Dienstag, 19. März 2024

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Rechtsstreit um Richterarbeit
"Er arbeitet anders - und das muss durch die Gerichtsverwaltung akzeptiert werden"

Der Fall hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt: Thomas Schulte-Kellinghaus, Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe, hatte sich mit einer Klage gegen den Vorwurf gewehrt, zu wenig Fälle zu erledigen. Bald wird der Fall vor dem Bundesgerichtshof verhandelt. Carsten Schütz, Direktor des Sozialgerichts in Fulda, sagte im Dlf, er halte den Vorwurf für nicht angebracht.

Carsten Schütz im Gespräch mit Christoph Heinemann | 22.02.2018
    Eine Statue der Justitia
    Die Figur der Gerechtigkeit Justizia (dpa / picture alliance / David Ebener)
    Christoph Heinemann: Schwert, Waage und Augenbinde, das Rüstzeug der Justizia, der Göttin der Gerechtigkeit, steht für die Durchsetzungsfähigkeit des Rechts, das sorgfältige Abwägen und die Rechtsprechung ohne Ansehen der Person. Kritiker meinen: Schaut man sich den Alltag in deutschen Gerichten an, müsste man Justizia mit einer Stoppuhr ausrüsten.
    Ein Richter, der in der Freiburger Außenstelle des Oberlandesgerichts Karlsruhe arbeitet, hat sich deshalb in einen Rechtsstreit mit seiner Vorgesetzten begeben. Die ehemalige Präsidentin des Oberlandesgerichts hatte ihn aufgefordert, mehr Fälle zu bearbeiten. Richter Schulte-Kellinghaus entgegnet: "Meine Aufgabe besteht nicht darin, irgendwie möglichst viele Fälle abzuschließen, sondern sorgfältig Recht zu sprechen." Und er zitiert das Grundgesetz: "Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen." Dieser Artikel 97 ist kein Scherzartikel. Er gehört vielmehr zu den Säulen des Rechtsstaates.
    Kann also die Vorgesetzte den Schreibtisch des Richters mit Akten vollpacken und ihn auf diese Weise zwingen, schneller und weniger gründlich zu arbeiten? - Mittlerweile hat dieser Streit zwischen Sorgfalt und Erledigungsdruck das Bundesverfassungsgericht erreicht. Viele Juristen haben sich zu Wort gemeldet, unter ihnen auch Carsten Schütz, der Direktor des Sozialgerichts in Fulda. Ich habe mit ihm gestern das folgende Gespräch geführt: Guten Tag, Herr Schütz!
    Carsten Schütz: Guten Tag.
    Heinemann: Herr Schütz, Sie haben Richter mit Seiltänzern verglichen. Warum?
    Schütz: Der Vergleich bezog sich auf die täglich neu auszutarierende Frage danach, wieviel Zeit nehme ich mir pro Fall und lasse dann entsprechend alle anderen, die noch hinter mir liegen, dort liegen, wo sie liegen. Das muss man täglich neu austarieren, einen Ausgleich finden zwischen der Gründlichkeit, mit der man den einen Fall bearbeitet, wissend, dass alle anderen auch auf eine Entscheidung warten. Da muss man einen Mittelweg finden und da ist die Absturzgefahr groß, ähnlich einem Seiltänzer.
    Heinemann: Heißt das zum Beispiel, dass Richter mehr Vergleiche anstreben, anstatt in die Beweisaufnahme zu gehen, die sehr zeitaufwendig ist?
    Schütz: Definitiv müssen sie, egal welches Fallaufkommen sie haben, einen Großteil unstreitige Erledigungen erzielen, insbesondere durch einen Vergleich, weil sie die Zeit für ein Urteil oder für ein Verfahren bis hin zum Urteil für alle Fälle, die ihnen vorliegen, niemals haben werden. Das ist ausgeschlossen. Deshalb zielt ein guter Teil des Engagements eines Richters darauf, eine unstreitige Erledigung durch Vergleich zu erzielen, ja.
