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Rechtsprechung
Vom Sinn der Strafe

Auge um Auge – Zahn um Zahn: Bei der "gerechten" Strafe stand jahrhundertelang Rache und Vergeltung im Mittelpunkt. Doch welche Strafe wirklich sinnvoll ist, hat sich von Epoche zu Epoche verändert und sorgt in verschiedenen Bereichen der Wissenschaft immer wieder für Diskussionen.

Von Alfried Schmitz | 30.07.2015
    Ein Zellenschlüssel ist in der neuen Dauerausstellung im ehemaligen Gefängniskomplex am 27.11.2013 in Cottbus (Brandenburg) zu sehen.
    Ein Zellenschlüssel steckt in einer Gefängnistür. (picture alliance / dpa / Patrick Pleul)
    "Idealerweise wäre die Welt so gestaltet, dass die reine Strafankündigung ausreicht, um Menschen davor zu bewahren, eine Straftat zu begehen und um andere Menschen davor zu schützen, Opfer zu werden."
    Sagt Holger Zaborowski. Er ist Professor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Da es diesen, von ihm beschriebenen, Idealzustand jedoch nicht gibt, da Menschen gesellschaftliche Normen und Regeln brechen und Straftaten begehen, wird versucht, ...
    "... mögliche Straftäter abzuschrecken und die Gesellschaft vor diesen Straftätern zu schützen."
    Das Prinzip der Abschreckung wurde von dem Rechtsgelehrten Paul Johann von Feuerbach schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seiner psychologischen Zwangs- beziehungsweise Abschreckungstheorie entwickelt.
    Bestrafung nur mit gültigem Gesetz
    Alleine durch die Androhung einer möglichen Bestrafung sollten Straftaten schon im Vorfeld verhindert werden. Zu seinen aufklärerischen Ideen gehörte auch seine Forderung: nulla poena sine lege. Demnach sollte es keine Bestrafung ohne gültiges Gesetz geben. Ein Grundsatz, der zu einem der Kernelemente des deutschen Strafrechts wurde und der folgende Punkte voraussetzt:
    • Die entsprechenden Gesetze müssen allgemein bekannt sein.
    • Die Tatbestände müssen klar formuliert sein.
    • Die Unrechtsfolgen, also die aus dem Verbrechen resultierende mögliche Bestrafung, müssen von vornherein feststehen.
    "Die klassische Logik des Strafrechtes besteht darin, dass individuelle Schuld aufgearbeitet und ausgeglichen werden soll. Schuld orientiert sich an den ethisch, moralischen Grundmaßstäben einer Gesellschaft, die wiederum dazu führen, dass bestimmte Tatbestände, Rechtsgüter in das Strafrecht hineingenommen werden."
    Professor Michael Kubink. Der Kriminologe lehrt an der Universität zu Köln. Als Beispiele für Tatbestände, die wichtigste Rechtsgüter sichern, sind die Strafgesetzbuchparagrafen 211, Mord, der mit lebenslanger Haft, 212, Totschlag, der mit mindestens fünf Jahren Freiheitsentzug und 223, Körperverletzung, der mit bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug droht. Diese drei Paragrafen sollen die elementarsten Rechtsgüter eines Menschen, nämlich sein Leben und seine gesundheitliche Unversehrtheit, schützen.
    "Und wenn jemand individuell durch eine Straftat dagegen verstößt, geht es darum, ein moralisches Unwerturteil zu treffen. Und die Strafe will praktisch diesen Moralverstoß ausgleichen und will in der eher neueren Denkart versuchen, dass ein entsprechender Moralverstoß nicht erneut begangen wird."
    Neben seiner Lehrtätigkeit ist Kubink der Justizvollzugsbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen und erfüllt als solcher zwei wichtige Funktionen. Er ist Ombudsmann für die rund 15.000 Häftlinge und die rund 9.000 Bediensteten der Justizvollzugsanstalten des zahlenmäßig größten Bundeslandes. Und er ist als Wissenschaftler wichtiger Berater des Landesjustizministeriums im Hinblick auf die Umsetzung neuer Konzepte und Weiterentwicklungen im Strafvollzug. Ein Arbeitsfeld, bei dem der Jurist Michael Kubink auch den Blick auf andere wissenschaftliche Fachbereiche für immanent wichtig hält.
