Freitag, 29. März 2024

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Referendum in der Türkei
"Es wird ein neuer Geist eintreten"

Wenn sich am Sonntag eine Mehrheit der Türken für eine Verfassungsänderung entscheide, werde die Politik in der Türkei künftig im Wesentlichen von anti-westlichen Inhalten bestimmt, sagte Hans-Georg Fleck, Leiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Istanbul, im DLF. Klar sei: Egal wie das Referendum ausfalle, eine Entspannung zwischen der Türkei und der EU sei nicht zu erwarten.

Hans-Georg Fleck im Gespräch mit Stephanie Rohde | 15.04.2017
    Anhänger der "Evet"-Bewegung für ein "Ja" beim anstehenden Referendum tanzen am 14.04.2017 in Istanbul (Türkei) bei einer Wahlveranstaltung.
    Experten erwarten für den Ausgang des Türkei-Referendums ein knappes Ergebnis. (dpa/picture alliance/ Michael Kappeler)
    Stephanie Rohde: Morgen könnte also für einige ein Traum wahr werden, der für andere ein wahrer Albtraum ist – die Türkei könnte ein Präsidialsystem werden, ein Traum des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der verspricht, die Krise in der Türkei zu beenden, wenn er mehr Macht bekommt. Die Gegner dieser Verfassungsänderung, für die wäre das ein Albtraum, die Türkei würde zur Diktatur, warnen sie. Darüber möchte ich jetzt sprechen mit Hans-Georg Fleck, der die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung in Istanbul leitet. Guten Morgen!
    Hans-Georg Fleck Guten Morgen, Frau Rohde!
    Rohde: Herr Fleck, in der Türkei wird ja seit Wochen über fast nichts anderes mehr gesprochen als diese Verfassungsreform. Sie leben und arbeiten ja in Istanbul, sprechen auch mit vielen Menschen dort. Haben Sie den Eindruck, dass die Türkinnen und Türken hinreichend informiert sind über das, was da tatsächlich im Referendum steht?
    Fleck: Ich denke, wenn man sich informieren wollte, möchte, gab es genügend Möglichkeiten, das durch die Medien zu tun. Es gab genügend Informationen. Inwieweit das von den Menschen genutzt worden ist und inwieweit die Tragweite dieser Veränderungen, die anstehen, bewusst geworden ist, das ist eine andere Frage. Vor allen Dingen, die entscheidende Frage aus meiner Sicht bleibt, es sind ja nicht nur Veränderungen ins Werk gesetzt, sondern es wird ein neuer Geist eintreten, wenn das Ja beim Referendum obsiegen sollte.
    "Ein Geist, der die Türkei wegführt von der kemalistischen Tradition"
    Rohde: Was meinen Sie mit neuer Geist?
    Fleck: Das ist ein Geist, der die Türkei wegführt von der kemalistischen Tradition, von dem Demokratisch-Säkularen, das die 17. Republik, von der man auch spricht, gekennzeichnet hat, und eine neue Türkei erscheint am Horizont, und diese neue Türkei wird bestimmt werden von im Wesentlichen anti-westlichen politischen Inhalten, und das ist, glaube ich, das, was viele Leute nicht genau aussprechen, aber was sie befürchten. Die Veränderungen, die eingeleitet werden, gehen eben weit über die Verfassungsänderung hinaus, und die Einführung der Präsidialdemokratie à la Turca, wie Erdogan sie vorhat, ist schon alleine schlimm genug, wenn man die demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien, die dann eben im wesentlichen Maße angegriffen werden, zugrunde legt, aber noch viel schlimmer, denke ich, ist das, was uns geistig droht von dieser neuen Türkei.
    Rohde: Aber de facto ist der Präsident ja schon seit 2014 sehr mächtig, und er regiert seit einiger Zeit auch im Ausnahmezustand per Dekret. Also ist das nicht jetzt schon der Fall?
    Fleck: Natürlich, die Tendenzen sind schon vollkommen gegeben, und die Tatsache, dass er eben seit Jahr und Tag mit absoluter Mehrheit regieren konnte und regieren kann und dass er jetzt zusätzlich noch die Ausnahme, die Bedingungen des Ausnahmezustandes dazu hat, die es ihm ermöglicht, einzugreifen in die Gesetzgebung, das sind natürlich Dinge, die eigentlich gar keine Veränderungen notwendig machen, aber es ist eben die Zielsetzung von Herrn Erdogan seit vielen Jahren, auf einen starken Präsidenten hinzuarbeiten, und das entscheidende Argument dabei für den türkischen Bürger ist Stabilität, Sicherheit, dieses neue System würde die Instabilität im Lande ein für allemal beseitigen, und das ist das wesentliche Versprechen, was Erdogan gegeben hat.
    "Entscheidende Probleme der Türkei werden überhaupt nicht adressiert"
    Rohde: Für wie überzeugend halten Sie dieses Versprechen?
    Fleck: Das werden wir sehen, was in den Tagen nach dem 16. April passieren wird, ob da tatsächlich die Unruhe, die in vielen Gebieten der Türkei nach wie vor herrscht – jeden Tag können Sie in den Medien lesen von Auseinandersetzungen zwischen der PKK und Sicherheitskräften in den südöstlichen Teilen der Türkei –, ob das von heute auf morgen abgestellt werden kann, ob das überhaupt auf die Art und Weise abgestellt werden kann, ich habe da natürlich erhebliche Zweifel dran, weil mit den Verfassungsänderungen – und das ist auch von Gegnern der Verfassungsänderung immer wieder eindeutig in den Vordergrund gerückt worden –, mit diesen Verfassungsänderungen werden entscheidende Probleme der Türkei überhaupt nicht adressiert.