    "Man kann die Arbeitszeit erhöhen - aber das hat natürlich auch seine Grenzen"
    Heinemann: Wie sollte sich eine Gerichtspräsidentin oder ein Präsident verhalten, wenn sich bei ihm die Fälle stapeln?
    Schütz: Die Möglichkeiten sind natürlich eingeschränkt. Er kann gegenüber dem übergeordneten Gericht oder dem Ministerium klarmachen, dass er mehr Personal braucht. Dann bleibt ihm als zweiter Weg der Druck nach innen, und da bin ich der festen Überzeugung, dass er den nicht ausüben sollte, sondern dass er dann praktisch ein breites Kreuz haben muss.
    Wenn entweder die Öffentlichkeit, oder das Ministerium ihm gegenüber Kritik übt, dass an seinem Gericht die Verfahrenslaufzeiten zu lang sind, dann muss er darauf hinweisen, dass das die Entscheidung der jeweiligen Richterinnen und Richter ist, wieviel Zeit sie verwenden, und wenn die liegen bleiben, dann ist das eben so. Wer das anders will, muss an den Haushaltsgesetzgeber herantreten und die Zahl der Richterstellen erhöhen.
    Heinemann: Im Fall Schulte-Kellinghaus war es genau so, wie Sie beschrieben haben: Der Druck ging nach innen. Das heißt, die Vorgesetzte hat ihm gesagt, er soll mehr Fälle bearbeiten.
    Schütz: So ist es, ja. Sie hat jedenfalls auch diesen Weg gewählt und sich da ganz konkret ihn ausgesucht. Ob sie andere auch noch zum Gegenstand ihres Drucks gemacht hat, weiß ich nicht, aber bei ihm hat sie es getan und hat daher meiner Meinung nach gerade im Fall Schulte-Kellinghaus falsch gehandelt.
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Der Freiburger Richter Thomas Schulte-Kellinghaus, hier beim Prozessauftakt vor dem OLG Stuttgart (picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert)
    Heinemann: Kann eine Richterin, kann ein Richter bei gleicher Sorgfalt mehr Fälle erledigen?
    Schütz: Nur durch Erhöhung der Arbeitszeit. Das geht auch ein Stück weit, natürlich. Wir haben in Orientierung an den, für Beamte geltenden Arbeitszeiten entsprechende Leistungen zu erbringen und können die und müssen die zum Teil und tun es auch überschreiten. Insbesondere Halbtagskräfte, die ja die Hälfte nur arbeiten müssen, arbeiten regelmäßig mehr. Aber das hat natürlich irgendwann auch seine Grenzen. Man kann es vielleicht auf 60 Stunden erhöhen pro Woche, aber darüber hinaus wird es praktisch unerträglich, gesundheitsschädlich und auch familiär unvereinbar.
    Heinemann: Wieso hat weder das Dienstgericht des Bundes, noch der Bundesgerichtshof dem Richter Schulte-Kellinghaus recht gegeben?
    Schütz: Na ja, was die Richter im Einzelfall motiviert hat, so oder nicht anders zu entscheiden, das kann natürlich nur die Spekulation bestimmen. Deswegen will ich mich da eigentlich zurückhalten. Aber was sie jedenfalls nicht getan haben ist, sich die Position zu eigen zu machen, die da lautet, der Richter muss das für sich individuell verantworten, weil er ja so entscheiden muss, wie er es in Bindung an das Gesetz für richtig hält. Und wenn das entsprechend Zeit kostet, dann muss er sich die nehmen, und sie steht ihm zu.