    "Strafrecht ist eine Bündelung von einerseits philosophischen-rechtlichen Fragestellungen und Legitimationen und, neuer gedacht, von empirischen Wissenschaften und entsprechenden Denkzusammenhängen im Sinne von kriminologischen, soziologischen hintergrundbildenden Zusammenhängen, die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt skizzieren."
    Aufklärung brachte neue Ideen
    Besonders das Zeitalter der Aufklärung brachte viele neue Ideen und Anstöße, die vor allem aus dem sozialwissenschaftlichen Bereich kamen und die im Laufe des 19. Jahrhunderts weiterentwickelt und umgesetzt wurden. Legislative und Judikative passten sich immer mehr dem neuen Zeitgeist der sozialstaatlich geprägten Industriegesellschaft an, in der wichtige Reformen, wie die Sozialgesetzgebung, auf den Weg gebracht wurden. Im Zuge dieses gesellschaftlichen Umschwungs entstand die moderne Strafrechtsbewegung mit neuen psychologischen und soziologischen Ansätzen.
    "Die Entwicklungen, die für den Strafvollzug oder insgesamt für das Strafrecht maßgeblich sind, waren eingebettet in einen neuen Zeitgeist. Man kann da enge Zusammenhänge zwischen Rechtsentwicklung und straftheoretischen Ansätzen und allgemeinen sozialtheoretischen und gesellschaftpolitischen Entwicklungen im Hintergrund dessen wahrnehmen."
    Einer der Protagonisten dieser modernen Strafrechtsbewegung Ende des 19. Jahrhunderts war der Rechtsgelehrte Franz von Liszt. Der nahe Verwandte des berühmten Komponisten gleichen Namens wurde 1851 in Wien geboren. Von Liszt lehrte in Berlin und Marburg Völker- und Strafrecht und gehörte als modern denkender Mensch der Fortschritts-Partei an und hatte einen Sitz im Preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag.
    "Der hat die Wende praktisch mit hervorgerufen, von dem sogenannten klassischen Strafrecht, das maßgeblich Schuldbezogen ausgerichtet war, also rückblickend in einer Verarbeitung dessen, was man dem Individuum vorwerfen konnte, hin zu einem modernen Strafrecht, präventionsorientiert, zweckorientiert mit der Blickrichtung nach vorne schauend. Also dass ein Rückfall vermieden werden soll, dass neue Auffälligkeiten vermieden werden sollen."
    Resozialisierung als wichtiger Bestandteil
    Nicht der Vergeltungs- und Racheaspekt sollten nach dieser neuen Auffassung im Vordergrund stehen, sondern eine gelungene Resozialisierung des Täters, wie sie auch im heutigen Strafvollzug an erster Stelle steht. Der von Professor Kubink erwähnte Schuldbegriff ist Voraussetzung für eine Bestrafung. Im Strafrecht geht man davon aus, dass nur eine einzelne Person für ihre Schuld einzustehen hat und ihr die Schuld anderer nicht zurechenbar ist. Kollektivschuld oder Sippenhaft gibt es im modernen Rechtsstaat nicht.
    Schuldhaftes Handeln liegt vor, wenn es eine Alternative zur Tat gegeben hätte. Schuld und eine daraus resultierende Bestrafung setzt also die Willensfreiheit des Menschen voraus. Ob der Mensch jedoch wirklich frei in seiner Entscheidung ist, wird zum Beispiel vom Philosoph und Hirnforscher Gerhard Roth widersprochen. Er sagt, dass man wegen aktueller neurologischer Erkenntnisse auf den Begriff der Willensfreiheit verzichten und die Idee der Verantwortung neu interpretieren müsse.
