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Rechtextremismus: Bundesjustizministerin fordert "brutalst mögliche Aufklärung"

Angesichts der Serie von Morden an Ausländern hat Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger eine lückenlose Aufklärung der Taten gefordert. Danach könne man auch darüber reden, ob der Verfassungsschutz vielleicht besser organisiert werden müsse.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Gespräch mit Dirk Müller | 14.11.2011
    Dirk Müller: Warum konnte das Zwickauer Terrortrio ein Jahrzehnt lang morden und rauben? Warum haben die deutschen Sicherheitsbehörden versagt, obwohl die drei namentlich seit den 90er-Jahren bekannt waren? Der folgenreichste Kriminalfall in der Geschichte der Republik, eine Terrorzelle aus dem rechtsextremen Milieu. Neben dem Zwickauer Trio gibt es nun mindestens einen weiteren Verdächtigen. – Am Telefon ist nun Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Guten Morgen!

    Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Guten Morgen!

    Müller: Alle haben von all dem nichts gewusst. Haben Sie eine Erklärung dafür?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Genau das muss ja umfassend lückenlos aufgeklärt werden, denn Sie haben in Ihrer Anmoderation ja schon einige ganz wichtige Fragen, die uns seit dem Wochenende erschüttern und intensiv beschäftigen, aufgeworfen: Wie können namentlich bekannte Rechtsextreme untertauchen, sich möglicherweise die ganze Zeit in Deutschland in ihrer alten Umgebung aufhalten und vollkommen aus dem Fokus der Sicherheitsbehörden verschwinden. Das, glaube ich, können viele im Moment sich nicht erklären.

    Müller: Vielleicht, weil die Sicherheitsbehörden das alles unterschätzt haben?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Vielleicht haben sie es unterschätzt, falsch eingeschätzt, aber all das muss jetzt in Thüringen, an anderen Orten intensiv aufgeklärt werden. Allem muss nachgegangen werden. In Thüringen wird ja wohl eine Kommission, Sonderkommission allein auch im Hinblick auf das, was der Verfassungsschutz wusste oder nicht wusste, was es mit den V-Leuten auf sich hat, eingerichtet. Und ich glaube, wir müssen alles tun, durch energisches Vorgehen, dass kein Eindruck entstehen kann, hier sei irgendjemand auf dem rechten Auge blind.

    Müller: Das ist ja genau das, was die Opposition nun in die Debatte wirft, auf dem rechten Auge blind. Kann das sein?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Ich hoffe nicht, dass das so ist, denn wir haben den Rechtsextremismus in den 90er-Jahren in schlimmster Form erlebt. Ich erinnere an Mölln, Solingen, Hoyerswerda, Tote, Übergriffe, Strafverfolgungen und dann auch der Blick darauf, dass es hier sehr wohl Vernetzungen gibt, nicht eine Organisation, sondern kleinere Kameradschaften, die sich zu Neonazi-, ja auch gewaltbereiten Truppen zusammengetan haben. Aber es muss wirklich ohne Rücksicht auf irgendetwas all dem nachgegangen werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in Deutschland, im Deutschland nach 1949, der Rechtsextremismus als geringere Gefahr angesehen wird als Links- und islamistischer oder sonstiger Terrorismus.

    Müller: Aber können Sie sich das vorstellen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, dass zu sehr auf den linken Terror, auf den islamistischen Terror geblickt wurde?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Ich glaube, wir sollten nicht eines gegen das andere ausspielen, sondern es hilft jetzt nur zügige, aber auch – wie heißt das so schön? – brutalst mögliche Aufklärung, also mit allen zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln Aufklärung, auch aller der Taten, die bisher in der Vergangenheit vielleicht nicht aufgeklärt werden konnten, wo man noch mal sehen muss, ob es rechtsextremen Hintergrund gibt zu diesem jetzt festgenommenen oder auch eben getöteten Trio, vielleicht vier, vielleicht fünf, vielleicht sechs, aber auch darüber hinausgehend. Was mich wirklich umtreibt, ist: Gibt es ein fester gefügtes rechtsextremistisches Netzwerk in Deutschland, als bisher angenommen wurde und auch festgestellt wurde? Und ich glaube, das muss, auch damit Vertrauen in die Behörden der Sicherheit entsteht und auch bleibt, unverzüglich jetzt vom Sachverhalt klar werden.

