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Rechtsextremismus in Europa

Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat in einer neuen Studie den Stand des "Rechtsextremismus in Europa" untersuchen lassen. Auf einer Tagung in Berlin diskutierten Experten, wie sich die rechtsextreme Szene in Deutschland und Europa verändert und wie mögliche Gegenstrategien aussehen können.

Von Isabel Fannrich | 30.05.2013
    "Es ist kein Ostphänomen. Da muss man auch ganz deutlich widersprechen. Rechtsextremismus ist ein gesamtdeutsches Problem, es ist ein Problem, was man auch nicht nur in Deutschland, sondern in verschiedenen Ländern in Europa hat. Was in Deutschland typisch ist, ist, dass die Parteienstruktur relativ gering ausgeprägt ist, und dass eben die Subkultur und auch die Gewalttätigkeit von Neonazis sehr, sehr stark in Deutschland ist. Und die Gewalttätigkeit ist stärker noch im Osten als im Westen. Es gibt ungefähr viermal so hohe Gewaltzahlen."

    Die Historikerin Britta Schellenberg erforscht, wie sich Rechtsextremismus in Deutschland verändert und verlagert. Dass die NPD nicht im Bundestag und "nur" in den Landesparlamenten von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern sitzt, führt sie darauf zurück, dass verfassungsfeindliche Parteien und Organisationen - anders als in vielen europäischen Nachbarländern - verboten werden können. Allerdings mit der Folge, dass sich die NPD oder etwa Pro Köln mit rechtsextremen Bewegungen und Subkulturen zusammentun. Und dass diese so erstarkt sind, dass sie in manchen Kommunen dominieren und "rechtsradikale Angstzonen" etabliert haben.

    Den Anstieg eines "geschlossenen rechtsextremen Weltbildes" auf insgesamt neun Prozent verzeichnete die Friedrich-Ebert-Stiftung in ihrer jüngsten "Mitte-Studie". Weil sich Einstellungen wie Rassismus, Antisemitismus, nationaler Chauvinismus oder Sexismus, auch in der Mitte fast aller europäischen Gesellschaften finden, plädiert der Politikwissenschaftler Michael Minkenberg dafür, von der radikalen Rechten zu sprechen:

    "Wenn man sich Umfragedaten anguckt, sieht man in fast allen Ländern einen Bodensatz von Rassismus, von Ultranationalismus, der bei zehn bis 20 Prozent liegt. Die Frage ist, unter welchen Umständen ist das abrufbar für Wahlen oder auf eine andere Weise mobilisierbar. Und da kommt's dann schon drauf an, wie stark die Demokratie konsolidiert ist, wie stark Ausgrenzungsmechanismen so funktionieren, dass nicht die Situation sich gegenseitig hochschaukelt, sondern dass die Ausgrenzung als echte Marginalisierung auch empfunden wird und als aussichtslos."

    Der Professor von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder nennt Schweden als Beispiel dafür, wie ein breites Bündnis aus Massenmedien und politischem Establishment unmittelbar auf rechtsextreme Äußerungen oder Handlungen reagiert und diese ausgrenzt. Demgegenüber sei in den jüngeren Demokratien in Ostmitteleuropa ein Cordon sanitaire - eine Art Schutzgürtel - kaum vorhanden.

    Zwar haben die radikalen Rechten in westeuropäischen Ländern wie Dänemark, Frankreich, den Niederlanden oder der Schweiz bei den nationalen Parlamentswahlen Ergebnisse von über zehn Prozent erreicht. In Polen und der Slowakei sind sie aus dem Parlament verdrängt worden, wogegen die größte rechtsextreme Partei in Ungarn, Jobbik, fast 17 Prozent der Stimmen erreichte.

    Allerdings sei es irreführend, sich allein an den Wahlergebnissen zu orientieren, sagt Michael Minkenberg. Die Anziehungskraft der Rechtsradikalen in Europa bestehe für viele darin, dass sie den Nationalismus auf Kosten liberaler Grundprinzipien überhöhen. Und dabei in übersteigerter Weise Gruppen nach ethnischen, kulturellen und religiösen Kriterien ausgrenzen. Mit unterschiedlicher Zielrichtung, sagt Minkenberg:

    "Wir haben in Westeuropa die große Gemeinsamkeit der Abwehr von Zuwanderung, vor allen Dingen Antiislamismus. Da gibt es eine Diskursverschiebung; die ist in Osteuropa nicht anzutreffen, weil der Islam dort auch gar nicht das Thema ist, abgesehen von Bulgarien, und teilweise Ungarn. Insofern gibt es dort eine radikale Rechte, die ihren Nationalismus viel stärker mit rückwärtsgewandten, klassisch rassistischen Konzepten auch füllt, Antisemitismus, und dann auch klarer antidemokratisch auftritt als das Pendant in Westeuropa."

