Dienstag, 19. März 2024

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Referendum in der Türkei
"Unter AKP-Wählern grummelt es"

Bei dem anstehenden Referendum in der Türkei gehe es nicht um die Person des türkischen Präsidenten, sondern darum, die Zukunft des konservativ-islamischen Blocks zu sichern, sagte Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung im DLF. Das Referendum sei auch das Versprechen eines wirtschaftlichen Aufschwungs von Erdogan an seine Wähler.

Kristian Brakel im Gespräch mit Christoph Heinemann | 24.03.2017
    Anhänger der AKP feiern den Wahlsieg
    Auch wenn die türkische Wirtschaft ins Straucheln gerate, könne es noch dauern, bis sich das im Wahlverhalten niederschlage, sagte Kristian Brakel von Büro in Istanbul der Heinrich-Böll-Stiftung im DLF. (dpa/picture-alliance/Cem Turkel)
    Christoph Heinemann: Woran denkt man, wenn man die folgende Aussage hört? "Europäer können sich künftig nicht mehr sicher auf der Straße bewegen." Klingt nach einer üblichen Drohung einer Terrororganisation. Sie stammt allerdings vom türkischen Staatspräsidenten. Erdogan hatte einen Bedingungssatz formuliert: "Wenn ihr euch weiterhin so benehmt, wird morgen kein einziger Europäer, kein einziger Westler auch nur irgendwo auf der Welt sicher und beruhigt einen Schritt auf die Straße setzen können."
    Noch vor einigen Jahren galt der Mann als Hoffnungsträger. Seine islamische AK-Partei wurde hierzulande als türkische CSU verharmlost. Wer das heute noch behauptet, beleidigt die Christsozialen damit. Islamisierung, Polizeistaat, Krieg gegen Kurden, Wirtschaftsflaute und Währungsschwäche, das sind Stichworte der schwachen Bilanz des sogenannten starken Mannes. Dazu bereitet Erdogan nach westlicher Bewertung das Ende der parlamentarischen Demokratie in der Türkei vor. Und er bleibt auch bei seinen Äußerungen über Deutschland.
    Der Leiter des Istanbuler Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, Kristian Brakel. 
    Der Leiter des Istanbuler Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, Kristian Brakel. (picture-alliance / dpa / Mika Redeligx)
    Kristian Brakel leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Vor dieser Sendung habe ich ihn im Zusammenhang mit Erdogans Terrordrohung gefragt: Muss man den Mann ernst nehmen?
    Kristian Brakel: Man muss natürlich nicht ernst nehmen, dass es gleich wirklich Konsequenzen hat. Er appelliert hier an ein nationalistisches Narrativ, was in der Türkei, was aber auch unter vielen Türken im Ausland verbreitet ist – vor allen Dingen in dieser Idee, dass die Türkei so wirkungsmächtig ist in ihrer Politik, dass sie weit über die eigenen Grenzen hinaus Konsequenzen für diejenigen, die ihr Böses wollen, hervorrufen können.
    "Es gibt schon immer in der Türkei ein sehr nationalistisches Narrativ"
    Heinemann: Ist diese Maßlosigkeit, die dahinter steckt, etwa auch die Nazi-Vorwürfe, ist das berechnet?
