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Reden über den Tod und das Sterben

Ein ungewöhnliches Forschungsprojekt an der Uni Witten/Herdecke und der Uniklinik Düsseldorf sucht nach neuen Wegen, das Sterben in den Alltag zurückzuholen. 30 junge Menschen lassen sich im Rahmen des Projekts auf den Tod ein und sprechen mit Sterbenden und deren Angehörigen.

Von Doris Arp | 25.10.2012
    "Hilflos stand ich damals im Wiesenhaus neben dem Sterbebett und reichte Lutt auf Wunsch meiner Eltern die Hand. Er drückte sie und sah mich an. Er musste sich anstrengen, um atmen zu können. Seine Gesichtszüge waren unbeweglich, beinahe starr. (Im Sterben kann das Leben schon weit weg sein. Es herrschte eine Distanz, die ich zuvor nie empfunden hatte.) Lutt lockerte seine Hand, und ich zog meine zurück. Im Ofen knarzten die brennenden Scheite. Die Glühbirnen dümpelten vor sich hin. Meine Mutter hatte rote Augen. Die Luft stand still. Sie roch nach Kaffee, alten Äpfeln, Holz und Asche, wie immer. Aber sie war dichter, dicker, zäher als sonst. Wir verabschiedeten uns von der Großmutter, die bei ihrem Bruder blieb. Das Gras und das Laub auf dem Weg waren gefroren. Am Morgen war Lutt tot. "

    Christoph Schmitz – Das Wiesenhaus

    "In Deutschland 2012 ist das Sterben als Prozess institutionalisiert. Das heißt, ein Großteil der Menschen stirbt heute in irgendeiner Weise professionell begleitet. Das war nicht die Realität vor 50 Jahren. Da war Sterben und Sterbeprozess Aufgabe der Familie. Die Gefahr, und die zeichnet sich ab, ist, dass Sterben und Tod gar keine Rolle mehr im Alltag spielen."

    30 junge Menschen haben sich anders entschieden. Sie lassen sich auf den Tod ein und sprechen mit Sterbenden.

    "Ich finde es wichtig, dass man sich mit dem Thema auseinandersetzt, weil irgendwann steht man mit dem Thema da, wenn man älter wird. Ich krieg das mit bei meiner Oma, dass sie sich zunehmend mit dem Thema befasst. Und auch meine Eltern. Wir reden da auch ganz offen drüber. Ich finde es wichtig, dass man sich Gedanken darüber macht."

    "Mein Vater ist gestorben, als ich neun war. Er hatte Knochenkrebs, seit ich sieben war. Hat auch stark gelitten. Sodass es eine Erleichterung war, würde ich sagen, als er hat gehen können. Meine Muter hat immer versucht, so eine Distanz dazwischen zu legen. Am Ende war ich fast gar nicht mehr im Krankenhaus. Und ich hätte mir gewünscht, dass ich mehr Konfrontation gefahren hätte. Weil ich gar nicht so richtig kapiert habe, was da passiert ist, dass mein Vater gestorben ist."

    "Jeder muss sich ja mal mit dem Thema Sterben auseinandersetzen oder sollte sich damit auseinandersetzen. Weil das ist ja mal sicher, dass jeder sterben muss. Ich versuch für mich so ein bisschen einen Weg zu finden, mein Leben mehr zu genießen. Die Sterbenden werden einem ja berichten, hoffe ich zumindest, was sie in ihrem Leben besonders gut gefunden haben oder was sie hätten besser machen können. Und ich hoffe da Schlüsse für mich draus zu ziehen, dass ich ein bisschen mehr mein Leben lebe."

    Reden über den Tod und das Sterben, das ist nicht leicht. Schon gar nicht, wenn man jung ist. Da geht es um die erste Liebe, das Studium oder den Start ins Berufsleben. Es geht um möglichst pralle Anfänge und nicht um das dürre Ende. Doch die Zeit dazwischen – das Leben also – lässt sich kaum denken, geschweige denn gestalten – ohne das Ende vor Augen zu haben. Unsterblichkeit macht jede Entscheidung beliebig. Der Tod sei die eigentliche Folie unseres Lebens, sagt der Philosophieprofessor Martin Schnell, Leiter des Instituts für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen an der Universität Witten/Herdecke. Doch uns fehle heute meist die persönliche Erfahrung. Wie es anders gehen könnte, will er zusammen mit dem Mediziner und Psychotherapeuten Christian Schulz, stellvertretender Leiter im Interdisziplinären Zentrum für Palliativmedizin in Düsseldorf mit dem Projekt "30 Junge Menschen sprechen mit Sterbenden und deren Angehörigen" herausfinden.

