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Rechtspopulismus
"Der krampfhafte, wahnhafte Versuch, exklusive Solidarität herzustellen"

Für den Soziologen Heinz Bude profitiert die AfD von "einer neuen Kraft des Misstrauens" in der deutschen Gesellschaft. Es gebe ein neues Unbehagen gegenüber den Folgen der Globalisierung, sagte Bude im DLF. Die AfD begegne dem mit einem "völkischen Ansatz".

Heinz Bude im Gespräch mit Peter Kapern | 03.05.2016
    Der Soziologe Heinz Bude
    Der Soziologe Heinz Bude (imago stock&people)
    Im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die AfD gebe es viele Äußerungen, die zeigten, "dass es so etwas wie ein generalisiertes Unbehagen gibt mit der Situation der deutschen Gesellschaft", betonte der Soziologe Heinz Bude. So habe etwa das Thema Islam eine Grundfrage auf die Tagesordnung gebracht: "nämlich was passiert eigentlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Europa in vielleicht zehn Jahren noch sechs Prozent der Weltbevölkerung darstellt".
    Die aktuelle Zuwanderungssituation in Deutschland sei eine Art "Rendezvous mit der Globalisierung". Dies habe dazu geführt, so Bude, dass sich viele Menschen fragten: "Nehmen die etwas von unserem Glück weg oder fügen die etwas hinzu?" Viele trügen ein heimliches Unbehagen gegenüber "denen, von denen geglaubt wird, dass sie sich auf irgendeine Weise bereichern," mit sich herum. Diese "neue Kraft des Misstrauens" bringe die Menschen auseinander.
    Dies geschehe in einer Zeit, in der die sogenannte "Trickle-down-Theorie" nicht mehr greife, die davon ausgeht, dass in einer Gesellschaft alle Menschen von wirtschaftlichem Wachstum profitieren, erklärt der Soziologe. Das Versprechen, "am Ende geht es allen gut, wenn Du dich anstrengst", stelle sich als Lüge heraus, so Bude. Dagegen wachse das Gefühl, dass nur noch einige profitieren. Viele Menschen fühlten sich abgeschrieben und von Politik und von Medien belogen. "Soziale Gerechtigkeit entpuppt sich für manche als eine kalte Prozedur."
    Die Alternative für Deutschland (AfD) unternehme den "krampfhaften, wahnhaften Versuch, einen Raum exklusiver Solidarität herzustellen". Das sei der "völkische Ansatz, in der AfD zu sagen, es gibt einen solidarischen Raum, von dem wir alle anderen aussortieren, die irgendeine Gefährdung für diesen solidarischen Raum darstellen".

    Peter Kapern: Man mag daran verzweifeln, oder man mag es bejubeln. Fest steht jedenfalls: Die AfD gehört zu Deutschland und das bleibt auch so, bis sich die Wähler von ihr abwenden und die Partei wieder in der Bedeutungslosigkeit versinkt. Am vergangenen Wochenende hat die Rechtspopulisten-Truppe erst einmal ein Grundsatzprogramm verabschiedet und darin findet sich ein Satz, der seither die Medienberichterstattung prägt. Er lautet: Der Islam gehört nicht zu Deutschland. Und jetzt wird gestritten: Stimmt das, stimmt das nicht, wie war das mit den Türken vor Wien, ist ein Minarett ein Herrschaftsanspruch, können Muslime hier willkommen sein, wenn man ihre Religion nicht willkommen heißt, und so weiter und so fort, als hätte die AfD da gar kein Grundsatzprogramm, sondern eine religionshistorische Doktorarbeit beschlossen.
    Was drückt sich in dieser Partei und ihrem Programm aber wirklich aus? - Bei uns am Telefon der Soziologe Heinz Bude. Guten Morgen.
    Heinz Bude: Guten Morgen, Herr Kapern.
    Kapern: Herr Bude, sagen Sie es uns. Was treibt die AfD und ihre Wähler um, die Angst vor der Islamisierung Deutschlands, der Kampf für die religiöse Reinheit unseres Landes?
