Donnerstag, 18. April 2024

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Rechtsstaatlichkeit
"Das ist die Umkehrung unseres Rechtssystems"

Die SPD-Politikerin Gesine Schwan hat vor Tendenzen gewarnt, das Prinzip des Rechtsstaates auch in Deutschland außer Kraft zu setzen. Ein Blick nach Bayern, wo das Kabinett festgelegt habe, dass Richter Verdächtige vorbeugend und unbegrenzt in Haft nehmen könnten, zeige, dass kriechend die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit angeknabbert würden, sagte Schwan im DLF.

Gesine Schwan im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 01.03.2017
    Gesine Schwan in schwarzer Kleidung mit buntem Halstuch vor schwarzem Hintergrund.
    Gesine Schwan: "Demokratie heißt nicht einfach machen, was die Mehrheit will, sondern sich an eine Verfassung halten." (imago/IPON)
    Ann-Kathrin Büüsker: 13 Tage Polizeigewahrsam, seit Montagabend nun Untersuchungshaft. Der Journalist Deniz Yücel ist in der Türkei wegen Terrorpropaganda in Untersuchungshaft. Er teilt damit das Schicksal von etwa 150 anderen Journalistinnen und Journalisten. Er hat aber immerhin das Glück, dass er auch die deutsche Staatsbürgerschaft hat und hier aus Deutschland eine Welle der Solidarität erlebt, auch von Teilen der Politik.
    Pressefreiheit gilt in unserer modernen liberalen Welt ja als ein wichtiger Wert demokratischer Gesellschaften, und doch wird diese Pressefreiheit in letzter Zeit immer wieder angegriffen, jetzt in der Türkei, in Polen, in Ungarn, in Russland und zuletzt auch in den USA. Demokratisch gewählte Regierungen, die mit den Instrumenten des demokratischen Staates gegen Freiheiten agieren. Das klingt jetzt ein bisschen sehr akademisch, ich weiß, aber es betrifft uns letztlich alle, denn es geht ja auch um Meinungsfreiheit. Deshalb wollen wir dieses Thema hier im Deutschlandfunk vertiefen im Gespräch mit Gesine Schwan, Politikwissenschaftlerin, SPD-Mitglied, zweifache Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin und aktuell Präsidentin der Humboldt-Viadrina Governance Platform. Guten Morgen, Frau Schwan.
    Gesine Schwan: Einen schönen guten Morgen.
    Büüsker: Frau Schwan, müssen wir uns damit abfinden, dass solche Angriffe auf unsere Freiheiten langsam zum Alltag werden?
    Schwan: Nein, das dürfen wir ganz und gar nicht, und ich habe in der Anmoderation gehört, dass demokratisch gewählte Regierungen mit demokratischen Mitteln das tun. Das erste ist sicher richtig, sie sind demokratisch gewählte Regierungen. Aber es sind nicht demokratische Mittel, die da angewandt werden, weil im Grunde die jeweiligen Verfassungsbestimmungen außer Kraft gesetzt werden. In Polen sind es auch nicht demokratische Mittel, weil man im Grunde gegen die Verfassung und gegen das Recht des dortigen Verfassungsgerichts dagegen angeht.
    Büüsker: Wenn wir jetzt auf die Türkei schauen, da argumentieren AKP-Abgeordnete, dass ja über die Untersuchungshaft von Deniz Yücel ein Gericht entschieden hat und nicht die Regierung, und ein Gericht ist ein Element des demokratischen Staates.
    "Es ist ja offenkundig, dass die Richter und die Gerichte nicht mehr unabhängig sind"
    Schwan: Das ist richtig. Aber man erkennt daran, dass die demokratischen Mittel mehr verlangen, nämlich die Unabhängigkeit der Gerichte, und das ist genau die Grauzone, die dann ausgenutzt wird, weil es ja offenkundig ist, dass die Richter und die Gerichte nicht mehr unabhängig sind. Sonst könnte man ja nicht nachvollziehen, dass so viele entlassen worden sind.
    Aber Sie haben ja völlig Recht. Es gibt da eine schiefe Ebene, die entstehen kann. In der deutschen Geschichte ist es ja immer wieder gefragt worden, wie es denn passieren konnte, dass aus der Weimarer Republik dann eine nationalsozialistische Diktatur werden konnte. Es gibt schiefe Ebenen und das Problem besteht, dass letztlich nicht einzelne Gesetze oder Institutionen den Rechtsstaat retten können, sondern nur der Mut der Bevölkerung. Das muss man schon so sagen. Es gibt da sogar in der Ideengeschichte ein berühmtes Beispiel, dass bei den Vorbereitungen auf die amerikanische Verfassung es die Frage war, wie können wir Gewaltenverklumpung, wie können wir Willkür verhindern. Und die Aussage ist dann, letztlich kann es nur der mutige Geist, der männliche Geist, heißt es dann bei den federal papers, der dagegen ansteht. Es ist jetzt alles zu tun, dass deutlich wird in jeder einzelnen Handhabung, bei jeder öffentlichen Aktion, dass man sich das nicht bieten lassen darf.
