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Recht auf Vergessenwerden
BGH-Urteil: Nicht alles muss verschwinden

Der Bundesgerichtshof konkretisiert das "Recht auf Vergessenwerden": Nur weil negativ über Personen berichtet wird, müssen alte Artikel nicht aus den Suchergebnissen von Google verschwinden. Es bleiben aber nach wie vor Unklarheiten, sagte Medienrechtler Tobias Gostomzyk im Dlf.

Tobias Gostomzyk im Gespräch mit Brigitte Baetz | 27.07.2020
Der Bundesgerichtshof BGH in Karlsruhe.
Der Bundesgerichtshof BGH in Karlsruhe. (dpa / picture alliance / Uli Deck)
Welche Inhalte dürfen dauerhaft im Netz über Suchmaschinen zu finden sein, bei welchen besteht das "Recht auf Vergessenwerden"? Bei dieser Frage konkurrieren zwei Interessen: Einerseits geht es darum, dass nicht alle Lebensinhalte einer Person für immer im internet zu finden sein sollen, weil sie sonst Nachteile zu befürchten hat; andererseits könnte genau ein großes Interesse für die Allgemeinheit an diesen informationen bestehen, zum Beispiel wenn es sich um Aussagen von Politikern handelt.
In zwei aktuellen Entscheidungen hat der Bundesgerichtshof klargemacht, dass die Hürden für eine Löschung aus den Suchmaschinen relativ hoch sind. Es bleiben aber nach wie vor einige Unklarheiten, erklärt Tobias, Gostomzyk Professor für Medienrecht an der TU Dortmund, im Dlf.
Das komplette Interview im Wortlaut
Brigitte Baetz: Wo ist das Recht auf Vergessenwerden festgelegt?
Tobias Gostomzyk: Dieses Recht ist erstmals entwickelt worden in einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der sogenannten "Google Spain"-Entscheidung im Jahr 2014 und ist dann festgelegt worden in der Datenschutzgrundverordnung, dort ist es Artikel 17.
Brigitte Baetz: Nun hat der Bundesgerichtshof heute zwei Entscheidungen getroffen für zwei Einzelfälle. Können Sie uns erläutern, was dabei herausgekommen ist.
Tobias Gostomzyk: Ja, der Bundesgerichtshof entscheidet natürlich immer in Einzelfällen, aber hat auch immer Aspekte, die eine grundsätzliche Bedeutung haben. Und so ist es auch hier: Es gibt zwei Fälle, die sind auf den ersten Blick relativ ähnlich, unterscheiden sich dann aber in einem springenden Punkt. Im ersten Fall ging es darum, dass ein ein ehemaliger Geschäftsführer eines Wohlfahrtsverbands einen Artikel, der in einer Regionalzeitung erschienen ist und der zum Gegenstand hatte, dass er sich krankgemeldet hat und man einen Zusammenhang dazu darstellen konnte, dass dort das Unternehmen - oder der Wohlfahrtsverband - ein großes Defizit aufgelaufen ist - und er da für verantwortlich ist.
Und dort war, aber unstrittig, dass die Informationen, die veröffentlicht worden ist, dass die wahr gewesen ist, und es stellte sich die Frage, ob allein ein Zeitablauf, hier in dem Fall waren es sieben Jahre, dazu ausreichend ist und mit Besonderheiten des Einzelfalls, dass dann eine solche Information nicht mehr bei Google auffindbar ist. Zu unterscheiden davon ist immer, ob man es auf der Webseite oder in einem Medienarchiv veröffentlicht werden darf, da sind die Rechte der sehr viel weitgehender. Hier geht es um die Suchmaschine. So das ist der erste Fall.
Im zweiten Fall ging es darum, dass ein Ehepaar die Finanz-Dienstleistungen anbieten, über die kritisch berichtet worden ist auf einer Webseite, von der es heißt, aus Sicht dort der der Kläger, dass die dubios sei und dass diese Informationen dort gar nicht stimmten. Also da steht: Es ist strittig, ob die Informationen, die veröffentlicht worden sind, ob die zutreffend sind oder nicht. Und hier hat eben der Bundesgerichtshof unterschiedlich entschieden. Im ersten Fall hat der Bundesgerichtshof gesagt. Wenn die Information wahr ist, dann muss man sehr weitgehend dulden, dass eben solche Informationen noch weiter dort auffindbar sind. Also da ist es nicht mehr so, wie man auch hätte meinen können, dass man nach einem bestimmten Zeitablauf und auch bei relativ geringer Persönlichkeitsrechtsverletzung dann einfach Informationen wieder rauslöschen kann oder es ist eine Verlinkung, die dann gelöscht wird, das ja fordern kann.
