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Rechtsstreit
Das Bangen um den Einzug ins Europaparlament

Die Dreiprozenthürde, die der deutsche Gesetzgeber für die Europawahl im Mai festgelegt hat, bereitet den kleinen Parteien Sorge und Hoffnung zugleich. Wird sie noch rechtzeitig vom Bundesverfassungsgericht für unzulässig erklärt, wie seinerzeit die Fünfprozenthürde?

Von Susanne Grüter | 09.01.2014
    "Ja, wenn jetzt die Dreiprozenthürde fällt, dann hauen wir auch richtig rein für den Europawahlkampf, ne."
    Fällt die Dreiprozenthürde, wäre das für Johannes Bombeck, Stefan Krix und Marianne Dominas wie ein Lottogewinn. Noch aber machen sich die drei Bottroper ÖDP-Mitglieder Sorgen. Stefan Krix, Bezirksvertreter:
    "Für unseren Wahlkampf bedeutet das natürlich, dass wir so langsam mal eine Planungssicherheit brauchen. Wir haben Ende Mai die Wahl, und wir müssen natürlich unsere ganzen Werbematerialien, Poster, Flyer etc. vorbereiten, und es macht schon einen Unterschied, ob wir sagen können, dass wir tatsächlich auch eine Möglichkeit haben, in das Parlament zu kommen."
    Eine Sperrklausel verletze den Grundsatz der Chancengleichheit, sagt Stefan Krix. Deshalb habe das Bundesverfassungsgericht 2011 die Fünfprozenthürde bei Europawahlen auch für verfassungswidrig erklärt. Auf kommunaler Ebene wurde sie in Nordrhein-Westfalen aus gleichem Grund schon 1999 abgeschafft. Wie eine Hürde das Wählerverhalten beeinflusst, weiß die ÖDP nur zu gut. Johannes Bombeck, Kreisvorsitzender und Europa-Kandidat:
    "Wir machen hier bei den Kommunalwahlen zum dritten Mal hintereinander über sechs Prozent, aber wenn hier Bundestagswahl ist, dann haben wir hier ein Nullkomma-Ergebnis. Also die Erststimmen sind drei, viermal so hoch, aber bei den Zweitstimmen machen wir halt ein relativ schlechtes Ergebnis, und dann machen die Leute eben schon einen Unterschied, weil sie Sorge haben, dass ihre Zweitstimme verloren ist."
    Hürde soll zersplittertes Parlament unterbinden
    "Ich denke, wir sind eine Gesellschaft, die hat eben sehr, sehr viele Meinungen, die sehr viele Positionen enthält, und das muss sich im Parlament widerspiegeln, wenn wir von Demokratie sprechen, und dementsprechend dürfen eigentlich keine Stimmen unter den Tisch fallen", meint Marianne Dominas, ÖDP-Fraktionssprecherin im Stadtrat. Bei der Europawahl 2009 blieben sieben deutsche Parteien unberücksichtigt, die ohne die Fünfprozent-Klausel einen Sitz in Brüssel bzw. Straßburg bekommen hätten. Immerhin 2,8 Millionen Stimmen – futsch.
    Allgemein soll eine Hürde unterbinden, dass zu viele Parteien ein Parlament zersplittern und damit eine stabile Regierungsbildung verhindern - wie in der Weimarer Republik. Dieses Argument ließen die Karlsruher Richter für den Deutschen Bundestag gelten, nicht aber für das Europäische Parlament. Begründung: Dieses wähle keine Regierung und benötige daher entsprechende Mehrheiten nicht. Doch es kam anders.
    "Plötzlich in einer halben Nacht- und Nebelaktion vor halb leerem Bundestag wird beschlossen, wieder eine Dreiprozent-Hürde einzuführen…"
    "Halb leerem? Ganz leerem!"
    "…ganz leerem, ja ok!"
    "…da waren keine 30 Leute da."
    Der Bundestag führt zwei Gründe dafür an: Das Europaparlament selbst habe allen EU-Mitgliedern empfohlen, eine Dreiprozentklausel einzuführen. Außerdem bekomme das Parlament immer mehr Befugnisse. Deshalb sei das Karlsruher Urteil nicht länger bindend. Thomas Strobl, stellvertretender CDU-Chef und Vorsitzender des Bundestags-Wahlprüfungsausschusses:
    "Es gibt eine ständige verfassungsrechtlich aufgetragene Beobachtungs- und Anpassungspflicht für den nationalen Gesetzgeber, und das hat der Deutsche Bundestag wahrgenommen, in dem er beobachtet, das Parlament nimmt an Bedeutung zu, und deswegen wollen wir der Zersplitterung des Parlaments entgegenwirken und wollen die Arbeitsfähigkeit des Parlaments für die Zukunft sicherstellen."
    Unterschiedliche Auffassungen zur Dreiprozenthürde
    Im Europaparlament gibt es zur Zeit 162 Parteien. Ohne Hürde in Deutschland wären es 169 gewesen. Stefan Krix:
    "Ich kann es wirklich nicht erkennen, dass das die Funktionsfähigkeit des Europaparlaments in irgendeiner Weise tatsächlich beeinflussen würde. Ich sehe jetzt auch wirklich nicht, warum erweiterte Kompetenzen eines Parlaments ein Grund sein sollten, weniger Parteien zuzulassen. Welche Kompetenzen sind denn jetzt neu dazugekommen, dass man wirklich sagen kann, Demokratie wäre für diese Kompetenzen schädlich?"
    "Wir würden mit anderen Parteien eine Fraktion bilden, um eine Arbeitsfähigkeit herzustellen. Es macht nicht Sinn, als Einzelkämpfer da in Brüssel mal ab und an ne knackige Rede da zu halten, sondern es geht ja auch darum, in den verschiedenen Bereichen mit zu arbeiten, und das würden wir dann da auch tun."
    "Die das sagen, sind natürlich die von den großen Parteien. Die wollen die Konkurrenz nicht, und die wollen genau diese Schwächen, dass die Leute dann sagen, wir wählen euch nicht, weil unsere Stimme dann weg ist, genau diesen Vorteil wollen die ja nicht verlieren, und deswegen kommen die immer wieder mit diesem Argument. Das ist doch ganz logisch."
    ÖDP hofft auf Einzug ins Europaparlament
    Der Rechtswissenschaftler Bernd Grzeszick von der Universität Heidelberg, der als Sachverständiger vom Bundestag gehört wurde, hält es für falsch, die Sperrklausel abzuschaffen.
    "Die legitime Repräsentation deutscher Interessen auf der europäischen Ebene, die wird massiv geschwächt, weil wichtig ist, dass im Europäischen Parlament die Parlamentarier, wenn sie Sachfragen haben, bei den Parlamentariern der Parteien in den nationalen Vertretungen fragen können: welche Erfahrungen habt ihr, welche Anliegen habt ihr, welche Interessen habt ihr? Und dazu bedarf es der politischen Rückkoppelung. Die fehlt, wenn es Kleinstparteien sind, die in den nationalen Parlamenten nicht vertreten sind."
    Was die Bottroper Mitglieder aber hoffen lässt, sogar Experten des Bundesinnenministeriums hatten dem Bundestag geraten, die Finger von einer Dreiprozenthürde zu lassen. Denn die Verfassungsrichter hätten nicht nur die Fünfprozent-Hürde verworfen, sondern dem Sinn nach jede Beschränkung.
    "Für uns ergibt sich eigentlich im Prinzip kein großartiger Unterschied zu 2011, und deswegen sehen wir da also eine ganz gute Chance, dass wir sagen, das Gericht wird das auch wieder kippen."

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