    Die neue radikale Rechte habe - trotz ihrer Unterschiedlichkeit in den westeuropäischen Ländern - hier ihre demokratiefeindliche Rhetorik abgeschwächt. Sie vertrete anstelle eines klassischen biologischen Rassismus einen Ethnozentrismus - und finde damit zunehmend Eingang in die öffentlich-politische Rhetorik.

    Eines der Hauptprobleme sieht Britta Schellenberg - insbesondere nach dem späten Bekanntwerden der NSU-Morde - im gesellschaftlichen Umgang damit. Darin,

    "dass Rassismus, dass Rechtsextremismus als solcher erst häufig gar nicht erkannt wird. Dass sich von Opfern rassistischer oder politischer Gewalt teilweise eher abgegrenzt wird, dass man sich mit denen nicht gemein fühlt. Dass da zu wenig Sensibilität gegenüber diesen Gruppen existiert. Der einzelne Polizist kann ja da ganz gute Beweggründe haben, aber es kommt natürlich auch auf die Führung drauf an, und das ist ja das was wir bei den Verfassungsschutzämtern - Landes und Bund - gesehen haben, wenn die Führung entweder falsche Normvorgaben macht bzw. die Normvorstellung nicht der Demokratie, Menschenrechte nicht durchsetzt, dann hat man natürlich in der Institution Riesenprobleme."

    Die Öffentlichkeit ist aufgeschreckt. Die deutschen Sicherheits- und Ermittlungsbehörden tun sich schwer damit, rechtsradikales Denken und Handeln zu erkennen und dagegen vorzugehen, kritisiert die Wissenschaftlerin. Und offenbaren ein problematisches Verständnis von Demokratie und Parlamentarismus.

    Neue Strategien gegen Rechts forderten die Experten auf der Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Etwa eine unabhängige Beobachtungsstelle, um besser gegen Diskriminierung zu schützen. Aber auch ein breites Bündnis - eines, das die rechtsradikalen Anhänger und Täter nicht abschreibt. Harald Weilnböck:

    "Der jugendliche Extremist kommt ja nicht zu Ihnen und sagt: Ich will hier raus. Oder er sagt auf keinen Fall: Ich will meine Weltsicht verändern. Das ist, wenn überhaupt, der allerallerletzte Schritt. Der hat gemerkt, dass er sein Leben verändern will. Er will seine Lage verbessern."

    Der Psychotherapeut und Sozialforscher Harald Weilnböck arbeitet mit Jugendlichen, die in der Schule oder in Jugendklubs durch extremistische Äußerungen aufgefallen sind oder nach einer Gewalttat im Gefängnis sitzen.

    Fachlichen Austausch findet er bei RAN, dem Radicalization Awareness Network, das die Europäische Kommission 2011 eingerichtet hat. Hier entwickeln lokale Akteure, Politiker und Forscher, zivilgesellschaftliche Gruppen und Interventionsexperten vieler Länder neue Konzepte, die sie erproben - und an die Politik weiterreichen, etwa nach Brüssel. Weilnböck:

    "Wir nennen das seit einem Jahr Deradikalisierung und machen das seit etwa sieben, acht Jahren. Deradikalisierung begreife ich als eine Art der intensiven Sozial- und Präventionsarbeit.

    Es wird biografische Erfahrung aufgearbeitet, es wird dann auch erzählend, und zwar auf völlig freiwilliger Basis natürlich wird in die Bereiche der eigenen Erfahrung gegangen, die eben durch Hass und durch Gewalt aufgeladen sind."

    Die Jugendlichen sollen in Einzel- und Gruppenarbeit Vertrauen gewinnen und lernen, von sich erzählen. Von ihrer Familie und den eigenen Gewalterfahrungen - neben den körperlichen auch denen der Erniedrigung und Vernachlässigung. Ziel ist das Abrücken vom ideologischen Schlagabtausch - und von der Gewalt.

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    "Rechtsextremismus in Europa" - Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung