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Rechtfertigungen und Verdrehungen

Tina Uebel, geboren 1969 in Hamburg, wurde in der der Poetryslam-Bewegung als Veranstalterin und Herausgeberin bekannt. "Die Wahrheit über Frankie" heißt ihr mittlerweile dritter Roman. Ganz alltägliche Figuren werden zu Opfern eines Verführers, der ihr Leben zerstört - doch nichts wollen sie anscheinend lieber als das.

Von Detlef Grumbach | 30.11.2009
    "Ich kann nicht wirklich sagen, was Frankie ist. Aber am ehesten ist er für die drei Protagonisten einfach eine Projektionsfläche, in die sie ihre Vorstellungen von einem Sinn, von einem höheren Sinn, den sie ihrem Leben geben könne, wollen, hinein projizieren. Deswegen ist er auch für jeden etwas anderes."

    Frankie ist Bar-Keeper in einer Hamburger Kneipe und tischt seinen Gästen, Christoph und Judith, einem jungen Hamburger Pärchen sowie ihrer Freundin Emma, eine abstruse Geschichte auf: Er sei Agent, müsse das Land vor Terroranschlägen bewahren und sie müssten ihm helfen. Er selbst bleibt unfassbar in dieser abenteuerlichen und gruseligen Geschichte, um ihn geht es auch gar nicht. Auf unterschiedliche Weise trifft er einen Nerv bei den Dreien. Sie wollen seine Geschichte glauben, weil ihnen in ihrem bisherigen Leben etwas fehlt, weil sie anders leben möchten und plötzlich eine Möglichkeit dazu sehen. Deshalb folgen diese absolut durchschnittlichen und unauffälligen Figuren ihm wie einer Sekte, einem politischen oder religiösem Eiferer, weigern sie sich auch, nur den geringsten Zweifel zuzulassen,und verschwinden für zehn Jahre von der Bildfläche eines bürgerlichen Lebens in die vermeintliche Parallelwelt des angeblichen Agenten.

    "Es gibt natürlich Themen, die mich beschäftigen, die mich nicht loslassen, die in verschiedenen Konstellationen wieder auftauchen. Eines ist ganz deutlich die Form oder die Formen von Wirklichkeitsverzerrung, von subjektiver Wirklichkeit. Das taucht einfach automatisch auf, weil wenn man schreibt, erfindet man ja eine Wirklichkeit, also die Frage nach der Wirklichkeit ist schon mal systemimmanent: Wie konstituiert sich Wirklichkeit zwischen Leuten?"

    Inspiriert wurde die Geschichte durch eine wahre Begebenheit. Der englische Bar-Keeper Robert Hendy-Freegard hatte Anfang der 90er-Jahre einzelnen Kunden oder auch völlig fremden Menschen erzählt, er sei Agent des MI5, beschäftigt mit der Überwachung der IRA und dabei in größten Schwierigkeiten. Sie haben ihm geglaubt und sind seinen Anweisungen gefolgt, haben den Kontakt zu ihren Familien abgebrochen, ihm Geld gegeben, Aufenthaltsorte und Identitäten gewechselt. Und das nicht über vier oder sechs Wochen. Erst nach zehn Jahren flog der Schwindel damals auf, wurde Freegard verhaftet. Die ganze Zeit hatte er das entbehrungsreiche Leben im Untergrund nur sporadisch geteilt, gut vom Geld seine Opfer gelebt und mit einer Frau sogar zwei Kinder. Den Parametern dieses ungewöhnlichen Kriminalfalls folgend erzählt Tina Uebel jetzt eine Geschichte, die ihren Ausgang in Hamburg nimmt und die sie "Die Wahrheit über Frankie" nennt. Bereitwillig geben sich die Figuren der Gehirnwäsche Frankies hin, mit Eifer tun sie alles, was er verlangt, und wenn sie im Winter über Wochen auf einem ungeheizten Dachboden ausharren, weil der Feind ihnen angeblich schon auf den Fersen ist.