    Büüsker: Sie sprechen vom Mut der Bevölkerung. Aber wenn wir in die Türkei schauen, Erdogan ist gewählt, eine Mehrheit der Bevölkerung steht hinter ihm und auch hinter seinen Reformen.
    Schwan: Ja, und das ist das zweite Problem, dass wir in unseren Verfassungsdebatten und auch in anderen ja wissen, dass Demokratie zwar wörtlich übersetzt Herrschaft des Volkes heißt, dass es aber keineswegs so ist, dass auch die einfache Mehrheit eines Volkes das Recht hätte, in einer Demokratie die demokratischen Grundsätze außer Kraft zu setzen. Deswegen haben wir zum Beispiel bei uns im Grundgesetz die Artikel eins und 20, die nicht außer Kraft gesetzt werden dürfen. Das heißt: Demokratie heißt nicht einfach machen, was die Mehrheit will, sondern sich an eine Verfassung halten, die zum Beispiel auch die Minderheiten schützt. Aber es ist wahr: Etwa die Strategie in Polen geht dahin, genau diesen Grundsatz der Verfassung, dass nicht einfach die Mehrheit machen kann was sie will, aufzubrechen.
    Büüsker: Wenn wir diesen Gedanken weiterdenken, dann wäre die Einführung des Präsidialsystems in der Türkei etwas zutiefst Undemokratisches?
    "Das ist dann die Umkehrung unseres Rechtssystems"
    Schwan: Ja, denn es ist ja in diesen Präsidialsystem vorgesehen, dass wichtige grundsätzliche Verfassungsrechte des Parlaments an den Präsidenten übergehen sollen. Das heißt, es ist da auch vorgesehen, die Gewaltenteilung noch mehr aufzuheben, selbst wenn sich dann solche Institutionen mit demokratischen Namen benennen. Das war übrigens in der DDR auch so. Das waren ja alles demokratische Namen und die Verfassung der DDR konnte man über weite Teile wie eine demokratische Verfassung lesen, nur dass dann vor der Klammer stand – das Ganze war in Klammern -, dass die Herrschaft der Partei das Entscheidende ist. Und so ist es auch mit anderen Verfassungen. Man muss genau hinschauen und dass da demokratische Bezeichnungen stehen heißt noch lange nicht, dass der Grundsatz der Gewaltenteilung der Rechtsstaatlichkeit wirklich anerkannt wird.
    Aber ich möchte mal darauf hinweisen, dass es nicht nur in anderen Staaten in Osteuropa, jetzt zum Beispiel in Ungarn gezielte Tendenzen gibt, dieses Prinzip des Rechtsstaats außer Kraft zu setzen. Wenn ich jetzt lese, dass zum Beispiel in Bayern das Kabinett festgelegt hat, dass ein Richter inzwischen vorbeugend Menschen in Haft nehmen kann, und zwar ohne zeitliche Begrenzung, dann ist das die Umkehrung unseres Rechtssystems. Dann ist das die Umkehrung des Imperativs, der im Zweifel für den Angeklagten zu sprechen ist. Hier ist im Zweifel gegen den Verdächtigten gesprochen. Das heißt, wir sehen, dass kriechend die Grundsätze des Rechts, der Rechtsstaatlichkeit und damit der demokratischen Verfassung auch bei uns angeknabbert werden.
    Büüsker: Maßnahmen, die Sie kritisieren, die aber nach wie vor auch Mehrheiten finden. Müssen wir uns dann vielleicht auch einfach damit abfinden, dass es immer mehr Menschen gibt, denen demokratische Werte nicht so wichtig sind?
    "Eine Demokratie kann nicht gegen die Gesellschaft gerettet werden"
    Schwan: Na ja, das ist natürlich eine Grundfrage. Wenn wir jetzt annehmen, dass es einer Mehrheit der Gesellschaft egal ist, dann ist in der Tat die Demokratie in Gefahr. Eine Demokratie kann nicht gegen die Gesellschaft gerettet werden und deswegen ist es auch immer so wichtig gewesen, innerhalb der Gesellschaft aktiv zu sein, nicht nur politische Bildung zu betreiben, sondern auch aktiv zu diskutieren und Dinge aufzudecken. Aber Sie haben schon Recht: Es gibt keine absolute Sicherheit dafür, die Demokratie zu retten, wenn die Mehrheit der Gesellschaft kein Interesse daran hat.
