am Schluss.

    Aktuell sitzt er im Gefängnis, und das ist auch gut so, denn Sean hat ein kleines Problem: Von den 1.000 Pfund, die Archie ihm vor Haftantritt zur Aufbewahrung anvertraute, sind nur noch 300 da. Sean lieh sich etwas für die Klassenfahrt seiner Tochter aus, und Weihnachten war er auch großzügiger, als ihm das sein Lohn eigentlich erlaubte. Mittels Überstunden will er die Schulden begleichen, doch dazu ist plötzlich keine Zeit mehr, denn Archie wird vorzeitig entlassen.

    Dieser eine Tag im Leben des Sean O'Grady, der sich mit Rückblenden in die Vergangenheit über 250 Buchseiten erstreckt, hat es also in sich. Getrieben von der Angst vor seinem Bruder auf der einen und dem festen Willen, das fehlende Geld legal aufzutreiben auf der anderen Seite, entwickelt sich Sean zum tragischen Helden, der am Schluss vor der entscheidenden Frage steht, ob Blutsverwandtschaft stärker bindet als der Anspruch auf ein bescheidenes eigenes Glück. Hier entwickelt dieses literarische Debüt fast attische Wucht, doch beeinflusst wurde Mark McNay nicht von antiken Stoffen, sondern - man höre und staune - von Alexander Solschenizyn. Seinem berühmten Roman "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" liegt ebenfalls eine strenge 24-Stunden-Gliederung zugrunde, doch das ist nur eine formale Ähnlichkeit. McNay sieht inhaltliche Parallelen:

    ""Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" inspirierte mich. Denn als es in den 60ern übersetzt und in England veröffentlich wurde, setzte man es gegen die britischen Kommunisten ein, indem man sagte: "Das wird passieren, wenn wir uns auf den Sozialismus zubewegen!" Es wird Gulags geben et cetera. Ich hingegen denke, in der modernen kapitalistischen Gesellschaft gibt es ein riesiges System aus Fabriken für all die Leute ohne ausreichende Bildung. Und das liegt nicht daran, dass sie weniger intelligent wären. Es ist nur so, dass sie aufgrund ihrer Herkunft ungebildet bleiben. Das erschien mir wie ein Gulag, wie ein metaphorischer Gulag. So bildete das tatsächlich eine Art Inspiration."
    Der leicht klassenkämpferische Ton im Interview trügt - im Buch ist davon nichts zu spüren. Dort dominiert die sorgfältige Milieubeschreibung, die genaue Überlieferung von Soziolekten aus dem Glasgower Industrierevier und der phantasievoller Umgang damit:

    "Yeah, there was some words I invented. Not many. Not as many as James Joyce, "

    räumt Mark McNay ein: Er habe schon ein paar Worte neu erfunden, aber nicht so viele wie James Joyce. Solche Kreativität verlangt nach einem kongenialen Übersetzer, den McNay mit Eike Schönfeld fand. Die langen Dialogpassagen in einem eher maulfaulen, umgangssprachlichen Kurzidiom lesen sich in der Schönfeldschen Übertragung weder primitiv noch unangenehm, sondern lassen ein Atmosphäre unmittelbarer sozialer Enge entstehen, die manchmal tröstlich, manchmal bedrohlich wirkt. Auch Schönfeld erfindet analog zur Vorlage lautmalerische Verben. Nicht jeder Witz lässt sich freilich ohne weiteres übertragen. Der Fabrikvorarbeiter George verkörpert etwa ein Wortspiel:

    "His name is not actually George. His name is actually Malcolm. But because he is the foreman, everyone calls him George. Because of the boxer."

    Er heiße nicht George, sagt McNay, tatsächlich sei sein Name Malcolm. Aber da er der Vorarbeiter ist (englisch: foreman), nennen ihn die Arbeiter nach dem Boxer George Foreman. Solche feinen Kapriolen sind bezeichnend für ein Buch, in dem es dem Autor gelingt, jenseits der Spannungskonstruktion Figuren zu schaffen, die trotz ihrer vielen Charakterschwächen rundum sympathisch wirken - nicht zuletzt die starke, junge Ehefrau des Helden, Maggie. Sie behauptet sich in der Männerwelt mit robustem Selbstbewusstsein. Inwieweit McNays fiktionale Welt, die sich aus der eigenen Biografie in einem schottischen Bergarbeiterdorf speist, stellvertretend für englische Arbeiterklasse steht, weiß der Autor selbst nicht so recht und gerät darüber ins Sinnieren:

    "Ist Sean typisch? Sein Verhalten ist vielleicht repräsentativ für einige Leute, die körperlich arbeiten und wenig Geld damit verdienen. Ich denke, er ist ein gutes Beispiel für jemanden, der in Umständen außerhalb eigener Einflussmöglichkeiten gefangen ist. Deswegen kann sich jeder mit ihm identifizieren, ungeachtet seines Alters, seiner Rasse und seines Geschlechts."
    Und das sogar in Deutschland.

    Mark McNay: "Frisch"
    Deutsch von Eike Schönfeld
    DTV, 258 Seiten, 14,- Euro