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Recycelter Rassismus

Wie haben sich die alten faschistoiden Ideologien in neuen Organisationen erhalten? Wie wird Rassismus und Fremdenfeindlichkeit recycelt? Sind rassistische Überfälle wie der von Potsdam nur Einzeltaten oder folgen sie einer gesellschaftlichen Logik von Stigmatisierung auf der einen und Verharmlosung auf der anderen Seite? Für die Antworten auf solche Fragen liefert ein Sammelband Material, den Andreas Klärner und Michael Kohlstruck in der Hamburger Edition herausgegeben haben.

Von Horst Meier | 24.04.2006
    "Moderner" Rechtsextremismus? Zunächst klingt der Begriff paradox: Lebt diese Ideologie nicht von abgedroschenen Phrasen über Nation und Deutschtum, Rasse und Volksgemeinschaft, von abgestandenen Ressentiments gegen Fremde und Juden? Vielleicht muss man kurz an den vormodernen, den antiquierten Rechtsradikalismus in Westdeutschland erinnern: Altherrenabende und Veteranentreffen, ordentliche Parteitage mit Anträgen zur Geschäftsordnung dominierten den rechten Rand. Doch seit Beginn der achtziger Jahre wurden hierarchisch organisierte Wahlparteien zunehmend durch informelle Zusammenschlüsse und Netzwerke ergänzt. Zugleich gewannen öffentlichkeitsorientierte Protestformen junger Aktivisten, die auf die Straße gingen, an Bedeutung. An die Stelle des militanten Antikommunismus traten neuer Rassismus und völkischer Antikapitalismus, angereichert mit einem antisemitisch grundierten Antiamerikanismus. Die Beiträge des Hamburger Bandes spiegeln aktuelle Tendenzen der empirischen Forschung und nehmen regionale Zusammenhänge, Gruppen und Einzelne in den Blick.

    " Gemeinsam ist den Arbeiten, dass sie nicht versuchen, den Rechtsextremismus im Allgemeinen zu erklären und damit das Phänomen künstlich zu homogenisieren. (...) In der Rechtsextremismusforschung (sind) zur Zeit keine vorschnellen Verallgemeinerungen gefragt, sondern vielmehr ein genauer Blick auf die jeweiligen Phänomene ... "

    Fallstudien der rechtsradikalen Bewegung und der demokratischen Gegenbewegung, die in ostdeutschen Städten erstellt wurden, stehen neben Beiträgen, die die Methode der Biographieanalyse erläutern oder die Entwicklung "rechtsextremer Handlungs- und Orientierungsmuster von Mädchen und jungen Frauen" untersuchen. Andere Beiträge beschreiben, welche Bedeutung der Handel mit Musik für die Szene hat, oder fragen nach der Tragweite von Erklärungsansätzen für rechtsradikale Wahlerfolge.

    Weil der "moderne Rechtsextremismus" als neue soziale Bewegung, als von Jugendlichen geprägte Subkultur beschrieben wird, liegt der Schwerpunkt nicht auf den üblichen Verdächtigen, also den vom Verfassungsschutz als "rechtsextremistisch" eingestuften Parteien. Vielmehr werden andere Facetten der rechtsradikalen Szene in den Blick genommen: netzwerkartige Gruppen, Schlägercliquen und Kameradschaften. Rainer Erb stellt in einer Fallstudie den sog. "rechtsextremen Bewegungsunternehmer" vor.

    " Auf der Basis ... ihrer Erfahrungen erkennen und nutzen Bewegungsunternehmer politische Chancen. ... Sie müssen gewissermaßen Managerqualitäten besitzen - (müssen) Macher sein, rational planen, Entscheidungen unter Zeitknappheit treffen, leistungs- und erfolgsorientiert, dazu von Ungeduld getrieben. (...) Durch ihre langjährige Zugehörigkeit bauen sie sich ein weiträumiges Kontaktnetz auf. "

    Der "Bewegungsunternehmer" Christian Worch, in den Medien als Neonazi schlechthin gehandelt, blickt auf eine über zwanzigjährige Karriere zurück: Er war Gründungsmitglied der 1983 verbotenen "Aktionsfront Nationaler Sozialisten", ANS, in deren Führer Michael Kühnen er seinen Mentor fand. Fast fünf Jahre verbrachte Worch im Gefängnis - als "politischer Gefangener", wie er in Anspielung auf Strafurteile wegen Volksverhetzung und anderer Propagandadelikte sagt.

    Eine stattliche Erbschaft, so die Fallstudie, erlaubt es Worch, sich ganz seiner Politik und Selbstdarstellung zu widmen, ohne Geld verdienen zu müssen. Per Internet oder Infotelefon mobilisiert er überregional die "Kameraden" und verschafft seinen Gesinnungsgenossen, die oftmals arme Schlucker sind, bescheidene Erfolgserlebnisse: Das Gefühl, gemeinsam mit anderen auf der Straße Flagge zu zeigen, hält die "Kameraden" bei Laune. Außerdem organisiert der gelernte Notariatsgehilfe den so genannten "Rechtskampf" gegen die polizeilichen Verbote, mit denen seine Kundgebungen regelmäßig belegt werden. Nicht ohne Erfolg: 2001 erstritt Worch ein Urteil des Verfassungsgerichts zur Versammlungsfreiheit, das nicht nur für Neonazis, sondern für die Bürgerrechte aller von Bedeutung ist.