    Bude: Ach, das glaube ich nicht. Die Berichterstattungen über den Parteitag der AfD haben ja auch ein ganzes Bündel von Äußerungen zusammengetragen, wo man denkt, da sind viele, viele Anknüpfungspunkte, die eigentlich sagen, dass es so etwas wie ein generalisiertes Unbehagen gibt mit der Situation der deutschen Gesellschaft, vielleicht auch der deutschen Gesellschaft in der Welt. Und das Thema des Islams bringt eine Grundfrage auf die Tagesordnung, die, glaube ich, eine Menge Leute in Deutschland umtreibt, nämlich was passiert eigentlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Europa in vielleicht zehn Jahren noch sechs Prozent der Weltbevölkerung darstellt und die 200jährige Geschichte, dass sich der Abstand zwischen den alten Industrieländern und den sogenannten Entwicklungsländern vergrößert hat, Jahr für Jahr, die ist seit ungefähr zehn Jahren zu Ende. Der Abstand nimmt immer weiter ab. Die soziale Ungleichheit zwischen den Gesellschaften nimmt ab. In Indien entsteht eine neue Mittelklasse, in China entsteht eine neue Mittelklasse, selbst in Brasilien ist eine neue Mittelklasse entstanden mit etwa 40 Millionen Leuten innerhalb von zehn Jahren. Es sieht jetzt ein bisschen problematischer dort aus. All das stellt die Frage, was bedeutet es eigentlich, dass wir hier als so ein komisches kleines Gallien in einer ganz anderen Welt uns befinden.
    Kapern: Aber, Herr Bude, all das haben wir doch eigentlich über Jahrzehnte gewollt, jedenfalls die Wohlmeinenden hier im Westen, die mit Willy Brandt beispielsweise schon auf die Dritte Welt geschaut haben und gesagt haben, wie können wir dort Wohlstand und Wachstum fördern.
    "Es gibt eine neue Kraft des Misstrauens"
    Bude: Ich glaube schon, dass das immer schon ein Thema war. Es ist aber nun klarer und ich glaube, Wolfgang Schäuble hat da ein ganz schönes Wort für gefunden, dass jetzt ein wirkliches Rendezvous mit der Globalisierung stattgefunden hat im Zuge der neuen Zuwanderungssituation, die wir in Deutschland haben durch Flüchtlinge. Das hat die Sache noch mal sehr nahe gebracht. Es ist etwas ganz anderes, darüber nachzudenken, dass wir eine Nord-Süd-Konstellation haben, die sich verändert hat, als zu sehen, da kommen Menschen aus Fleisch und Blut und man weiß, dass sie hier ihr Glück machen wollen, und immer ist die Frage, nehmen die uns von unserem Glück etwas weg, oder fügen die unserem Glück etwas hinzu.
    Es gibt natürlich sehr viele Leute in Deutschland, die sehen, dass sie auch unserem Glück was hinzufügen. Vielleicht ist das immer noch die Mehrheit. Aber wir denken doch auch zu sehen, dass sehr viele Leute so ein heimliches, wenig kommuniziertes Unbehagen mit sich herumtragen, was immer deutlicher wird in etwas, was wir übrigens in allen OECD-Ländern haben, dass es eine neue Kraft des Misstrauens gibt. Das Misstrauen bringt die Leute zusammen und nicht das Vertrauen.
    Kapern: Misstrauen gegen wen?
    Bude: Oft ist es das Misstrauen gegen diejenigen, von denen geglaubt wird, dass sie sich einerseits auf irgendeine Weise selbst bereichern, etwas für sich schon haben von den Entwicklungen der letzten 20, 30 Jahre, und auf der anderen Seite sich im Grunde kalt zeigen gegenüber dem, was vielen ganz normalen Leuten geschehen ist, die nun nicht unbedingt bei den großen Gewinnern dessen gewesen sind, was wir heute im Nachhinein manchmal Neoliberalismus nennen, sondern die auf Solidarität angewiesen sind, die angewiesen sind auf Schutz und nicht nur die Vorstellung haben, wenn man sich selber stark macht, der Einzelne, der starke Einzelne, der wird durchkommen, und sie sehen, ich bin nicht so ein starker Einzelner.
    "Es gibt viele, die nicht profitieren"
    Kapern: Das würde ich gerne noch mal genauer von Ihnen wissen, Herr Bude. Das ist ein Misstrauen, das sich sowohl nach oben richtet gegen diejenigen, die in diesem Land Macht und Einfluss haben, als auch nach unten richtet gegen die, die hier abgehängt waren?