    Dann verbietet es sich auch, etwa zu überlegen, na ja, hätte man mehr machen können und wäre trotzdem sachgerecht gewesen, oder wäre das immer noch angemessen gewesen. Das ist ja gerade das Problem der Unabhängigkeit oder der Kern der Unabhängigkeit, dass man es dem einzelnen Richter überlassen muss und eben nicht abstrakt feststellt oder bestimmt, so und so muss ein Verfahren geführt oder so und so muss es entschieden werden. Entsprechend ist die Folge, dass der eine Richter mehr Verfahren erledigt, weil er anders das Verfahren handhabt als ein anderer.
    "Man kann Richtern, die anders arbeiten, nicht vorwerfen, sie sind oberflächlich"
    Heinemann: Heißt das, dass die Alternative dann lautet, einmal Wahrheit und Gerechtigkeit und auf der anderen Seite einfach nur Rechtsfrieden?
    Schütz: Ich würde diese Zuspitzung vermeiden. Ich würde insbesondere, wie es auch Schulte-Kellinghaus gerade nicht tut, nicht Richtern, die anders arbeiten, die mehr erledigen, vorwerfen, sie sind oberflächlich. Nur man kann im Umkehrschluss dann in Sachen Schulte-Kellinghaus ihm auch nicht vorwerfen oder ihm vorhalten, er sei zu umständlich oder ineffektiv.
    Er arbeitet eben anders und das muss durch die Gerichtsverwaltung akzeptiert werden, denn die Unabhängigkeit des Richters, wie sie im Grundgesetz steht, ist die des individuellen Richters, des gesetzlichen Richters, der für das einzelne Verfahren zuständig ist, nicht die Unabhängigkeit der abstrakten Richterschaft eines bestimmten Gerichts.
    Heinemann: Herr Schütz, Mehrarbeit und Zeitdruck gibt es in fast allen Berufen: Im Gesundheits-, im Pflegebereich, bei der Polizei, im Schuldienst oder auch im Journalismus. Kann sich die Justiz heraushalten, wenn Quantität statt Qualität zur gesellschaftlichen Norm wird?
    Schütz: Wohl nicht als faktischer Befund. Die Frage ist nur, wer bestimmt die Grenzen dessen, was noch geht. Da ist die Verantwortungszuweisung im Grundgesetz eindeutig. Das kann nur der individuell zuständige Richter bestimmen. Faktisch entzieht sich ja auch nicht jeder diesem Druck. Jeder sieht das ja vor sich und jeder weiß, wenn ich dem einen Rechtsuchenden einen ganzen Tag widme, bleiben hunderte andere an diesem Tag unbearbeitet. Deshalb versucht ja jeder, deswegen auch mein Seiltänzer-Beispiel, das in einem sinnvollen Verhältnis zu halten.
    Wenn man dann überlegt, man könnte einen Richter herausgreifen und sagen, Du bist derjenige, der diesen Seiltanz-Akt falsch vollführt, dann begibt man sich auf eine Ebene, die verfassungswidrig ist, weil sie im Grundgesetz dem Einzelnen die Verantwortung zuweist, dem einzelnen Richter, der einzelnen Richterin, wieviel Zeit sie oder er dafür in Anspruch nimmt beziehungsweise meint, investieren zu müssen.
    "Man muss sich auch mal kurzhalten"
    Heinemann: Jetzt könnte man meinen, alle Richterinnen und Richter stünden geschlossen hinter Herrn Schulte-Kellinghaus und seinem Anliegen, weil es vielen so geht, wie Sie das beschrieben haben. Dem ist aber nicht so. Warum nicht?
    Schütz: Ja, das kann auch wieder sehr verschiedene Motive haben. Eines ist natürlich, dass jeder in einem Gericht weiß, wenn in einem Richterdezernat die Rückstände wachsen, dann wird irgendwann das Präsidium, das die Geschäfte unter den Richtern verteilt, reagieren müssen. Und da gibt es nur eine Reaktion: Umverteilung.
    Das heißt, jeder hat zunächst mal ein Eigeninteresse, dass alle anderen auch zügig arbeiten, weil immer die Gefahr besteht, oh, wenn der nicht genug erledigt, dann habe ich irgendwann seine Fälle auch noch und muss die miterledigen. Das ist das eine.