    " Blockaden, Hungerstreiks oder Platzbesetzungen gehören (bisher) nicht zum Handlungsrepertoire. Hingegen hat die Aktionsform "Demonstration" eine Bedeutung erlangt, deren Anwendung ... nicht mehr zufällig genannt werden kann. Vielmehr muss von einer gezielt eingesetzten und bewusst fortentwickelten "Demonstrationspolitik" gesprochen werden... "

    Fabian Virchow skizziert die jüngere Geschichte des rechtsradikalen Straßenprotestes. Dieser richtet sich nicht mehr vorrangig gegen Fremde, sondern gegen die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht, gegen die Globalisierung, die Invasion des Irak oder den alliierten Luftkrieg gegen die deutschen Städte. Den Begriff "Demonstrationspolitik" entlehnt Virchow einer Studie über die NSDAP. Leider verweist er, was die sich aufdrängende Frage nach Unterschieden und Parallelen betrifft, auf eine noch in Vorbereitung befindliche Studie.

    Virchow bedauert en passant, dass die "neofaschistische Demonstrationspolitik Urteile des Bundesverfassungsgerichts auszunutzen wusste, in denen die Betonung weiter bürgerrechtlicher Freiräume eine paradoxe Verbindung mit der Ignoranz gegenüber neonazistischen Strategien eingeht". Diese Kritik fällt allerdings auf den Autor zurück: Ein antifaschistisch verkürztes Verständnis der Grundrechte ist aus der geltenden Verfassung nicht abzuleiten.

    " Je monströser die Umstände einer Tat sind, um so eher erwartet man eine Erklärung, die besonders spektakuläre oder tiefe Ursachen und Gründe findet. (...) Ein genaueres Hinsehen zeigt indes, dass viele grausame Verbrechen aus trivialen, also alltagsnahen Umständen hervorgehen. "

    Eine Fallstudie von Michael Kohlstruck und Anna Verena Münch rekonstruiert den Mord an einem Sechzehnjährigen, der von Saufkumpanen misshandelt, als "unmännlich" und "Jude" beschimpft und am Ende totgetreten wurde. Der Fall erregte überregional Aufsehen und wurde in der Öffentlichkeit und vom Verfassungsschutz als "rechtsextremistische" Gewalttat eingestuft. Die Fallstudie hingegen begreift das Verbrechen vor allem als exemplarische Tat so genannter "hypermaskuliner" Gewalt und arbeitet eindrucksvoll heraus, wie Männlichkeitswahn, fremdenfeindliche Einstellungen, Alkohol, Zufall und die Eigendynamik der Gewalteskalation eine böse, mörderische Verbindung eingehen.

    Ein Musterbeispiel politischer Aufklärung liefert Uta Döring unter dem Titel "National befreite Zonen. Zur Entstehung und Karriere eines Kampfbegriffs". Ihre Analyse von Szeneschriften und seriösen Tageszeitungen belegt, wie ein Stichwort, mit dem Rechtsradikale ihre Dominanz in einem Milieu von Erwerbstätigkeit und Politik erträumten, zur "konstruierten Wirklichkeit" mutierte: Am Ende war alles "national befreite Zone", wo Rechtsradikale gesichtet wurden: Jugendklubs, Straßenbahnen, Internetauftritte, Aufmärsche, Kneipen, Tankstellen, Stadtviertel, Dörfer und Regionen.

    " Das nationale Erbe einer Selbstverpflichtung zu besonderer Sensibilität gegenüber Rechtsaußen macht "Rechtsextremismus" zu einem sehr wirksamen Skandalisierungs- und Alarmsignal. Die Diagnose maximaler Gefahr verbindet sich mit einem unabweisbaren Aufruf zum Handeln. "

    Die Herausgeber, die in ihrer vorzüglichen Einleitung die Konjunkturen der Forschung bilanzieren, warnen davor, einen ausufernden Extremismusbegriff für den politischen Tagesbedarf zu instrumentalisieren. Dem Anspruch, bereichsspezifische Analysen zu erstellen, wird dieser Band gerecht. Die Beiträge argumentieren unaufgeregt und nüchtern, bieten wissenschaftlich fundierte Fakten und Thesen, also reichlich Stoff zum Denken. Kurz: Sie liefern politische Literatur, deren Aufklärungspotential beträchtlich ist.

    Andreas Klärner/Michael Kohlstruck(Hrsg.): Moderner Rechtsextremismus in Deutschland
    Hamburger Edition, Hamburg 2006. 344 Seiten, 35 Euro