    "Wie macht man das bei jungen Menschen, wo es normal ist, dass sie genau diesen Gesichtspunkt, dass sie sterben werden verdrängen. Weil sie stehen gerade im Abitur, haben gerade eine Lehre begonnen, da müssen sie ja an die Zukunft denken, sonst verbauen sie sich alles. Wie wählt man einen kommunikativen, einen reflexiven, auch einen emotionalen Anhaltspunkt, der die jungen Menschen dazu bringt, zu diesem Gesichtspunkt nachzudenken."

    Die beiden jungen Wissenschaftler organisieren, was die große Dame der Sterbeforschung Elisabeth Kübler-Ross vor Jahrzehnten entwickelt hat: Interviews mit Sterbenden. So hieß auch ihr erstes 1969 erschienenes Buch, das erst in den USA und dann schnell weltweit zum Bestseller wurde. Als versponnene Außenseiterin galt die Schweizer Landärztin damals, als sie ihren Lehrstuhl für Psychiatrie in Denver Colorado mit einer Vorlesung begann, zu der sie ein 18-jähriges an Leukämie erkranktes Mädchen mitbrachte. Vor den Augen und Ohren ihrer Studenten sprach sie mit Linda über deren Krankheit und den bevorstehenden Sterbeprozess. In einem Radiointerview aus den 80er-Jahren erzählt sie:

    "Ich habe gedacht, wenn ich Sterbende interviewen würde, würden diese Studenten endlich mal merken, was gute Medizin ist und für den Allgemeinmediziner, damit man etwas versteht von Ängsten, Verdrängungen und all diesen psychiatrischen Namen. Die braucht man ja gar nicht zu kennen, um dasselbe zu empfinden, wie unheimlich es ist für einen Medizinstudent, wenn er ein 18-jähriges, bildschönes Mädchen vor sich hat, was vielleicht in zwei Wochen stirbt. Dann muss er doch auch mit seinen eigenen Gefühlen fertig werden."

    Mediziner wollen heilen, das ist ihr Beruf. Der Tod ist eher ein Störfall und konfrontiert den Fachmann fürs Leben mit der eigenen Inkompetenz. Das kränkt, so sah es zumindest Elisabeth Kübler-Ross. Heute müssen viele Ärzte das Sterben mitbehandeln. Ausweichen geht kaum noch, die veränderte Alterspyramide zwinge Ärzte wie Patienten zum Nachdenken, sagt Martin Schnell von der Uni Witten Herdecke.

    "Der Glaube, dass man von einem auf den anderen Moment erfüllt von der Leiter fällt und plötzlich tot ist, das ist ein Wunsch, der wird sich aber so immer weniger erfüllen. Durch die Tatsache, dass wir sehen, dass das Leben langsam endet in der Hochaltrigkeit und dann von einer Pflegebedürftigkeit in eine Endphase geht, das ist eine relative Tendenz. Erst seit wenigen Jahren wird danach gefragt, wie bereiten wir uns auf solche Situationen vor? "

    Christian Schulz und Martin Schnell haben schon vor vielen Jahren ein Lehrprogramm zur Kommunikation mit Sterbenden für Ärzte und Medizinstudenten entwickelt. Dabei haben sie festgestellt, dass sich die Haltung der Teilnehmer verändert. Und zwar besonders nach dem persönlichen Gespräch mit Sterbenden. Christian Schulz vom Zentrum für Palliativmedizin am Uniklinikum Düsseldorf:

    "Das war, dass wir feststellen konnten, es gibt eine Haltungsveränderung. Es gibt im Grunde drei Komponenten, es gibt eine Einführung, in der wir zunächst ohne sterbenden Menschen reflektieren in der Gruppe, was bedeutet Sterben und Tod, was ist ein guter Tod? Wir sprechen darüber, was gibt es für Gesprächstechniken, ganz pragmatisch. Im zweiten geht es dann um eine echte Begegnung mit sterbenden Menschen und danach gibt es im dritten Block eine Reflektion, was hat das mit mir gemacht und bedeutet das für meine Definition von Sterben und Tod."
    Finanziert wird das Projekt "30 junge Menschen" vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft. Wer dabei sein wollte, musste eine Art Castingverfahren durchlaufen. Die jungen Leute zwischen 16 und 25 Jahren haben sich schriftlich beworben, dann ein ausführliches Telefoninterview geführt und anschließend hat ein Gremium aus Ärzten und Psychologen 30 Teilnehmer herausgezogen. Darunter sind Schüler, Studenten und Auszubildende. Eine von ihnen ist Anne Strapasas, 25 Jahre alt und in der Ausbildung zur Krankenpflegerin. Wenige Stunden, bevor sie ihr Gespräch mit einem Sterbenden führte, sagt sie über den Tod:

