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Referendum in den Niederlanden
"Ukrainer wollen ein Teil Europas sein"

Die Aussetzung des Assoziierungsabkommens mit der EU löste 2013 die Proteste auf dem Maidan-Platz in Kiew aus. Umso enttäuschter hätten die Ukrainer das Ergebnis des Referendums in den Niederlanden aufgenommen, sagte Sergej Sumlenny, Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, im Deutschlandfunk.

Sergej Sumlenny im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 07.04.2016
    Proeuropäische Proteste in Kiew 2014
    Proeuropäische Proteste in Kiew 2014 (dpa / picture-alliance / Nikitin Maxim)
    "Die Ukrainer haben sich eine andere Reaktion gewünscht", berichtete Sergej Sumlenny nach dem Referendum in den Niederlanden. Eigentlich habe man in den Niederlanden eine Verbundenheit mit der Ukraine vermutet, nachdem bei dem Abschuss der Malaysia-Airlines-Maschine über dem Donbass viele Niederländer gestorben sind. "Die Niederländer hätten Solidarität zeigen können." Nun herrsche eine große Verzweiflung in der Ukraine, wie es weitergehe. Es sei politischer Wunsch der Ukrainer, sich der EU anzunähern. Neben der Assoziierung gehe es den Menschen um eine Visafreiheit. "Sie wollen, dass der Weg in die EU gesichert ist." Früher oder später wollten die Ukrainer "ein Teil von Europa sein".
    Assoziierungsabkommen mit der Ukraine

    Das Abkommen (als pdf beim auswärtigen Dienst der EU) enthält mehrere Ziele. Es dreht sich zum einen um staats- und gesellschaftspolitische Fragen zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, gemeinsamer Sicherheitspolitik und Verhinderung von Korruption, um Standards anzugleichen. Vor allem aber soll es die Handelsbeziehungen zwischen der EU und der Ukraine regeln und dabei Zölle, Steuern und Abgaben harmonisieren.

    Der zentrale Teil des Abkommens ist die Schaffung einer Freihandelszone, einen Beitritt zur EU sieht es nicht vor. Der frühere Präsident Wiktor Janukowytsch setzte das Abkommen am 21. November 2013 aus, was als Auslöser für die Maidan-Proteste gilt, mittlerweile hat es Ministerpräsident Arseni Jazenjuk unterschrieben.

    Alle anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben das Abkommen bereits ratifiziert, auch die niederländische Regierung hatte den Vertrag unterzeichnet, beide Kammern des Parlaments hatten zugestimmt. Die Volksbefragung wurde dadurch möglich, dass sich 300.000 Niederländer für sie ausgesprochen hatten.