    Bude: Nein. Ich glaube, nach oben gegenüber denjenigen, wie Sie es gesagt haben, und nach außen gegenüber denjenigen, die reinkommen und für die, die unten da sind, die sich nicht in einer ganz sicheren Position befinden, natürlich auch eine Art von neuer Konkurrenz darstellen. Die Frage, die übrigens alle eint, ist unsere Zukunft eigentlich noch für alle eine glaubenswerte, ist das, wo wir sagen können, sind große Versprechen in der Gesellschaft da, die am Ende allen zugutekommen. Das Unbehagen, um das Wort zum dritten Mal zu sagen, ist glaube ich, dass wir in einer gesellschaftlichen Situation uns befinden, wo man den Eindruck hat, einige profitieren, vielleicht sind es gar nicht so wenige, aber es gibt auch viele, die nicht profitieren, die sagen können, was habe ich eigentlich falsch gemacht, dass ich am Ende meines Lebens mit einem Rentenanspruch dastehe, den ich auch hätte, wenn ich nie in meinem Leben gearbeitet hätte. Diese Stimmen werden deutlicher in unserer Gesellschaft.
    Kapern: Das heißt, im Grunde genommen ist dieses Unbehagen, dieses Misstrauen gegenüber dem, ich sage jetzt mal, Establishment berechtigt?
    Bude: Es ist insofern berechtigt, als eine glaubhafte Botschaft, dass am Ende alle Nutzen davon tragen, von gesellschaftlichen Entwicklungen, dass im Grunde es einen, wie sagt man so schön, Trickle-down-Effekt gibt, wo am Ende alle mit drin sind, dass das sich für viele als eine Art von Lüge darstellt, dass sie sagen von ihrer Lebenserfahrung, das stimmt doch überhaupt nicht, da wird uns was vorgegaukelt. Und es wird auch noch vorgegaukelt, dass das alles so weitergehen könnte, aber man schaut nach Frankreich, man hört, was ist in Italien los, und denkt, das kann doch auch gar nicht alles ewig gut gehen in der Situation, in der wir leben.
    "Mir kann doch niemand erzählen, dass wir im halben glücklichen Paradies leben"
    Kapern: Zu diesem Trickle-down-Effekt, den Sie da angesprochen haben, habe ich noch eine Nachfrage, Herr Bude. War das denn jemals mehr als ein schönes Märchen, dass es wirklich mal allen paradiesisch gut gehen wird? Ist das wirklich das Versprechen unserer westlichen Gesellschaften gewesen?
    Bude: Doch! Ich glaube schon. Das Versprechen war, wenn Du Dich anstrengst, wenn Du Dich nicht allzu blöd anstellst, wirst Du am Ende einen Platz erreichen, von dem Du im Nachhinein sagen wirst, es ist schon in Ordnung, ich habe nicht vielleicht das erreicht, was ich mir vorgenommen habe, ich bin nicht da gelandet, wovon ich geträumt habe, aber Sie können das bei vielen sehen, die heute zwischen 60 und 70 sind, die sagen, okay, es ist eigentlich relativ gut gelaufen. Jetzt gibt es immer mehr die sagen, es ist relativ schlecht gelaufen, ich bin gegenüber solchen, die ähnliche Ausgangsvoraussetzungen haben, vielfach in der Mitte unserer Gesellschaft hängen geblieben, ich habe es nicht so gut hingekriegt, und welche, die unten stehen, haben sowieso die Vorstellung abgeschrieben, dass ihre Stimme überhaupt noch etwas zählt für das gesellschaftliche Ganze.
    Kapern: Aber das alles findet statt in einer Zeit, in der es doch so vielen so gut geht wie nie zuvor. Die Arbeitslosigkeit kennt nur noch eine Bewegung, nämlich nach unten, das verfügbare Einkommen eher nach oben. Warum gerade in diesem Moment dieses Empfinden?
