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Rechtsphilosoph: Beschneidung "nicht in dieser überhasteten Form" verabschieden

Reinhard Merkel, Strafrechtler und Rechtsphilosoph an der Universität Hamburg und Mitglied des Deutschen Ethikrats, beschreibt die Kritikpunkte am bisherigen Eckpunktepapier zur Beschneidung. Es gebe "mindestens drei große gravierende Einwände".

Reinhard Merkel im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 01.10.2012
    Tobias Armbrüster: Die Beschneidung von Jungen in Deutschland bleibt ein umstrittenes Thema. Angefangen hat die Debatte mit dem Urteil eines Kölner Gerichts, das die Beschneidung eines Jungen als Körperverletzung bewertet hat. Das Bundesjustizministerium hat nun in der vergangenen Woche ein Eckpunktepapier für ein Beschneidungsgesetz vorgelegt. Unter anderem ist darin vorgesehen, dass ein solcher Eingriff medizinisch geregelt sein muss und dass auch der Wille des Kindes nicht übergangen werden darf. Aber auch dieses erste Eckpunktepapier wurde in den vergangenen Tagen von vielen Seiten zum Teil heftig kritisiert. Heute nun, an diesem 1. Oktober, endet bereits die Frist, in der Fachleute und Verbände Stellung nehmen können zu den Vorschlägen aus dem Ministerium.

    – Am Telefon ist jetzt Reinhard Merkel, er ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg. Und er ist außerdem Mitglied im Deutschen Ethikrat. Schönen guten Morgen, Herr Merkel.

    Reinhard Merkel: Guten Morgen!

    Armbrüster: Herr Merkel, welche Erfolgsaussichten hat dieser Vorschlag?

    Merkel: Die Frage hat sozusagen zwei Seiten. Der Vorschlag, ein Erlaubnisgesetz für die Beschneidung zu machen, der hat eine nahezu hundertprozentige Erfolgsaussicht. Dazu ist das BMJ beauftragt worden vom Parlament. Nun hat es den Auftrag erfüllt, hat eine Erlaubnisnorm formuliert, die wird in der einen oder anderen Gestalt angenommen werden. Ob das in dieser Gestalt, wie sie dieses Eckpunktepapier jetzt vorführt, geschehen wird, da habe ich meine Zweifel und jedenfalls sollte es nicht unverändert so, wie das BMJ es jetzt vorgelegt hat, angenommen werden.

    Armbrüster: Was stört Sie, woran haben Sie Zweifel?

    Merkel: Es gibt eine ganze Reihe von Einwänden, mindestens drei große gravierende Einwände. Zum Ersten wird die Frage der Anästhesie, der Betäubung, der hinreichenden Betäubung, nicht deutlich genug geregelt. Sie wird allein in diesem Eckpunkteentwurf den Regeln der ärztlichen Kunst unterstellt. Nun mag man ja sagen, die ärztliche Kunst muss für eine hinreichende Anästhesie sorgen. Aber im Absatz zwei wird die Durchführung der Beschneidung bei Jungs unterhalb von sechs Monaten Alter auch Nichtärzten erlaubt. Und wer das liest mit geschulten Augen, fragt sich auf der Stelle: Und wie ist es dann mit der Anästhesie, wenn Nichtärzte die Beschneidung vornehmen. Und dazu kann ich nur sagen: Wenn man die vollkommen untauglichen Methoden, die derzeit in Deutschland leider bei der Beschneidung von Neugeborenen praktiziert werden, vor allem einen in Rotwein getränkten Stofffetzen dem Jungen in den Mund zu stecken, das ist hoffnungslos unzulänglich. Ebenfalls unzulänglich ist es, eine Paracetamol-Tablette zu geben. Wenn man also den Auftrag der hinreichenden Betäubung auch bei den Neugeborenen Ernst nimmt, dann kann die Anästhesie, die gebotene, nur von einem geschulten Anästhesisten vorgenommen werden und nicht von einem jüdischen Mohel etwa, der die Beschneidung vornehmen darf.