    Das Interview in voller Länge
    Dirk-Oliver Heckmann: Zu Hunderttausenden waren sie auf die Straße gegangen, die Ukrainer Ende 2013. Der Grund: Der damalige Präsident Wiktor Janukowytsch hatte sich plötzlich geweigert, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben, nachdem Moskau entsprechenden Druck ausgeübt hatte. Die Folgen sind bekannt: Massendemonstrationen auf dem Majdan, der Sturz der Regierung, Wahlen, die Spaltung des Landes, Krieg im Osten der Ukraine und schließlich die Annexion der Krim durch Russland. Die Krise in der Ukraine ist alles andere als beendet. Vor diesem Hintergrund war es klar, dass man in der Ukraine die Volksabstimmung in den Niederlanden besonders aufmerksam verfolgt hat.
    Am Telefon begrüße ich dazu Sergej Sumlenny von der Heinrich-Böll-Stiftung. Dort ist er Leiter des Regionalbüros Kiew. Schönen guten Morgen nach Kiew!
    Sergej Sumlenny: Ja, guten Morgen.
    Heckmann: Herr Sumlenny, die Niederländer stimmten klar mit Nein. Wie dürfte das Ergebnis bei den Ukrainern ankommen?
    Sumlenny: Es ist eine große Verzweiflung, die es hier gibt nach diesen Ergebnissen, und die Situation, die Wahrnehmung, dass es so massiv von den Niederländern abgelehnt worden ist, die Wahrnehmung dieser Tatsache muss noch ankommen, oder besser gesagt von den Niederländern, die natürlich nur zu den Wahllokalen gekommen sind. Aber die Ukrainer hier im Lande haben sich eine ganz andere Reaktion der Niederländer gewünscht. Die Niederlande sollten eigentlich ein sehr progressives Land in den Augen der Ukrainer gewesen sein. Die Ukraine und die Niederlande sind auch über eine sehr traurige Situation, über diese Tragödie von Donbass verbunden. Sehr viele Niederländer sind gestorben am Himmel über der Ukraine.
    Heckmann: Das ist der Abschuss der Passagiermaschine gewesen.
    Sumlenny: Genau. Und man dachte, diese Wahrnehmung seitens der Niederländer, dass die Niederländer auch von dieser Tragödie, von dieser russischen Invasion in die Ukraine betroffen sind, sollte den Niederländern helfen, ein bisschen mehr Solidarität mit der Ukraine zu zeigen. Aber wahrscheinlich sind die anderen Faktoren für die Niederländer entscheidend geworden und es gibt eine große Verzweiflung hier im Lande, wie geht es weiter, und natürlich auch eine große Kritik gegen die Regierung, die es nicht geschafft hat, die Notwendigkeit der EU-Assoziierung den Niederländern zu vermitteln - ich meine die ukrainische Regierung.
    "Abkommen bleibt für die Ukrainer sehr entscheidend"
    Heckmann: Herr Sumlenny, welche Bedeutung hat das Assoziierungsabkommen mit der EU denn für die Menschen in der Ukraine und was würde es bedeuten, wenn es wirklich scheitern oder stark abgeändert würde?
    Sumlenny: Na ja. Die genauen Voraussetzungen und die genauen Pflichten, die aus dem Vertrag hervorgehen, die sind natürlich für die größte Mehrheit der Ukrainer nicht bekannt. Niemand liest diesen Text bis zur letzten Zeile. Dasselbe machen auch die Leute in der EU. Ich glaube kaum daran, dass die Niederländer, die zu den Lokalen gekommen sind, dieses Abkommen in der Tat gelesen haben. Aber es ist eine politische Entscheidung und es ist ein politischer Wunsch seitens der Ukrainer, sich der EU anzunähern. Es gibt zwei große Themen mit der Europäisierung, mit der Annäherung an die EU, und zwar ist das diese Assoziierung. Das ist Nummer eins. Das haben Sie schon in den Nachrichten erwähnt, dass der Sturz der Regierung Janukowytsch und der Grund für den Majdan die Ablehnung vom Präsidenten Janukowytsch die Ursache war, diesen Vertrag zu unterzeichnen. Und das zweite Thema ist die Visafreiheit. Die Ukrainer wollen diese zwei Sachen haben. Sie wollen sicher sein, dass der Weg in die EU gesichert ist. Sie wollen sicher sein, dass sie früher oder später ein klarer Teil von Europa sein werden, von der EU. Deswegen war dieses Abkommen für die Ukrainer sehr entscheidend und bleibt sehr entscheidend, obwohl natürlich nur wenige Leute verstehen, was genau es für die Firmen bedeutet, was genau es für die Standardisierung der Prozesse der Produktion und so weiter bedeutet. Aber man will diese Ergebnisse haben.
    Heckmann: Und denken Sie, dass der Wille, jetzt noch Teil der Europäischen Union zu bleiben, dass der genauso stark bleibt wie er ist, oder werden sich die Menschen abwenden?