    Büüsker: Ich würde gerne mit Ihnen noch mal zurück zum Thema Türkei und Präsidialsystem. Sie haben die Einführung kritisiert. Sie haben aufgezeigt, was es nach sich ziehen würde. Unter diesen Voraussetzungen, darf die Bundesregierung zulassen, dass Erdogan nach Deutschland kommt und hier für die Einführung des Präsidialsystems wirbt?
    Schwan: Das eine wird sein, dass man genau rechtlich beachtet, was die Bundesrepublik machen darf und was sie nicht machen darf. Dann muss sie sich ihrerseits ans Recht halten. Das zweite sind die politischen Fragen und hier bekommt man jetzt den unguten Eindruck, dass die Bundesregierung auch unter dem Opportunitätsgesichtspunkt diskutiert, ob ihr Flüchtlingsabkommen darunter vielleicht leiden könnte. Und das ist genau der Punkt, den man und auch ich selbst oft kritisiert hat an diesem Flüchtlingsabkommen, dass man sich doch abhängig macht. Man muss natürlich auch andere Opportunitätsgesichtspunkte erwägen, aber ich glaube, dass in diesem Fall es sehr angebracht wäre, alle Mittel zu erwägen zu verhindern, dass Erdogan nach Deutschland kommt.
    Büüsker: Aber dann geben wir ihm Munition, dass er argumentieren kann, dass Deutschland ihn undemokratisch behandelt.
    Büüsker: Nein. Das hängt davon ab, wieweit wir alle Gesetze und Rechtlichkeiten beachtet haben. Das habe ich ja als Vorbedingung gestellt. Und ich muss auch wirklich sagen: Die Frage ist ja gar nicht, ob Erdogan wirklich glaubt, dass da demokratische Mittel eine Rolle spielen, sondern ob er meint, dass er die Öffentlichkeit manipulieren kann, und das hängt dann davon ab, wie die Bundesregierung genau erklärt, wenn sie es kann, warum sie ein Einreiseverbot erklärt. Aber ich kann von mir aus jetzt nicht sagen, ob das rechtlich möglich ist.
    Büüsker: Sie haben eben erläutert, warum Demokratie nur aus dem Inneren der Gesellschaft heraus gerettet werden kann. Es braucht den Mut der Bevölkerung, haben Sie gesagt. Was hilft dann der Druck von außen auf die Türkei?
    "Das ist auch eine Opportunitätsüberlegung"
    Schwan: Er hilft deswegen, weil Erdogan ja nicht in erster Linie über mutige Zeugnisse beeindruckt wird, sondern ganz klar kalkuliert, wo sind Vor- und Nachteile in meinem Interesse der Machtdurchsetzung. Das ist die Frage. Das muss man genau schauen, ob ihn das beeinträchtigen kann. Ob ihn das intern eventuell stärkt, das ist auch eine Opportunitätsüberlegung, wenn er nicht nach Deutschland gelassen wird, dass dann seine Anhänger intern daraus ein positives Zeichen für sich setzen können und Vorteile im Wahlkampf ziehen können. Das sind alles Dinge, die man nur beurteilen kann, wenn man ganz genau zum Beispiel die Stimmung intern in der Türkei kennt. Deswegen ist letztlich eine solche Entscheidung auch immer mit Risiken behaftet, das ist ganz klar. Das geht gar nicht ohne. Ich weise nur noch mal darauf hin: Es darf nicht der Opportunitätsgesichtspunkt die entscheidende Rolle spielen, ob man sich in Bezug auf dieses Flüchtlingsabkommen, diesen Flüchtlingsdeal negative Konsequenzen einhandelt.
    Büüsker: Wenn wir noch mal konkret auf den Fall Deniz Yücel schauen. Muss die Bundesregierung da mehr Druck ausüben, um ihn freizubekommen?
    Schwan: Ich habe den Eindruck, dass die Bundesregierung jedenfalls in der Person des Außenministers schon sehr schnell zu den fast höchsten Instrumenten gegriffen hat, die man haben kann: den Botschafter einbestellen, öffentlich sich dazu zu äußern.
    Büüsker: Es war keine Einbestellung, es war ein Gespräch.
    Schwan: Ach, nur ein Gespräch. Gut. Aber das kann man dann natürlich steigern. Aber die öffentliche Wirkung ist ja doch die, dass der Botschafter zitiert wird sozusagen. Es ist ja eine kurzfristige Einladung. Sicher: In der diplomatischen Abstufung könnte man das noch steigern. Da bin ich aber nicht so sicher, dass das jetzt eine entscheidende zusätzliche Wirkung ausüben würde auf die türkische Regierung.
    Büüsker: So die Position von Gesine Schwan. Wir haben über den Fall Deniz Yücel und die weltweiten Angriffe auf liberale Werte gesprochen. Danke für das Gespräch, Frau Schwan.
    Schwan: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.