    Müller: Das Vertrauen ist ja jetzt erheblich erschüttert, vor allem in den Verfassungsschutz. Jetzt fragen sich viele, brauchen wir den noch?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Der Verfassungsschutz hat ja gerade eine sehr, sehr wichtige Aufgabe im Hinblick auf Gefährdungen für unsere Demokratie und unsere Grundordnung in Deutschland, eben anders als der Bundesnachrichtendienst für das Ausland. Wir haben 16 Landesverfassungsschutzämter, ein Bundesamt für Verfassungsschutz. Wir werden, wenn der Sachverhalt wirklich klar ist, wenn man dann auch über Konsequenzen redet, ja auch darüber reden müssen, ist so der Verfassungsschutz auch optimal organisiert, ist die Sicherheitsarchitektur des Verfassungsschutzes in Deutschland so auch wirklich optimal effizient, aber doch nicht am Anfang einer Aufklärung, an der wir jetzt stehen. Aber das, denke ich, muss man mit im Blick haben. Vielleicht muss man auf Länderebene mehrere zusammenschließen mit einer dann auch noch klareren Schlagkraft.

    Müller: Wir haben um kurz vor sieben, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, auch mit Bayerns Innenminister Joachim Herrmann darüber gesprochen. Er hat geantwortet auf die Frage, ob die Zusammenarbeit zwischen den 16 Landesverfassungsschutzämtern gut funktioniert, auch gerade in Kooperation mit dem Bund, ja, das funktioniert gut. Glauben Sie das immer noch?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Auch das wird sich ja jetzt zeigen, wenn wir aufklären, wie hat der thüringische Landesverfassungsschutz mit dem Bundesverfassungsschutz zusammengearbeitet, oder auch mit anderen Verfassungsschutzämtern der Länder. Natürlich ist auch gerade hier Bayern wichtig, denn hier haben ja mehrere Morde, sogenannte Döner-Morde, stattgefunden, und es wird sich ja herausstellen, ob die Zusammenarbeit – und zwar zügig, umfassend, frühzeitig, auch im Hinblick auf V-Leute – gut funktioniert. Es wäre gut, wenn sich es herausstellt, aber im Moment haben wir mehr Fragen.

    Müller: Wie kann man jetzt davon ausgehen, dass es gut funktioniert hat? Es hat doch nicht funktioniert.

    Leutheusser-Schnarrenberger: Im Moment hat eben die Aufklärung überhaupt nicht funktioniert und hier haben Neonazis, Rechtsextreme wirklich agieren können in Deutschland mit fürchterlichsten Auswirkungen. Also von daher ist es ja auch so eine erschütternde Situation, und deshalb mehr Fragen bisher als Antworten.

    Müller: Haben Sie auch – ich möchte das noch fragen – Zweifel an der Kompetenz der Kriminalpolizei?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Ich habe überhaupt keine Zweifel an der Kompetenz unserer Beamten, aber wir müssen in diesem Fall jetzt wirklich sehen, aber insgesamt, was Rechtsextremismus in Deutschland angeht, sehen, und das sind wir allen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland schuldig, egal welcher Herkunft sie sind, dass wir alles tun, um mögliche Defizite, wenn sie sich ergeben sollten, auch zu beseitigen.

    Müller: Es waren ja fast 100 Beamte beteiligt an dieser Fahndung, also von polizeilicher Sicht aus. Wie kann das sein, dass das zu keinerlei Erfolg führt?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Man hat ja Anhaltspunkte gehabt, aber man hat viele Dinge ja wohl anscheinend nicht wissen können, oder Beweismittel nicht haben können, oder auch Hinweise möglicherweise nicht haben können, die zu weiteren Ermittlungen Anlass damals Ende der 90er und dann in den 2000ern gegeben haben. Aber noch einmal: Deshalb muss jetzt in den Ländern, da wo eben gerade auch die Taten begangen worden sind, alles passieren in geeigneter Form von den Verantwortlichen, damit wir möglichst zügig dann Antworten geben können.

    Müller: Jetzt fordern viele ja vor dem Hintergrund dieses Falles ein nochmaliges Verbot der NPD. Sie auch?

    Leutheusser-Schnarrenberger: Das NPD-Verbot ist vor mehreren Jahren gescheitert wegen V-Leuten, weil man nicht mehr zurechnen konnte, was kommt wirklich von Angehörigen der NPD und was von V-Leuten oder von anderen an diesen Aussagen und Positionierungen, die gegen unsere Verfassung verstoßen. Und das muss beseitigt werden! Vorher brauchen wir überhaupt nicht über ein NPD-Verfahren neu nachzudenken. Ich bin nicht für ein NPD-Verfahren, das zum Scheitern verurteilt ist, sondern zunächst muss die Situation geklärt werden, was ist mit den V-Leuten und kann man wirklich Aussagen dann auch NPD-Verantwortlichen zurechnen. Nur wenn wir eine neue Sachlage haben, kann man darüber nachdenken.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Leutheusser-Schnarrenberger: Bitte! Auf Wiederhören!

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