    Insofern kann man nicht erwarten, dass dadurch Veränderungen eintreten, was die Kurdenfrage anbelangt, was die wirtschaftliche Entwicklung des Landes anbelangt, was das desolate Bildungssystem anbelangt. Diese Dinge werden nicht adressiert durch die Verfassungsreform, und die Mehrheiten, die man bräuchte, um die Veränderungen, die positiven Veränderungen, in diesen Dingen in Gang zu setzen, die hat man ohnehin schon. Also insofern kann man sich nicht damit rausreden, dass man erst jetzt die Möglichkeit hätte, Dinge zu tun, die man schon seit Jahr und Tag hätte tun müssen.
    "Erdogan ist ein Politiker, der davon lebt, dass Polarisierung herrscht"
    Rohde: Lassen Sie uns gucken, was ein Ja außenpolitisch bedeuten würde. In Deutschland wird das ja so wahrgenommen, dass Erdogan auch wegen des Referendums die Konfrontation mit Europa gesucht hat, zum Beispiel mit zahlreichen Nazivergleichen. Wenn Erdogan jetzt Erfolg haben sollte, wird er dann eher auf Deeskalation setzen, also auch im Fall des inhaftierten Journalisten Deniz Yücel?
    Fleck: Ich glaube, dieser Hoffnung sollten wir uns nicht hingeben.
    Rohde: Warum nicht?
    Fleck: Erdogan ist ein Politiker, der davon lebt, dass Zuspitzung, Polarisierung herrscht, und er wird, sobald an einer Front Ruhe eingetreten ist, wird er eine neue Front eröffnen. Ich gehe nicht davon aus, dass wir im Verhältnis zwischen der Türkei und Europa, was die türkische Seite anbelangt, wesentliche Verbesserungen haben werden. Es gibt natürlich Versuche jetzt von gemäßigteren Kräften, sagen wir mal aus der AKP, aus der Regierungspartei, jetzt ein neues Szenario zu eröffnen, einen Neubeginn der Beziehungen, aber ich glaube, nachdem der Präsident sich so eindeutig positioniert hat in seinen Antipositionen gegen Europa, gegen die Europäische Union, Androhungen sozusagen, die Todesstrafe wieder einzuführen – das hat er in den letzten Tagen wiederholt getan –, also das kommt bestimmt, und wenn das kommt, dann weiß man, das kann nicht dazu führen, dass die Beziehung zwischen Europa, der Europäischen Union und der Türkei in die Situation zurückversetzt werden, die wir, sagen wir mal, vor zehn Jahren gehabt haben.
    Also ich erwarte keine Verbesserung, ich erwarte keine Entspannung des Verhältnisses zwischen der Europäischen Union und der Türkei, weil das nicht im Sinne der Herrschaftsanlage von Recep Tayyip Erdogan ist.
    Rohde: Wenn die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler mit Nein stimmt – darüber wollen wir auch noch sprechen –, glaube Sie dann, dass Erdogan, der ja immer die Macht des Volkes beschwört, dieses Nein des Volkes auch ernstnehmen wird?
    Fleck: Er beschwört nicht die Macht des Volkes, sondern er beschwört die Macht der Mehrheit des Volkes, von der er sich getragen sieht. Also das ist eben ein spezifisches Demokratieverständnis, was er hat, das die Minderheiten ignoriert und das mit einer pluralistischen Demokratie gar nichts zu tun hat.
    Wenn das Nein obsiegen sollte, wird man andere Wege finden, gar nicht unbedingt illegaler oder verfassungswidriger Natur, um eine Situation herzustellen, die genau das gewährleistet, was er mit dem Referendum erreichen wollte. Also er wird dann sicher relativ bald Neuwahlen ausschreiben, und er wird hoffen, dass er dann eine parlamentarische Mehrheit bekommt, die es ihm ermöglicht, das, was das Verfassungsreferendum bewirken sollte, auf den parlamentarischen Wege herbeizuführen. Also das ist eine Atempause, die dann eintreten würde, die aber prinzipiell gar nichts ändert, und ich stimmte dem zu, was eben in Ihrem eingespielten Beitrag gesagt wurde, Gewalt wird es sicher nicht geben, es wird auch keine Großdemonstration geben. Dafür ist die große Mehrheit der türkischen Bürger durch die Ereignisse seit dem Putsch im Juli 2016 viel zu sehr eingeschüchtert.
    "Wir sind hier täglich Angriffen in der Systempresse der AKP ausgesetzt"
    Rohde: Dann noch eine letzte Frage mit Bitte um eine kurze Antwort: Wie sieht Ihre persönliche Arbeit aus? Glauben Sie, dass Ihre Stiftung noch frei arbeiten können wird?
    Fleck: Wir sind hier täglich Angriffen in der Systempresse der AKP ausgesetzt, Beschuldigungen, die deutschen Stiftungen seien der verlängerte Arm des Bundesnachrichtendienstes, sie kooperierten mit terroristischen Organisationen. Das sind große Worte. Ob diesen großen Worten nach dem 16. April Taten folgen werden, das werden wir sehen, und wir müssen uns geistig und physisch darauf vorbereiten, dass man in der Türkei versuchen wird, Sündenböcke zu suchen, und die deutschen politischen Stiftungen sind da in ganz vorderer Reihe.
    Rohde: Sagt Hans-Georg Fleck, Leiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Istanbul. Danke für das Gespräch!
    Fleck: Vielen Dank, Frau Rohde!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.