    "Im Moment ist das so, dass ich das ganz schrecklich finde. Ich finde das ganz furchtbar. Den Tod finde ich sehr furchtbar. Ich kann mich damit noch nicht auseinandersetzen. Ich habe das während der Projekttage gemerkt, dass der Tod ein Teil des Lebens ist, dass er so ein Abschluss ist. Aber ich kann das für mich noch nicht so annehmen, das ist für mich noch nicht greifbar, dass das natürlich ist, obwohl es auf der anderen Seite so furchtbar ist, wenn man weiß, man wird sterben, wenn man diese Gewissheit hat. Ich weiß nicht, wie man damit umgeht und wie man das verarbeiten und verkraften kann und wie man das trägt."

    Intensiv hat sich die 25-Jährige in einem Vorbereitungsworkshop mit den anderen Teilnehmern auf ihr Gespräch vorbereitet. Sie hat viel Wissen über den Sterbeprozess bekommen und hatte Gelegenheit über ihre eigene Einstellung nachzudenken.

    "Auf jeden Fall habe ich gelernt, wie kostbar Zeit ist. Dass wirklich jeder einzelne Augenblick so aufzunehmen und aufzusaugen, wie er einem begegnet. Wir hatten einen Workshop und am Sonntag haben wir ein Spiel gemacht, dass wir uns zwei Partner suchen, mit denen wir nicht so viel geredet hatten und dass währenddessen parallel Monate gesagt werden. Und je nachdem wann der Monat gesagt wurde, an dem man geboren wurde, musste man rausgehen und schweigen. Und bei mir war das so, dass nach zehn Sekunden mein Monat kam und nicht mehr in der Lage war was mitzuteilen oder von den anderen aufzunehmen. Man hat ja keine Macht darüber, keine Kontrolle. Furchtbar. Das war wirklich schlimm. Ich hab das noch nie so reflektiert. Da war das vor meinen Augen, so muss das sein. Und das war schlimm."

    "Schläfst Du schon?"
    "Ja."
    "Mich würde interessieren, wie das für sie ist, ihre Frau so zu sehen, wenn sie sie besuchen."

    "Ja. Ja. Wissen Sie, wir waren nie getrennt gewesen. Und so ist das hier auch. Und da bin ich auch den Ärzten dankbar. Dass wir hier die Unterkunft haben und zwar so, dass ich den ganzen Tag bei meiner Frau sein kann. Dass sie sich nicht alleine fühlt, dass sie sich nicht verlassen fühlt. Das ist das Schlimmste."

    Für Anne Strapasas kommt es anders, als geplant. Sie spricht mit dem Ehemann. Seine Frau hat Leukämie und ist so geschwächt, dass sie das geplante Gespräch nicht selbst führen kann. Die 25-Jährige ist deshalb im Anschluss erst einmal enttäuscht. Doch im Nachhinein, so erzählt sie einige Wochen später, habe die Konfrontation im Krankenzimmer doch viel Nachdenken ausgelöst. Sie spreche oft über das Thema. Auch mit Freunden, die anfangs gar kein Verständnis für ihre Beteiligung am Projekt hatten.

    "Ich glaub, dass das ein Problem ist in der Gesellschaft, dass man das so wegdrängt, vielleicht weil man keinen Bezug dazu hat. Vielleicht auch, dass es so schrecklich einfach ist und dass man sich mit schrecklichen Dingen nicht gerne auseinandersetzt. Dass man nicht lernen möchte, dass es nichts Schreckliches ist, dass es zum Leben dazugehört, weil so funktioniert unsere Welt, dass Menschen geboren werden und Menschen sterben."

