Dienstag, 19. März 2024

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Rechtspopulismus
"Da braut sich was Neues zusammen"

Der Rechtsextremismus-Experte Bernd Wagner befürchtet eine zunehmende Spaltung der deutschen Gesellschaft: Ein Teil wolle Migranten helfen, ein anderer sich "völkisch verriegeln", sagte der Mitbegründer der Initiative "Exit Deutschland" im DLF. Die Ereignisse in Ungarn sollten ein Alarmzeichen sein.

Bernd Wagner im Gespräch mit Christine Heuer. | 05.09.2015
    Der Mitbegründer der Initiative "Exit Deutschland", Bernd Wagner.
    Der Mitbegründer der Initiative "Exit Deutschland", Bernd Wagner. (AFP / John Macdougall)
    In Deutschland habe sich in den vergangenen Jahren eine "neovölkische Bewegtheit" entwickelt, so Wagner. Im "Grenzbereich zum Rechtspopulismus" braue sich etwas zusammen. Die Gesellschaft sei in dieser Frage allerdings weniger in Ost und West gespalten. Politikern, die dies in der Vergangenheit so eingeordnet hätten, warf Wagner "Albernheit" vor. Man müsse vielmehr "regional denken".
    Beim Umgang der Sicherheitsbehörden und Verwaltungen mit rechtsextremer Gewalt gibt es laut dem Experten noch "viel Luft nach oben". Der Staat dürfe sich nicht einbilden, "alles alleine zu können", ein Austausch mit Initiativen wie Exit Deutschland sei ebenfalls erforderlich.
    Rechtsextreme Gewalttäter sehen Wagner zufolge aktuell die Chance, in der Bevölkerung großen Rückhalt zu gewinnen. "Sie wollen vorankommen, und dabei ist ihnen jedes Mittel Recht." Terror als Methodik werde eingesetzt, um Zeichen zu setzen: Migranten sollten wissen, dass sie wieder verschwinden sollen; die Politik erfahren, dass es sich wieder lohnt, Widerstand auszuüben; die Bevölkerung, dass da eine Kraft ist, die ihnen hilft, ihren Unmut auch umzusetzen.

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: Heidenau ist den meisten Deutschen in schlechter Erinnerung. Vor und nach der fremdenfeindlichen Randale ist es immer wieder zu Angriffen gegen Flüchtlingsunterkünfte gekommen. Zuletzt hat es im hessischen Heppenheim gebrannt, kurz davor im niedersächsischen Salzhemmendorf. Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen ist besorgt, die Hetze gegen die Flüchtlinge, hat er gesagt, radikalisiere die rechtsextremistische Szene. Maaßen befürchtet einen neuen Rechtsterrorismus in Deutschland, und Angela Merkel hat sich dieser Warnung inzwischen ausdrücklich angeschlossen. Am Telefon ist einer, der die rechte Szene sehr genau kennt. Mit seiner Aussteigerinitiative EXIT unterstützt der Kriminalist Bernd Wagner seit vielen Jahren Menschen, die den rechten Rand hinter sich lassen wollen. Guten Morgen, Herr Wagner!
    Bernd Wagner: Einen recht schönen guten Morgen!
    Heuer: Maaßen und Merkel warnen vor neuem rechten Terror. Wie groß ist die Gefahr, dass sich der NSU wiederholt in Deutschland?
    Wagner: Ob der NSU sich in der Fassung wiederholt, ist noch fraglich. Was allerdings sehr stark zu Buche schlägt, ist die Neigung in der rechtsextremistischen Szene, Gewalt einzusetzen. Das hat ja zwei Gründe: Einerseits hat die Szene schon seit vielen, vielen Jahren auf ihre Fahne geschrieben, als nationaler Widerstand gegen die Demokratie, aber natürlich gegen die sogenannte Überfremdung anzugehen, und das nicht nur mit dem Wort, sondern auch mit der militanten Tat. Und ein Zweites ist, sie sehen natürlich auch große Chancen, in der Bevölkerung erneut großen Rückhalt zu gewinnen und ihre Taten [unverständlich]. Sie wollen tatsächlich vorankommen, und insofern ist ihnen natürlich jedes Gewaltmittel recht. Terror als Methodik bedeutet das.