    "Dann stellt sich natürlich die Frage, ist denn dann Bestrafung überhaupt noch notwendig. Kollabiert, wenn der Mensch nicht mehr frei ist, nicht auch unser Verständnis von Recht und Strafe und Schuld, da dieses doch voraussetzt, dass Menschen frei etwas tun. Müsste man dann nicht sagen, dass dann eigentlich der Rechtsbereich mit dem Bereich der Medizin, der Psychiatrie übereinstimmt, sodass man dann nicht von Strafe sprechen müsste, sondern von Behandlung."
    Seit Jahrhunderten in der Diskussion
    Sagt Professor Holger Zaborowski von der philosophisch-theologischen Hochschule Vallendar. Die Thematik um Schuld, Strafe und Vergeltung hat über die Jahrhunderte auch immer in der Philosophie für Diskussionsstoff gesorgt und verschiedene Theorien hervorgebracht.
    "Die Straftheorie, in der zum einen, die Vergeltung im Vordergrund steht. Also die Idee, dass es Gerechtigkeit gibt und dass diese Gerechtigkeit auch wieder hergestellt werden muss. Das ist eine sehr klassische Theorie, die sie bei Kant finden aber auch bei Hegel und die anknüpft an klassisches biblisches Verständnis von Straftheorie oder ein Verständnis, das sich auch im römischen Recht entwickelt hat."
    Prof. Kubink: "Bei Kant gab es den Ansatz des kategorischen Imperativs, dass man sich so verhalten soll, wie man es von anderen auch erwarten würde. Und das ist natürlich die Idee, die auch in ihrer Absolutheit der Forderung von Strafen gegenüber Rechtsabweichlern auch einen theologischen Hintergrund hat. Die Absolutheit von gewissen Normsetzungen, die man auch nicht durch soziale Zusammenhänge negieren kann. Also ein Kant würde sagen, ein Totschläger, ein Mörder, wenn er alleine auf einer Insel ist und seinen Mitausgesetzten umgebracht hätte, müsste auch dann bestraft werden, wenn niemand anders künftig in Gefahr wäre."
    Strafe um der Strafe willen also. Der Aspekt der Vergeltung stand bei Kant eindeutig vor der Verhütung weiterer Straftaten, vor dem Präventionsmandat, wie es das heutige moderne Strafrecht und der Strafvollzug vorsehen. Der Philosoph und Theologe Holger Zaborowski sieht in dem Bedürfnis nach Vergeltung ein menschliches Ur-Phänomen, das bis weit in die Antike zurückreicht.
    "Auge um Auge, diese Formel besagt, das, was einem anderen angetan wurde, muss durch eine vergleichbare oder gleiche Tat gerächt oder gesühnt werden, sodass dann die Ordnung wieder in der Waage ist. Man nimmt auf der einen Seite etwas, das muss dann auch auf der anderen Seite genommen werden. Auge um Auge."
    "... so sollst du geben Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme."
    Dieser viel zitierte Satz war für das Volk Israel geltendes Recht und wurde auch von den Römern, im sogenannten Talionsrecht, im jus talionis, angewendet. Oberster Grundsatz war dabei, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.
    Codex bereits durch König Hammurabi
    Der berühmte babylonische König Hammurabi, der von 1792 bis 1750 vor Christus regierte, erarbeitete für seinen berühmten Codex 282 Paragrafen, die er in eine Stele meißeln ließ und seinen Untertanen öffentlich zugänglich machte. Auch Hammurabi setzte bei seiner Rechtsprechung auf den Grundsatz der Vergeltung.
    "Gesetzt, ein Mann hat das Auge eines Freigeborenen zerstört, so wird man sein Auge zerstören ... Gesetzt, ein Mann hat einem anderen, ihm gleichstehenden Manne einen Zahn ausgeschlagen, so wird man ihm einen Zahn ausschlagen ... Gesetzt, er hat ein Auge eines Hörigen zerstört oder den Knochen eines Hörigen gebrochen, so zahlt er eine Mine Silber."
    Hammurabi machte in seiner Rechtsprechung zwar Unterschiede zwischen den verschiedenen Ständen, dass er aber Hörigen, also Sklaven, überhaupt bei an ihnen begangener schwerer Körperverletzung, den Anspruch auf eine finanzielle Entschädigung einräumte, kann man durchaus als modern für die damalige Zeit bezeichnen. Hammurabi wollte mit seinem Gesetzestext auch dem bis dahin weit verbreiteten Prinzip von Selbstjustiz und Blutrache ein Ende bereiten, wie der Theologe und Philosoph Holger Zaborowski darlegt.