    Sumlenny: Das kann man hier in Kiew kaum einschätzen. Was klar ist: Es gibt jetzt eine massive Kritik gegenüber dem Präsidenten Poroschenko. Das Land steckt schon seit Monaten in einer tiefen Krise. Es gibt eine Regierungskrise um den Ministerpräsidenten Jazenjuk, ob er bleibt oder nicht bleibt, geht oder nicht geht, und es gibt ein großes Missvertrauen gegenüber dem Präsidenten Poroschenko, dem es bis heute nicht gelungen ist, seine Politik der Bevölkerung zu erklären. Es ist ihm nicht gelungen zu erklären, warum seine Beteiligung an zwei Trust Fonds oder seine Aktivitäten mit zwei Trust Fonds auch in Panama in der Tat legal war. Er versuchte zu vermitteln, dass es kein Versuch war, das Geld zu verstecken. Es war der Versuch, die Kontrolle über seine Schokoladefabriken an unabhängige Leute zu übergeben für die Zeit seiner Präsidentschaft, was in der Tat gut war, aber es ist ihm komplett nicht gelungen, das den Leuten zu erklären in einer klaren, knackigen und plausiblen Form. Jetzt kommt auch dieses Ergebnis und die Vorgabe der Situation, wo einfach seine Pressearbeit und seine PR-Arbeit komplett versagt hat.
    "Den Ukrainern kann man nur die Ausdauer wünschen"
    Heckmann: Herr Sumlenny, es kommt hinzu, dass die Regierung in einer Krise steckt. Es gibt keine Mehrheit mehr. Präsident Poroschenkos Ruf ist angekratzt, Sie haben es gerade gesagt, im Zusammenhang mit den Panama Papers. Nach der Annexion der Krim schlägt sich das Land weiter mit territorialen Konflikten mit Moskau herum. Korruption, Rechtsstaatlichkeit sind weiterhin riesige Probleme. Was würden Sie über die Entwicklung der Ukraine sagen? Wie würden Sie das einschätzen?
    Sumlenny: Man muss klar verstehen: Das Land ist angegriffen. Das Land befindet sich seit dem Frühjahr 2014 unter der Attacke seitens des Kreml und Teile des Landes sind annektiert. In den anderen Gebieten herrscht weiter der Krieg. Jeden Tag gibt es dort Beschüsse seitens der Separatisten. Das Land steckt wirtschaftlich in der Krise. Das ist klar. Das passiert immer mit einem Land, das in einem Krieg sich befindet. Und das Land ist ziemlich groß. Es gibt eine Bevölkerung von über 40 Millionen, die Wirtschaft ist nicht die beste, und natürlich ist es der Regierung unheimlich schwer, in dieser Situation noch weitere große Schritte zu unternehmen. Das Problem ist, dass aus meiner Sicht auch nicht bis zum Ende formuliert wird, wohin und wie genau diese Politik gehen soll, und diese Vermittlung zwischen der oberen Schicht der politischen Klasse, zwischen den lokalen Repräsentanten und zwischen der Bevölkerung ist sehr kompliziert und nicht ganz gut ausgebaut. Genau hier sollten diese Reformen helfen, die Dezentralisierungsreform und so weiter, das heißt, mehr Macht an die Kommunen, und es wurden die bestimmten Schritte gemacht, aber der Weg ist noch super lang und den Ukrainern kann man nur die Ausdauer wünschen.
    Heckmann: Was würden Sie denn persönlich sagen? Haben Sie noch Hoffnungen darauf, dass die Ukraine einen demokratischen, rechtsstaatlichen Weg geht?
    Sumlenny: Ja. Die Ukraine ist ein demokratisches Land und es gibt hier natürlich den Rechtsstaat. Die von Ihnen genannten Probleme wie die Korruption und so weiter, die gibt es hier und die sind zum Teil massiv. Aber die Ukraine ist eine Demokratie. Es gibt hier mehrere Parteien. Es gibt hier die freien Wahlen. Die Bürgermeister bekommen jetzt mehr und mehr Rechte und werden direkt gewählt. Die Probleme, die es hier gibt - es gibt das große Erbe noch aus der Zeit der Sowjetunion und aus den Zeiten zum Beispiel von Präsident Janukowytsch. Es gibt die Staatsorgane, die bis zu unreformierbar sind, wie zum Beispiel die Staatsanwaltschaft. Und es gibt die anderen Staatsorgane, die sehr wohl gut reformierbar sind und unter den Reformen sich befinden, wie zum Beispiel die Polizei, die ganz neu reformiert wird und wo ganz neue junge Leute kommen. Das Problem ist, dass der Staat sehr arm ist, und wenn Sie einem Staatsbeamten beim Zoll oder in einer Verwaltung das Gehalt von 40 Euro pro Monat anbieten, und das sind die Einstiegsgehälter hier im Lande, dann muss man sich nicht wundern, dass nach einigen Monaten die Leute entweder gehen, oder ganz verzweifelt ihre Arbeit weitermachen. Hier sollte die EU ein bisschen mehr Unterstützung zeigen, vielleicht gewisse Fonds anbieten, die diese Leute unterstützen können, vielleicht Zuschüsse an die Gehälter zahlen, weil es nicht möglich ist, wenn in einem Land ein Beamter bis zu den höchsten Beamten sein legales Gehalt auf Hungerebene bekommt und entweder hungern muss, oder in die Versuchung geht, korrupt zu werden, was auch natürlich passieren kann.
    Heckmann: Sergej Sumlenny war das, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, zum Ausgang des Referendums in den Niederlanden. Herr Sumlenny, danke Ihnen für das Gespräch.
    Sumlenny: Ja, danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.