    Heuer: Was bedeutet das konkret?
    Wagner: Terror als Methodik heißt, dass Gewalt eingesetzt wird, um vor allen Dingen mehrere Zeichen zu setzen. Das heißt, einmal den Migranten, die zu uns kommen, egal aus welchen Gründen, zu bedeuten, dass sie aus Deutschland wieder verschwinden müssen, dass die Leute Angst bekommen. Und natürlich auch ein Zeichen in Richtung Politik und Bevölkerung, dass es sich lohnt, Widerstand gegen die sogenannte Überfremdung zu zelebrieren. Und natürlich auch die Politik ein Stück weit zum Zurückweichen zu bewegen in der Sache, und der Bevölkerung natürlich auch, vor allem den Völkischen in der Bevölkerung zu bedeuten, dass da eine Kraft ist, die ihnen hilft, ihren Unmut auch umzusetzen.
    "Sicherheitsbehörden haben noch viel Luft nach oben"
    Heuer: Rechter Terror hat in Deutschland bislang das Gesicht des NSU. Sie haben gerade gesagt, na ja, ob sich das wiederholt, das wissen Sie nicht. Was genau hat sich geändert, welche konkreten Taten befürchten Sie?
    Wagner: Es gibt ja, wenn man jetzt über Terror und Militanz, Gewalt aus dem rechtsextremen Spektrum spricht, ja ganz unterschiedliche Handlungsstränge. Das ist einmal der verdeckte, im Untergrund befindliche Bereich analog dem NSU. Das andere große Band ist ja die Alltagsmilitanz. Das heißt also, aus mehr oder minder offenen Gruppen heraus Gewalt auszuüben, das natürlich auch konspirativ vorzubereiten und umzusetzen. Und ein Drittes ist die Gewalt, die ganz alltäglich zur Normalität gehört, gegen Andersdenkende vorzugehen. Die drei Stränge durchwirken sich sehr deutlich, und verschiedene Gruppen im Rechtsextremismus spielen eigentlich alle drei Bereiche. Und da muss man natürlich aufpassen, dass sich dort nicht Formationen herausbilden, wie wir sie auch vom NSU her kennen. Das hat natürlich, wenn ich sage, ich weiß das nicht, damit zu tun, mit welcher Akribie und mit welcher operativen Meisterschaft Kriminalpolizei und Nachrichtendienste dem was entgegensetzen können. Und da sind natürlich große Fragezeichen angebracht.
    Heuer: Sie finden, der Staat ist nicht wehrhaft genug?
    Wagner: Ich glaube, die Aufstellung, in der wir uns befinden, sowohl die allgemeine Verwaltung, aber auch die Sicherheitsbehörden haben noch viel Luft nach oben, sich zu entwickeln, sich zu qualifizieren. Wir mit unserer Initiative EXIT versuchen ja auch, in der Richtung in einer Kooperation dort etwas mit einzubringen. Der Staat muss es natürlich zulassen, dass auch Initiativen, die nicht-staatlich sind, sich in eine positive Kooperation mit den Behörden einlassen wollen. Da sehe ich also auch noch viele Möglichkeiten. Der Staat sollte sich nicht der Einbildung hingeben, dass er alles alleine kann.
    Heuer: Und Sie fühlen sich zu wenig in Ihrer Expertise abgefragt, höre ich da heraus.
    Wagner: Die Expertise ist gar nicht das Problem. Wir haben viele Probleme, die im Alltag, auch bei Ausstiegsprozessen beispielsweise, anstehen. Einerseits kann der Gesetzgeber vieles noch dort einbringen - ich denke an das deutsche Gefährdungsrecht beispielsweise und viele andere Rechtsbereiche, dort also gesetzgeberisch und [unverständlich] gestaltend tätig zu werden. Ich denke aber auch, die Intensität der Kooperation gerade bei Deradikalisierungsbemühungen sollten ausgebaut werden. Der Staat sollte sich nicht einbilden, sich dort selber nur zu betätigen, sondern sollte auch wirklich in den praktischen Austausch gehen. Und da sehe ich also noch sehr viele Möglichkeiten.