    "Selbst diese Regel Auge um Auge, ist ja schon eine Form der Humanisierung des Verhältnisses zu einem Straftäter. Denn wenn wir von Rache reden, ist es ja gerade oft eine Rache, die maßlos wird. Die eine kleine Straftat mit einer viel größeren Tat vergelten will. Und hier ist eben wichtig, zu sehen, dass allein schon diese Idee, dass es ein Gleichmaß gibt, eine gewisse Humanisierung mit sich bringt."
    Strafe und Bestrafung sind nicht nur Begrifflichkeiten, die in der säkularen Welt von Bedeutung sind. Betrachtet man Vergangenheit und Gegenwart, dann sahen beziehungsweise sehen sich Mitglieder von verschiedenen Kultur- und Glaubensgruppen oft der Bestrafung Gottes oder der Bestrafung durch Gottheiten ausgesetzt.
    Prof. Zaborowski: "Das hängt sicherlich sehr stark damit zusammen, dass traditionellerweise die Moral sehr stark mit der Religion verbunden ist und auch sehr stark religiös begründet wurde. Dann ist nämlich ein moralischer Verstoß auch einer gegen die göttlichen Gebote, einer gegen eine göttliche oder religiöse Weltordnung. Und man hat auch in einer sehr ursprünglichen Erfahrung bestimmte Naturgewalten als Strafen der Götter verstanden, weil man die Vorstellung entwickelt hat, dass Menschen, sich in eine Ordnung einzufügen haben. Das Wort Kosmos drückt ja diese Ordnung aus. Dass der Kosmos selbst eine Ordnung ist, der man genügen muss. Und wenn das nicht geschieht, wenn man diese Ordnung überschreitet, erfolgt eine Strafe durch die Götter."
    Religion über die Rolle von Schuld
    Schuld und Sünde, Buße und Sühne, Vergebung und Vergeltung sind Begriffe, die in der Religionswissenschaft untersucht und analysiert werden. Der Theologe und Philosoph Holger Zaborowski ist in seiner wissenschaftlichen Arbeit und in seiner Lehrtätigkeit der Frage nachgegangen, welche Bedeutung die Bestrafung in der neueren Religionsauffassung hat.
    "Das zentrale oder wichtige Moment beim Umgang mit Sünde ist ja nicht eine äußere Bestrafung, sondern eine innere Wandlung. Ich kann da nicht äußerlich sagen, ich habe etwas Böses gemacht und erhalte eine Strafe, mit der ich die Ordnung der Gerechtigkeit wiederherstelle. Eine der ganz radikalen Revolutionen, die mit dem Christentum einhergehen, betrifft diese Wende zur Innerlichkeit. Eine innere Auseinandersetzung mit dem, was man gemacht hat, eine innere Versöhnung mit dem Menschen, dem man etwas angetan hat. Und das setzt ein ganz anderes Verständnis von Strafe voraus, weil es hier letztendlich um die Versöhnung des Menschen mit Gott, aber auch des Menschen mit anderen Menschen und mit sich selbst geht."
    In einer Schuldbewertung und einer daraus resultierenden Strafe sieht Professor Zaborowski eine permanente Herausforderung an die Menschen und Institutionen, die Strafen zu verhängen haben. Ob es nun Eltern, Pädagogen oder Richter sind.
    "Man muss an die Kontexte dieser Straftat denken, man muss an die Folgen für die Öffentlichkeit denken, man muss auch an den konkreten Straftäter, an die Situation denken. Und dann merkt man relativ schnell, dass das etwas ist, was eine enorme Sensibilität und auch eine enorme hermeneutische Aufgeschlossenheit verlangt. Nämlich zu fragen, was ist in dieser Situation angemessen, wie kann man dem, was aus der Sicht des Opfers, der Gesellschaft, des Gesetzgebers, der Rechtsordnung, notwendig ist, umsetzen."