Dienstag, 23. April 2024

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Realität zwischen Wahn und Utopie

Der letzte Film in der Camera obscura

Von Steffen Graefe | 24.01.2005
    Des Totenkopfs von Andy Warhol
    Im Jenseits dreht Orpheus
    Auf dem Negativ stirbt durch das Gift
    Der Schlange die Zunge Jims
    Der eine Welt bewegte in Nico
    Eurydike stumm am Ufer des Styx
    Schwarze Milch meine Muttersprache
    In der Mundhöhle Rauchpilze
    Aus Ruinen Apfelschimmel im Rauhreif.

    1995 hatte Werner Frisch über Gustav Gründgens ein Libretto geschrieben. Die ambivalente Erscheinung dieses Schauspielers mit dämonischen Zügen - zwischen Goethe-Faust und Nazi-Mephisto, inspirierte den Autor auf die Suche zu gehen nach einem weiblichen Pendant. Da stieß er auf Nico. Wer ist Nico? Nico wurde im Krieg geboren. Sie hat die Nazis noch erlebt und später das zerstörte Berlin. Dann wurde sie von Coco Channel und von Frederico Fellini entdeckt, spielte eine Rolle in "Dolce vita", produzierte ein Kind mit Alain Delon, turtelte mit Bob Dylan und ließ sich von Andy Warhol in die psychedelischen Geheimnisse des "Velvet Undergrounds" entführen. Ihre große Liebe aber hieß Jim Morrison. Doch war sie nicht nur die Geliebte berühmter Männer, sondern machte sich auch einen Namen als Sängerin und Komponistin. Eine beeindruckende Biographie. Sie gab die Inspirationen zu einem Monolog mit dem Titel: Nico - Sphinx aus Eis.
    Nico verkörpert für mich die Trauer, dass die ganzen positiven Ansätze, die 1968 im Raum waren, implodiert sind im Heroin, in der Phraseologie eines gewissen Studentenkreises. Auf jeden Fall ist diese ganze befreiende Kraft der Rockmusik irgendwann implodiert und ist jetzt ein Systemstabilisator. Irgendwann ist das nur noch eine Zerstreungsmaschine geworden. Die Musik. In meiner Jugend war es eigentlich eine Befreiungsfanfare, und die Trauer darüber kann man an Nicos Biographie festmachen.

    Meine Haut riecht wahnsinnig nach Weihrauch
    Regen in allen Farben Andy hat geschlossene
    Und doch durchsichtige Lider
    Wie eine Eidechse im Kopf die Toten verwesen nicht
    Der Wind kommt
    Das Licht herab durch Dunkel bin ich gestürzt.

    Die Realität sei das Absurdeste überhaupt, sagte Werner Fritsch einmal. So suchte er sich immer wieder Figuren, die Realität zwischen Wahn und Utopie spiegelten, um sie wie ein Steinmetz lyrisch zu behauen. Werner Fritsch ist ein Sprachforscher, der die Abgründe verbal seziert. Was uns normal erscheint, wird hier gnadenlos als kolonialisiertes Zerrbild vorgeführt.

    In gewisser Weise verstehe ich meine Arbeit als Entkolonialisierung meines Bewusstseins. Und die bestimmenden und prägendsten Erlebnisse waren die der Region und der Religion. Das bestimmt den Hauptteil meines Werks. Und die zweite Stufe wäre die Rockmusik und der Film. An dieser beginne ich jetzt zu arbeiten.
    In der Kindheit der Rocksängerin Nico flogen Totenknochen in die Luft: In Lübbenau auf dem Friedhof sah sie die Feuerglocke des ausbrennenden Berlins. Dieser schon früh erfahrene "Meißel der Apokalypse" entfachte in ihr die Funken einer Fantasmagorie, die sie bis an die Grenzen des Wahns trieben. Jenseits aller folkloristischen Lyrik braut Werner Fritsch aus den Widerhaken dieses Lebens einen Cocktail zerfetzter Zitate. Huxleys "Pforten der Wahrnehmung" öffnen sich zu einem "Mosaik aus gefrorenem Glück". "Deutschland Deutschland über alles" verschwimmt in den "Sekreten des Sex". Das "Über alles in der Welt" verweht in einem "Heim für Geisteskranke". Aufgesogen vom Stoßgebet eines Vater Unsers, findet die vom Dichter imaginierte "Sphinx aus Eis" "vor den Toren des Jenseits" ihr "tägliches Brot" und erlebt dann - fern von "Papa in Pommerland" - ein Echo dieser Erlebnisse in der Musik von Jim Morrison: "This is the end - in a desperate land."

    Man kennt ja von Jimi Hendrix die Interpretation der amerikanischen Nationalhymne, und man muss sagen, dass das das einzige politische Lied der Rockgeschichte ist, das ungebrochene Gültigkeit hat, weil es durch die Form, die Hendrix in seiner Interpretation anschlägt, die Napalmopfer, die Bombenwürfe, die Tornados, die ganzen Kriege, die auch Amerika angestiftet hat, ausdrückt. Und ähnlich hat, aber auf ganz andere Weise, Nico die deutsche Nationalhymne gespielt. Sie hat alle drei Strophen bei jedem Konzert gespielt und hat diese Interpretation des Deutschlandliedes Ulrike Meinhof geopfert.

    Im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg hat Werner Fritsch eine Arbeitswohnung bezogen, eben dort, wo 1989 vor den Toren der Gethsemanekirche die Kerzen der Hoffnung brannten. Das irrlichternde Ambiente dieses Stadtteils zwischen Alternative, Punk und Hausbesetzern, aber auch ALDI, Kulturbrauerei und Kolonialwarenladen ist die Kulisse, die der Dichter tagsüber erlebt. Für sein kreatives Schaffen zieht er sich dann aber in sein inneres Nirwana zurück.

    Ich schreibe in der Hauptsache nachts und versuche durch Konzentration und absolute Stille in Bereiche vorzudringen, die quasi erstmal jenseits dessen liegen, was einem gemeinhin so zu Nico einfällt. Ich versuche in diese Trance, in diese Stille, in diesen Taumel zu kommen, um mir vorzustellen, um innerhalb der Sprache diese Elemente wiederum freizusetzen, die diese Musik in mir freigesetzt hat. Ich hab es immer wieder gelesen, morgens, abends, in den verschiedensten Zuständen, mit einem bösen Blick, mit einem euphorischen Blick und einfach immer wieder durchgekämmt, durchgefiltert und immer weiter geschrieben.

    Dieser Traum hört nie auf mein Tod
    Die Endlosschleife Blut im Plastikzylinder
    Ab fünf Uhr soundso zurück geschossen
    In den Kreislauf Himmel und Hölle
    In Schwarzweiß verewigt Warhol den Traum
    Von Jim und mir
    Blue Cleopatra Totenschädel auf Kadmiumgelb.


    Den vollen Genuss dieser einzigartigen Hommage an Nico, an die Sängerin, Komponistin und irritierende femme fatale, hat allerdings nur derjenige, der die Lebensgeschichte der Künstlerin kennt. Dabei gibt es nach meiner Recherche auf dem deutschen Markt nicht einmal eine Biographie über diese schillernde Figur zu erwerben. Das ist schade.