    Bude: Schauen Sie mal, Herr Kapern, das ist das Verrückte. Die Leute, von denen ich rede, die hören das, was Sie jetzt gerade sagen, und sagen, schon wieder lügt da wieder einer, für mich stimmt das doch überhaupt gar nicht, ich bin zwar nicht rausgefallen als jemand, der mittelgut begabt ist, einigermaßen gebildet ist in einer Unternehmensorganisation, aber man hat mich beiseite gedrängt und es ist irgendein 35-Jähriger gekommen und hat gesagt, jetzt machen wir das alles ganz anderes, Big Data ist jetzt die große Geschichte. Oder Sie sind ganz unten. Sie sind jemand, der bei einem privaten Zustelldienst beschäftigt ist, und Sie sagen: Schauen Sie mal, ich kriege irgendwie 1100 Euro netto im Monat und strenge mich da wirklich hart an bei 45, 50 Stunden realer Wochenarbeitszeit. Mir kann doch niemand erzählen, dass wir hier im halben glücklichen Paradies leben in Deutschland.
    Kapern: Und auf dem Nährboden dieser Eindrücke und Empfindungen schreibt die AfD nun ein Parteiprogramm, in dem es gegen alles geht, was hier einmal wichtig war und richtungsweisend war. Es geht gegen die NATO, gegen die Medien, gegen die EU, gegen den Euro, gegen das Regietheater, gegen englischsprachige Studiengänge an deutschen Universitäten und natürlich auch gegen Ausländer und Muslime. Das gleicht ja doch eher einer Zerstörungswut als dem Verlangen nach einer Reparatur der Defizite, die Sie da beschrieben haben.
    "Das ist ein Wir der Ausgrenzung"
    Bude: Ich will es mal positiv sagen: Es ist der krampfhafte, wahnhafte Versuch, einen Raum exklusiver Solidarität herzustellen. Das ist, wenn Sie so wollen, der völkische Ansatz in der AfD zu sagen, es gibt einen solidarischen Raum, von dem wir alle anderen aussortieren, die irgendeine Gefährdung für diesen solidarischen Raum darstellen. Man könnte es positiv interpretieren, dass es dieses leerlaufende Bedürfnis nach Solidarität zum Ausdruck bringt, nach einem Raum, wo gesagt wird, es ist nicht der Einzelne, der sich besonders stark macht, der wird uns retten oder der wird sich retten können, sondern es wird nur ein wir uns retten, und das ist sozusagen die AfD-Botschaft, das ist ein Wir der Ausgrenzungen, das ist ein Wir des sich Zurückziehens, und natürlich das ist ein Wir, das im gemeinsamen Hass sich stark fühlt.
    Kapern: Und wie sollten nun diejenigen, die von der AfD abgeschrieben wurden, mit diesen Erkenntnissen umgehen, um der AfD den Wind aus den Segeln zu nehmen?
    Bude: Ich glaube, wir haben in der politischen Programmatik einen neuen Raum mittlerweile in Deutschland gewonnen. Der ist durch die beiden Begriffe von sozialer Gerechtigkeit auf der einen Seite und Solidarität auf der anderen Seite bestimmt. Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit versucht, Kriterien für legitime Ansprüche zu definieren, die wir am gemeinsamen Ganzen haben, sagt aber dann auch, wenn irgendwelche Kriterien nicht gegeben sind, dann werden wir Deine Ansprüche auch reduzieren. Das ist ein Beispiel der Zusammenlegung von Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfekonstruktion gewesen.
    Auf der anderen Seite gibt es die Frage der Solidarität, wo sagt, ich bin bereit, anderen beizustehen, ich versuche, eine Art von Kampfgemeinschaft gegen Bedrohungen von außen zu bilden, und beides ist offenbar für eine Gesellschaft wichtig. Das in der Zivilgesellschaft verankerte Solidaritätsempfinden, dass man im Zweifelsfall sich auf andere verlassen kann, und die Vorstellung, dass es eine Idee gibt, nach der Anrechte bemessen werden, dass ich nicht auf Gnade angewiesen bin, sondern dass ich Anrechte am gesellschaftlichen Ganzen habe, dieser Raum ist offenbar gestört, weil die soziale Gerechtigkeit sich für manche als eine kalte Prozedur entpuppt, die sagt, Du kriegst das und das kriegst Du nicht mehr und musst jetzt selbst sehen, wie du weiterkommst, und auf der anderen Seite ein leerlaufender hilfloser Begriff der Solidarität, der keine sozialdemokratisch, christdemokratisch, liberale oder wie auch immer sozialistische Füllung mehr hat.
    Kapern: Der Soziologe Heinz Bude heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Herr Bude, danke für Ihre Zeit, danke für Ihre Erläuterungen. Einen schönen Tag!
    Bude: Ich danke Ihnen, Herr Kapern.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.