Und hier hat der Bundesgerichtshof jetzt relativ weitgehend gesagt: Es gibt keine Vermutung zugunsten der Rechtsverletzung des Betroffenen, sondern es ist im Einzelfall abzuwägen zwischen den verschiedenen Interessen, und dann ist auf der einen Seite die Schwere der Persönlichkeitsrechtsverletzung und auf der anderen Seite werden gleich drei Rechtspositionen genannt, die da anzuführen sind, nämlich die der Suchmaschine, die des öffentlichen Interesses und die desjenigen, der die Informationen veröffentlicht hat, in diesem Fall die Regionalzeitung.
Brigitte Baetz: Kann man dann schon sagen, dass Google "gewonnen" hat in Anführungsstrichen.
Tobias Gostomzyk: Ja, in dem Fall kann man schon sagen, dass Google gewonnen hat, weil die Voraussetzung, unter der gelöscht werden muss, möglicherweise in Zukunft weniger restriktiv gehandhabt wird, weil man sich mehr Spielraum erworben hat, Verlinkungen einfach bestehen zu lassen.
"Für die Freiheit des Internets relevante Entscheidungen"
Brigitte Baetz: Im zweiten Verfahren hat das Gericht ja die Entscheidung weitergegeben an den Europäischen Gerichtshof. Warum eigentlich?
Tobias Gostomzyk: Hier stellte sich die Frage, dass die Information ihr strittig war, ob sie jetzt zutreffend ist oder nicht. Also ob es tatsächlich hier um dubiose Finanzdienstleistungen gegangen ist des Ehepaars oder ob das alles erfunden war, wie behauptet worden ist. So hat sich dort das Ehepaar verteidigt, hat gesagt: Diese Webseite veröffentlicht etwas, was nicht stimmt, um dann anschließend Gelder zu erhalten, damit das wiederum gelöscht wird, also fast wie eine Art Schutzgelderpressung. Und hier stellt sich die Frage, was passiert, wenn die Suchmaschine nicht feststellen kann, ob die Information, auf die jetzt verlinkt wird, ob die wahr ist oder ob die unwahr ist. Das ist ja im Einzelfall möglicherweise gar nicht festzustellen oder nur mit sehr hohem Aufwand festzustellen.
Und hier stellt sich die grundlegende Frage, wer eigentlich welche Beweispflicht hat. Also muss jetzt zum Beispiel Google nachforschen, wenn Google angeschrieben wird, ob die Informationen zutreffend ist oder nicht. Oder muss derjenige angeschrieben werden, der die Information ursprünglich veröffentlicht hatte und jetzt gefragt werden. Also wie ist das eigentlich im Einzelnen festzustellen, gewissermaßen ein Fact-Checking, das hier zu betreiben ist? Und das kann natürlich sehr aufwendig sein, und ist für Google, nehmen wir einmal an es geht ja um zigtausende von Fällen, natürlich nur schwer leistbar.
Und die Entwicklung, die man in anderen Bereichen feststellen kann, wenn es um solche strittigen Fragen geht - das kennt man auch zum Beispiel aus dem Bereich des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes: Dort werden dann immer Verfahren getroffen, die bestimmte Anforderungen haben, und beweist erstmal die Informationspflichten der einzelnen Beteiligten. So etwas wäre ja auch zum Beispiel denkbar. Aber weil die Frage eben nicht entschieden ist, wer hier überhaupt die Beweislast tragen muss, ist diese Frage dem europäischen Gerichtshof vorgelegt worden.
Brigitte Baetz: Was bedeutenden solche Entscheidungen für die Freiheit des Internets?