    Das zweite ist: Man unterstellt völlig fälschlich Schulte-Kellinghaus, er sei langsam oder "gar faul". Das tut zwar niemand aus der Gerichtsverwaltung, die ihm gegenübergetreten ist, aber zwischen Kollegen ist das überhaupt keine Diskussion, dass mancher sicher auch das denkt. Es gibt sehr viel Eigeninteresse, Fehlvorstellungen und einfach auch einen Grundsatz, der diese Quantität, die Sie angesprochen haben, natürlich auch für sich verinnerlicht.
    Man muss die Fälle wegbringen und darf nicht übertrieben nach jedem Steinchen suchen sozusagen. Das ist in manchen Fällen auch durchaus korrekt, nehmen wir etwa Eingangsinstanzen. Die Hauptlast der deutschen Rechtsprechung tragen die Amtsgerichte. Dort gehen Unmengen Fälle ein, die erledigt werden müssen. Dort muss man sich auch mal kurzhalten, damit man der Masse Herr wird, und dort sind auch kleinere Rechtsstreitigkeiten anhängig, bei denen es nicht um viel geht. Da ist Kürze durchaus mal die Würze.
    Nur man muss sich noch vergegenwärtigen, dass Thomas Schulte-Kellinghaus an einem Oberlandesgericht tätig ist, also an einem Obergericht, das in tatsächlicher Hinsicht die letzte Instanz ist und wo sehr sorgfältig gearbeitet werden muss. Gerade dort ist eigentlich der Vorwurf an ihn absurd.
    Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts verkündet am 17.01.2017 im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (Baden-Württemberg) das Urteil im NPD-Verbotsverfahren.
    Der Vorsitzende Richter des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle (Mitte) (picture alliance / dpa / Uli Deck/dpa)
    Heinemann: Und das gilt allemal für das Bundesverfassungsgericht. Dort ist der Fall inzwischen gelandet. Berichterstatter ist dort der Präsident, nämlich Andreas Voßkuhle, dessen Ehefrau vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht in Freiburg ist. Das heißt, sie ist Kollegin des Beschwerdeführers, eben des Richters Schulte-Kellinghaus. Erkennen Sie in dieser Kombination ein Problem?
    Schütz: Abstrakt ja, in Person Voßkuhle nein, weil ich ihn für einen der herausragendsten Juristen Deutschlands halte, und ich glaube nicht, dass er jemand ist, der sich durch diese Konstellation in irgendeiner Form beeinflussen lassen würde.
    Heinemann: Wobei die Ehefrau ja sicherlich in irgendeiner Weise eine Position zu dem Fall Schulte-Kellinghaus einnimmt.
    Schütz: Das wird so sein. Ich kann natürlich auch nicht beeinflussen, ob das Ehepaar Voßkuhle darüber zuhause spricht. Nur gerade wie gesagt in der Person Andreas Voßkuhle glaube ich, dass er in der Lage ist, sich davon freizumachen.
    Heinemann: Der Richter Thomas Schulte-Kellinghaus wird in absehbarer Zeit in Pension gehen. Für wie wichtig halten Sie es, dass noch während seiner Amtszeit das Bundesverfassungsgericht in diesem Fall entscheiden wird?
    Schütz: Ich halte es einmal aus formalen prozessrechtlichen Gründen für wichtig, weil ich davon ausgehen kann, dass gegebenenfalls durch seine Pensionierung das Rechtsschutzinteresse für das Verfahren entfällt, so dass dann die formellen Voraussetzungen für eine Entscheidung in der Sache entfallen. Deshalb hoffe ich, dass das Bundesverfassungsgericht sich dazu entscheidet, noch in der Amtszeit von Thomas Schulte-Kellinghaus tatsächlich zu einer Entscheidung zu kommen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.