    Armbrüster: Aber das hieße, wenn die Betäubung auch auf unter sechs Monate alte Kinder ausgeweitet wird, dann wäre alles in Ordnung?

    Merkel: Wenn das klargestellt wäre. Es wird aber nicht hinreichend klargestellt, weil nur im Absatz eins von der ärztlichen Kunst die Rede ist und im Absatz zwei plötzlich gesagt wird, das muss aber nicht immer ein Arzt machen. Und zur Anästhesie im Absatz zwei geschwiegen wird. Deswegen ist mir das nicht hinreichend deutlich genug. Ein jüdischer Mohel wird sagen, das habe ich immer schon gemacht und habe immer auch ein bisschen für Betäubung gesorgt, eine Paracetamol-Tablette, ein Zäpfchen gegeben. Das reicht aber nicht. Und der Gesetzentwurf hat das klarzustellen. Mindestens sollte das Parlament in der Begründung des Gesetzes dann ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Betäubung gewährleistet werden muss. Dann ist diesem Punkt immerhin Genüge getan.
    Es gibt aber weitere Einwände dagegen. Der Entwurf formuliert eine abstrakte und generelle Erlaubnis für alle Eltern, ihre Jungs beschneiden zu lassen aus jederlei Motiv. Dafür gibt es ganz einleuchtende Gründe. Man möchte nicht nach den religiösen Motiven fragen oder gar forschen. Der Staat ist zur religiösen Neutralität verpflichtet. Es führt aber nun dazu, dass aus noch so extravaganten Motiven Eltern ihre Jungs beschneiden lassen können. Und zwei sind durchaus gebräuchlich. Wir wissen das aus Amerika, wir wissen es aber sogar auch aus Deutschland. Ein ästhetisches Motiv, weil der Vater, weil die Mutter sagt, das sieht schöner aus. Und das Motiv – das dürfte selten sein, kommt aber auch vor -, mit dem ...

    Armbrüster: Herr Merkel, vielleicht darf ich Sie da mal kurz unterbrechen. Es ist ja in dieser ganzen Debatte, auch so wie Sie das schildern, immer vom Wohl des Kindes die Rede und von den Entscheidungen, die Eltern dafür treffen. Wer weiß denn eigentlich besser, was gut ist für ein Kind? Wissen das die Eltern oder wissen das die Juristen?

    Merkel: Grundsätzlich sind die Eltern zuständig, den Inhalt des Kindeswohls zu bestimmen. Weder der Staat mit dem Gesetz, noch die Juristen, die das Gesetz auslegen. Aber hier geht es nicht einfach um die Frage der Bestimmung des Inhalts des Kindeswohls, sondern der genauen Ziehung der Grenzen, nämlich die Kompetenz der Eltern, das Kindeswohl zu bestimmen, endet da, wo es gefährdet wird. Und nach der Regelung, die wir im Bürgerlichen Gesetzbuch haben, gefährdet jede Gewalthandlung gegen den Körper das Kindeswohl, verletzt es sogar, nicht nur gefährdet es. Natürlich ist die Beschneidung ein gravierender gewaltsamer Akt gegen den kindlichen Körper, ...

    Armbrüster: Aber es gibt doch kaum Nachweise darüber, dass daraus wirklich Komplikationen entstanden sind oder Krankheiten oder Todesfälle. Das sind doch sehr geringe Fallzahlen.