    Heuer: Herr Wagner, wie gesellschaftsfähig ist Rechtsextremismus derzeit in Deutschland?
    Wagner: Der Rechtsextremismus in seiner exzessiven Form, der Neo-Nationalsozialismus, der ist relativ verengt. Was sehr zu Buche schlägt, ist eine neovölkische Bewegtheit in der Bevölkerung. Das können wir schon seit einigen Jahren beobachten. Der Neo-Nationalsozialismus ist dort sozusagen nur noch eine Marginalie. Es gibt neue Bewegungen, die in die Richtung Rechtsradikalität übergehen, neovölkische Bewegungen, ich denke an die Identitäten. Das ist zwar sicherlich noch ein kleiner Bereich, aber ich denke auch an die "Pro"-Bewegungen und viele andere mehr. Also da braut sich was Neues zusammen, auch im Grenzbereich zum Rechtspopulismus. Hier werden neue Formen des Rechtsradikalismus, des Rechtsextremismus uns die nächsten Jahre deutlich beschäftigen.
    "Es ist nicht nur eine Spaltung in Ost und West"
    Heuer: Andererseits, Herr Wagner, erleben wir ja eine beeindruckende Hilfsbereitschaft der allermeisten Bürger. Wie groß ist denn die Gefahr, dass rechtsextremistische Ansichten große Teile der Bevölkerung anstecken?
    Wagner: Die ist sehr groß, denke ich. Es tendiert auf eine Spaltung der deutschen Gesellschaft auch im Identitätsbewusstsein hin. Ein Teil will eine multikulturelle Gesellschaft leben, und ein anderer Teil möchte sich völkisch verriegeln. Das haben wir allerdings nicht nur in Deutschland, das haben wir auch in anderen europäischen Staaten. Und auch international, allgemein, ist das ein Trend. Also ich denke, hier werden uns noch größere Auseinandersetzungen ins Haus stehen, im nationalen und im internationalen Rahmen. Die Ereignisse in Ungarn und in anderen Staaten sollten uns Alarmzeichen sein.
    Heuer: Wenn Sie sagen, eine Spaltung der deutschen Gesellschaft, wir haben ja die Debatte darüber - ist das eine Spaltung auch in Ost und West?
    Wagner: Es ist nicht nur eine Spaltung in Ost und West. Es gibt auch regionale Spaltungen. Es gibt anhand von Wertsystemen, die in den Territorien, also in den Regionen herrschen, also dort, wo starke andere Bindungskräfte wie christliches Bewusstsein deutlich ausgeprägt sind, eine geringere Anfälligkeit für Rechtsradikalität. Da, wo es nicht ist, ist es etwas stärker ausgeprägt. Also man sollte nicht nur in Ost-West-Schemen denken, sondern in Nord-Süd-Schemen, wenn man jetzt nationalstaatlich denkt. Man sollte vor allen Dingen die Analyse verstärken, wo besondere Schwerpunkte bestehen, und da sehe ich also große Lücken. Die Albernheiten von Ministerpräsidenten, sich gegenseitig die Rechtsradikalität in Teilen der Bevölkerung um die Ohren zu schlagen, wo es mehr oder minder ist, das ist eine rein verwaltungstechnische Sortierung. Ich halte davon überhaupt nichts, sondern die regionale Betrachtung und die regionale Analytik, wenn man denn schon so was machen muss, sollte da in den Mittelpunkt geraten. Wir haben gerade in den 2000er-Jahren auch analytische Instrumente, für kommunale Analyse, für regionale Analyse angeliefert, unsere Organisation, aber auch andere Organisationen. Man greift gar nicht darauf zurück. Da wird ja kein Geld bereitgestellt, es werden Bauchanalysen gemacht, und das halte ich also für ungenügend. Davon kann sich Politik nicht elaboriert formieren.
    Heuer: Sie merken, Herr Wagner, wir müssen zum Ende kommen. Der Kriminalist Bernd Wagner, Gründer der Aussteiger-Initiative EXIT, für Aussteiger aus der Neonaziszene. Ich danke Ihnen sehr fürs Gespräch, Herr Wagner!
    Wagner: Ja, bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.