    "Ich glaube, das ist etwas, was vielen Phänomenen, psychologischen und damit auch gesellschaftlichen Phänomenen zugrunde liegt, eine Leere in vieler Leute Leben, die dann etwas suchen, diese heroische Tat, diese Selbstaufgabe, diese Bereitschaft zum Märtyrertum auch, die da stattfindet bei diesen Protagonisten, dieses Bedürfnis nach Sinn, danach, Teil zu sein von etwas Höherem, Größeren, Wichtigem, Bewegendem, und das vor einer Kulisse, die im Grunde gar nicht existent ist weil es sich ja um nichts drehte als um diese hanebüchene Geschichte von diesem Bar-Keeper. Die haben ja nichts Aufregendes gemacht, die haben keine Banken überfallen oder sind um die Welt geflogen als Spione."

    Der Roman setzt ein, wenn der Spuk nach zehn Jahren vorbei ist. In einer Art Rollenprosa, dem Duktus mündlichen Erzählens mit seinen spontanen Wendungen folgend, erzählen Christoph, Judith und Emma unabhängig voneinander vor der Fernsehkamera jeweils ihre "Wahrheit über Frankie". Sie berichten, wie sie als seine Sklaven gelebt haben, teilweise unter Bedingungen, die man auch als Isolationshaft bezeichnen könnte, wie sie körperliche und seelische Gewalt erlitten haben, wie Judith zwei Kinder bekam – und wie sie dennoch eifersüchtig um Frankies Anerkennung gebuhlt haben, sich gegeneinander ausspielen ließen, sich gegenseitig auch schlecht machten, um vor Frankie besser dazustehen.

    Einer gemeinsamen Wahrheit kommen sie dabei nicht näher, im Gegenteil: Denn erneut treibt sie nur dasselbe, was sie schon in diese Geschichte hinein manövriert hat: Statt ihr Desaster einzugestehen, suchen erneut einen Sinn in ihrem Leben, tasten sich an eine Version der Geschehnisse heran, mit der sie weiter leben können, mit der sie vor ihren Familien und der Öffentlichkeit bestehen können.

    "Judith ist ja die, die massiv Grund hat, bewusst zu lügen. Für sie dreht es sich ja auch darum, dass sie das Sorgerecht für ihre Kinder zurückbekommt. Und da ist natürlich die Frage, ist sie authentisch, so wie sie auftritt oder ist das etwas, was sie sich auch sehr zurechtlegt, um einfach vor der Kamera gut dazustehn. Die Emma, die dann ja auch die Radikalste ist, ist ja im Grunde auch die, die das fast am persönlichsten genommen hat. Da habe ich stark daran denken müssen, wie die RAF geprägt war von diesen ganz radikalen Frauen. Während Christoph, der ist da eingestiegen eben mit diesem Versprechen auf eine fantastische, aufregende Pseudo-James-Bond-Agentenzukunft anstelle seines langweiligen Studiums und einem Leben, dass unglaublich berechenbar von hier bis zur Rente ablaufen würde, also für den ist das dieser Jungstraum, der im Grunde auch Realität wird."

    So liest der Leser in stetem Wechsel drei völlig unterschiedliche Versionen einzelner Ereignisse, gegenseitige Denunziationen, eigene Überhöhungen inbegriffen. Jede Einzelne stimmt im Bewusstsein dessen, der sie erzählt. In den Rechtfertigungen und Verdrehungen, im Tonfall, den Akzentuierungen, den offenkundigen Lügen, bringt Tina Uebel ihre Figuren dem Leser nahe, öffnet sie den Raum, ihren Bedürfnissen, Sehnsüchten und Erwartungen, dem, was ihnen gefehlt hat in ihrem normalen Leben, nachzuspüren. Unter extremen Bedingungen führt sie vor, was Tag für Tag, im ganz normalen Leben, nicht anders funktioniert: Wie individuelle Bedürfnisse, subjektive Wahrnehmung, verzerrte, geschönte, unbewusst irgendwie zurechtgebogene Erinnerung eine subjektive Wirklichkeit konstruieren, die mit "objektiven Tatsachen" nicht viel zu tun haben muss, in der jeder Einzelne aber lebt – und vielleicht im Augenblick auch nur leben kann.

    Tina Uebel: Die Wahrheit über Frankie
    Roman, CH Beck Verlag 2009, 310 Seiten, EUR 19,90