Tobias Gostomzyk: Für die Freiheit des Internets sind die schon relevant, weil Google auf der einen Seite natürlich ein privates Unternehmen ist, mit Gewinninteressen, gleichzeitig aber auch eine Art digitale Infrastruktur. Also weit über 90 Prozent der Internetnutzer nutzen Google als Suchmaschine und deswegen ist es natürlich relevant, was dort angezeigt wird oder nicht angezeigt wird.
Und wenn man das jetzt münzt auf das Recht auf Vergessen, ist es so, dass die Datenschutzgrundverordnung nur sehr ausschnittsweise überhaupt Kriterien vorgibt, die zugrunde zu legen sind für solche Löschentscheidungen, also im Einzelfall: Welche Rechte sind einzustellen, wie sind die zu gewichten et cetera?
Das ergibt sich nur sehr kryptisch bislang aus der Datenschutz Grundverordnung, und da trifft Google natürlich selbst auch Entscheidungen, also stellt Kriterien auf, entwickelt ein Verfahren. Und diese Entscheidungen, die dort getroffen werden, die haben nicht nur eine unternehmerische Seite, sondern natürlich auch eine individuelle, relevante Seite, aber auch eine gesellschaftlich relevante Seite. Und deswegen sind diese Entscheidungen, wo es um die Grundausgestaltung geht, so wichtig.
Studie zeigt: "Relativ wenige Beschwerden"
Brigitte Baetz: Haben Sie den Eindruck, dass Google eher zu wenig oder zu viel sogar jetzt schon blockiert?
Tobias Gostomzyk: Also es gibt eine Studie bei mir am Lehrstuhl von einem Mitarbeiter, Jan Rensinghoff, und der hat sich die Entscheidung angeguckt aus den Jahren 2015 bis 2019, wo es um Löschentscheidungen geht, auf Grundlage des Rechts auf Vergessen in Deutschland gegenüber von Google. Und dort ist erstmal auffällig, dass es relativ wenige gerichtliche Auseinandersetzungen gibt zu dieser Fragestellung.
Also Löschanfragen in diesem Zeitraum gab es über hunderttausend. Erfolgreich davon sind ungefähr die Hälfte. Und dass Gerichtsverfahren geführt worden sind, da liegt man ungefähr bei 40 Gerichtsverfahren. Und dort war es so, dass Google in 80 Prozent dieser Verfahren erfolgreich war, was wiederum bedeutet, dass vorher schon so gelöscht worden ist, dass die Entscheidung, die vor Gericht gekommen sind, eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, dass die zugunsten von Google ausgegangen sind.
Und das spricht widerum dafür, dass, wenn es wenige oder relativ weniger gesehen Beschwerden gibt, die dort geltend gemacht werden, dass eher relativ großzügig dort gelöscht oder die Verlinkung gelöscht worden ist.
Brigitte Baetz: Das heißt für mich als Privatperson würde das bedeuten, dass ich mir nicht so viele Gedanken machen müsste.
Tobias Gostomzyk: Also erstmal ist es natürlich als Privatperson die Frage. Welche Treffer sind dort zu sehen? Sind die ganz vorne zu sehen, sind die Google-Treffer Rang 100 et cetera? Also das ist natürlich eine relevante Frage. Und es ist so, dass über die Entscheidung jetzt des BGH jedenfalls dann, wenn es sich um einen Medienberichterstattung vorab gehandelt hat, es deutlich erschwert worden ist, sich darauf stützen zu können, dass man, was weiß ich, nach Ablauf von sieben Jahren einen Neustart hingelegt und sagt, das muss jetzt mal dort weg sein. Man muss auch mal mit jemandem anderen ein Bewerbungsgespräch zum Beispiel vorstellen können, ohne dass der Geschäftsführer vorher gegoogelt hat und dort sagt, auf Treffer Nummer zwei sehe ich aber folgende Informationen, was ist denn eigentlich vor sieben Jahren gewesen?
Und es ist natürlich auch so, dass man nicht sehr viel Transparenz hat über die Kriterien, die dort zugrunde gelegt werden. Auch dort ist es nicht ohne weiteres kalkulierbar für Betroffene. In der Vergangenheit war es jedenfalls so, dass eher großzügig gelöscht worden ist, Links, Verknüpfungen gelöscht worden sind. Ob das in Zukunft so aufrechterhalten wird, bleibt jetzt die spannende Frage.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.