    Merkel: Sehr geringe Fallzahlen sicher, gemessen an der Gesamtzahl der Beschneidungen. Richtig! Aber das ist eine nicht medizinisch indizierte Operation. Wir haben in Amerika nach neuesten Studien über 100 Todesfälle nach Beschneidungen jedes Jahr – in Amerika, dem medizinisch höchst entwickelten Land der Welt. Wir haben auch andere katastrophale Folgen, etwa die Penisamputation oder die Amputation des sogenannten glans penis, der Eichel. Das kommt vor. Es kommen auch Notoperationen vor, die hinterher erforderlich werden. Gemessen an der Gesamtzahl der Beschneidungen sind das extrem seltene Fälle, aber die Relationen können Sie so in den Blick nehmen: 1,4 Millionen Beschneidungen in den USA jedes Jahr, über 100 Todesfälle. Ginge es nicht um einen religiös beglaubigten und geforderten Eingriff, würde das auf gar keinen Fall erlaubt. Der Staat würde das als etwas definieren, was Juristen ein unerlaubtes Risiko nennen, weil es keine Indikation für den Eingriff gibt.

    Armbrüster: Herr Merkel, wenn man jetzt Ihre Einwände und Zweifel hört, können wir dann damit rechnen, dass das Ganze letztendlich am Bundesverfassungsgericht entschieden wird?

    Merkel: Das wird vielleicht, obwohl das gar nicht so leicht zu sehen ist, wie das zum Verfassungsgericht kommen könnte. Abstrakt die Norm kontrollieren lassen vom Verfassungsgericht, das können nur andere Verfassungsorgane oder eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten des Bundestags, die werden das nicht tun. Ein Betroffener könnte das zum Verfassungsgericht bringen, das ist schwer zu sehen. Aber ich kann Ihnen sagen eine pragmatische Prognose. Wenn es jemals, also diese neue Erlaubnisnorm, die wir kriegen werden, jemals zum Verfassungsgericht kommt, dann glaube ich nicht, dass sich das Verfassungsgericht mit einer Nichtigkeitserklärung in die Politik einmischen wird, die im Hintergrund hier eine Rolle spielt, bis hin zur Außenpolitik. Israelische Regierungsorgane haben sich gemeldet bei der Bundesregierung. Ich glaube nicht, dass das für das Verfassungsgericht, die Beschneidung, der Vorgang der Beschneidung, ein hinreichender Anlass ist, sich so in die politische Sphäre einzumischen.

    Armbrüster: Das hieße dann aber, wir werden uns noch jahrelang mit diesem Thema befassen?

    Merkel: Wir werden uns sicher noch lange damit befassen. Wir werden vor allem, da die Aufmerksamkeit jetzt geschärft worden ist, auch in Deutschland gravierende Komplikationen erleben, wie gesagt selten. Leichtere Komplikationen treten sehr viele sogar auf, sehr häufig, aber die kann man sozusagen relativ problemlos beheben. Wir werden aber jetzt auch gravierende Komplikationen bis hin - hoffentlich nicht, aber es ist zu befürchten -, bis hin zu einzelnen, sehr vereinzelten Todesfällen im Anschluss an Beschneidungen, und das wird die Diskussion am Leben erhalten.

    Armbrüster: Es geht ja nun alles sehr schnell, das Gesetz soll noch in diesem Herbst verabschiedet werden. Haben Sie den Eindruck, hier wird etwas durchgepeitscht?

    Merkel: Ich möchte es nicht so formulieren, aber ich habe den Eindruck, dass das ganz und gar überhastet geschieht. Der Entschließungsantrag des Bundestages im Juli dieses Jahres wurde von der Mehrzahl der Abgeordneten verabschiedet, ohne dass die eine hinreichende Kenntnis, ein hinreichendes Verständnis, dieser Probleme hatten. Sehr viel mehr Abgeordnete durchschauen die Probleme jetzt genauer und deswegen wäre es sinnvoll gewesen, das noch intensiver zu erörtern, die Befunde der international verfügbaren Studien zu Komplikationen, zu Schmerzproblemen, zur Eingriffstiefe genauer zur Kenntnis zu nehmen und das nicht in dieser überhasteten Form zu verabschieden.

    Armbrüster: Reinhard Merkel war das, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, außerdem Mitglied im Deutschen Ethikrat. Vielen Dank, Herr Merkel, für das Gespräch.

    Merkel: Gerne.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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