    Wir haben das Sterben hinter professionelle Mauern verlegt. Doch es ist dadurch nicht verschwunden. Im Gegenteil, in der sterilen Einsamkeit holt es uns oft umso brutaler ein. So wundert das Ergebnis einer aktuellen Umfrage im Auftrag des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes nicht: 84 Prozent der Befragten wollen Zuhause oder im Hospiz sterben. Tatsächlich können dies zurzeit aber nur 30 Prozent. Die meisten sterben im Krankenhaus, gefolgt vom Pflegeheim. Die Forschung zeigt ein deutlich anderes Verlangen, erklärt Dr. Christian Schulz:

    "Es ist zum Beispiel befragt worden von Kollegen aus America das professionelle Begleitungsteam, Angehörige und Patienten, jeweils was bedeutet für euch ein guter Tod. Da kamen viele unüberraschende Dinge, Schmerzfreiheit, Symptomlinderung, Beieinandersein können bis zum Ende. Das war ziemlich Deckungsgleich bei allen. Es fiel aber auf, dass bei den Patienten, den Betroffenen selbst etwas dazu kam, an das keiner gedacht hatte, die ganz simple Kategorie, bis zum Ende für andere dasein zu können, Teil der Gesellschaft zu sein, nicht abgeschoben zu sein und nicht institutionalisiert, professionell begleitet einem Akt der Verwaltung zu folgen, sondern schlicht und ergreifend Teilhabe zu leben bis an den letzten Moment."

    "Als Erstes ist mein Uropa gestorben. Da habe ich das noch gar nicht so richtig verstanden. Dann kam die Zeit, da hab ich mich richtig auf Beerdigungen gefreut, weil ich fand das total schön diese Vorstellung, dass die Leute dann im Himmel sind und es gab leckeres Essen. Und dann ist mein Vater gestorben und da war ich 13. Ja – da war das komplett anders."

    Kea Asina Güldenstern ist 20 Jahre alt und studiert Kulturwissenschaften. Die blonde junge Frau mit den roten Lippen und langen Federohrringen wünscht sich ein Stück Lebenshilfe in der Auseinandersetzung mit dem Sterben. Sie hat schon viel Erfahrung mit dem Tod machen müssen.

    Ihr Vater starb sehr plötzlich. Die Ärzte hatten Asthma diagnostiziert, aber es war Lungenkrebs. Eines Tages fanden sie und ihre Schwester den Vater tot im Bett. Ohne Vorbereitung, ohne Abschied. In ihrem Gespräch mit einem Sterbenden erlebt Kea Güldenstern, wie es auch anders gehen kann. Sie spricht mit einem älteren Herrn, der seine letzten Wochen auf der Palliativstation verlebt und sehr bewusst Abschied nimmt.

    "Haben Sie Angst davor, Sie haben das gerade so schön gesagt, wenn sie verschwinden? Offiziell sage ich Nein. Ich habe nur Angst vor einem schmerzvollen zu Ende gehen. Aber hier ist die Schmerztherapie voll entwickelt. Da bräuchte ich eigentlich keine Angst zu haben. Und die andere Seite ist, Traurigkeit, Abschied von meinen Lieben. Und das will ich nicht unterdrücken. Das gehört einfach da hin."

    Die 20jährige hat vor allem zugehört, kaum Fragen gestellt, so wie sie es sich vorgenommen hatte. Was sie daraus mitnehmen wollte?

    "Ich glaube man kann lernen richtig zu leben und das zu tun, was man wirklich tun möchte. Und auch den Tod anders hinzunehmen und wahrzunehmen und nicht als negativ zu betrachten, sondern auch als positiv. Das ist auch bei mir immer ziemlich negativ belastet gewesen seit dem Tod meines Vaters. Das zeigt jetzt, dass es auch positiv sein kann und dass die Leute so ne Art Erlösung empfinden. Das gibt einem noch mal ne ganz andere Sichtweise auf die ganze Thematik."

    Eine umfangreiche Homepage zeigt die Interviews mit den Sterbenden und die Vorgespräche mit den Jugendlichen und ihren Gedanken nach Abschluss der Interviews. Was im Laufe des Projekts mit den Jugendlichen und ihrer Haltung gegenüber Sterben und Tod passiert ist, wird in einem Buch wissenschaftlich aufgearbeitet. Für das breite Publikum gibt es im Frühjahr nächsten Jahres einen Kinofilm. Das Ziel des Projekts sei ja gerade das Sprechen über Sterben wieder in Gang zu bringen, erklärt Christian Schulz von der Palliativstation der Uniklinik Düsseldorf.

    "Die Menschen gehen auf unsere Webseite, sie kommunizieren mit den 30jungen Menschen, die dort ihre Erfahrungen wiederum kommunizieren. Das heißt, der Diskurs wird angestoßen und indirekt ist damit das Projekt auch eine Offenlegung und Einladung der Palliativmedizin zu sehen, wie wir heutzutage, nachdem die Palliativmedizin sich mehr und mehr etabliert in Deutschland, Sterben neu konstruieren in unserer Gesellschaft."

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