    Brakel: Ich glaube, dass vieles davon berechnend ist, allerdings nicht alles. Erdogan selber ist auch ein sehr impulsiver Mensch und ich glaube, wir müssen vor allen Dingen auf diesen Narrativ gucken, der da gestrickt wird. Es gibt schon immer in der Türkei einen sehr nationalistischen Narrativ, der besagt, die Türkei kann sich nur auf sich selbst verlassen, sie ist umgeben von Feinden, entstanden aus der türkischen kolonialen Vergangenheit beziehungsweise dem Wunsch der Kolonialmächte, die Türkei zu zerschlagen, und das nutzt die AKP, nutzt Erdogan jetzt, um das in einen neuen Kontext zu stellen, durchaus auch mit islamistischen Botschaften zu verstärken und so eine ganz neue Bewegung, auch zum Teil so einen Mob auf der Straße anzuheizen. Und ich glaube, das ist eher das Gefährliche, nicht so sehr, dass die türkische Politik etwas macht, sondern dass man im Prinzip der Straße das letzte Wort gibt, und die kann natürlich durchaus Entscheidungen treffen, deren Herr nicht unbedingt die türkische Politik ist.
    Heinemann: Was heißt das für die Institutionen? Braucht die Türkei einen autoritären Führer?
    Brakel: Nein. Ich glaube, grundsätzlich davon auszugehen, dass es Länder gibt, die nicht zur Demokratie fähig sind, oder die keine Demokratie wollen, ist ein bisschen seltsam. Alle Menschen haben, glaube ich, die gleichen Grundbedürfnisse, in einem gerechten Land zu leben, in einem Land zu leben, in dem die Justiz funktioniert. Aber natürlich gibt es in der Türkei eine lange politische Tradition von nicht unbedingt Demokratie, sondern zumindest von autoritären Führern - Atatürk selber ist ja nun auch lange ein Ein-Parteien-Herrscher gewesen – und zumindest von einer Demokratie, die stark von Leitplanken begrenzt wird und wo die Herrschaft des Rechts stark von der Herrschaft des Stärkeren bestimmt wird.
    Türkei: wirtschaftlich nicht so autark wie Russland
    Heinemann: Und die Erfahrungen mit der parlamentarischen Demokratie waren ja auch nicht immer die besten: Hohe Armut und immer wieder hat sich das Militär in die Politik eingemischt.
    Brakel: Ja, das ist wahr, und natürlich darauf basiert ja auch der Narrativ, den die AKP jetzt bemüht, den Erdogan bemüht, zu sagen, guckt, das was es damals gab, das war gar keine echte Demokratie, das war eine Demokratie, die das Militär beschnitten hat, weil echte Demokratie, die haben wir jetzt und da können wir sehen, die Mehrheit der Bevölkerung, die möchte die AKP, die möchte die Islamisten an der Macht haben, und wir schaffen es dann auch noch, das zu erfüllen, was die Kemalisten nicht geschafft haben, nämlich zum Beispiel den Wohlstand zu bringen. Nur dieses Versprechen kann Erdogan immer weniger einlösen. Wir sehen das ja an der strauchelnden türkischen Wirtschaft. Das bedeutet, dieser Narrativ gerät langsam, sehr langsam ins Rutschen, und da ist die Frage, wie lange man ihm das noch abkauft.
    Heinemann: Warum kann er das nicht mehr einhalten?
    Brakel: Schauen Sie auf die türkischen Wirtschaftsdaten. Die Arbeitslosigkeit ist so hoch, wie schon seit Jahren nicht mehr. Die Investitionen aus dem Ausland gehen massiv zurück und die Türkei ist ein Land, was sehr, sehr stark, anders als etwa Russland, sehr, sehr stark von äußeren wirtschaftlichen Partnern abhängig ist, denn die Türkei hat fast gar keine eigenen Bodenschätze. Die Türkei ist aufgrund ihrer geographischen Lage besonders wirtschaftlich gestärkt worden dadurch, dass sie Handel mit vielen Partnern, vor allen Dingen mit Europa betreibt. Das bedeutet, von dem kann man sich nicht so einfach entkoppeln.
    "Viele hoffen, dass es nach dem Referendum wieder bergauf geht"
    Heinemann: Ist die Krise bei den einfachen Leuten angekommen?
    Brakel: Zum Teil ja, aber noch nicht unbedingt ins Bewusstsein eingesickert. Wenn Sie sich Umfragen anschauen, wo Leute, die Bevölkerung gefragt wird, sind Sie mit der jetzigen wirtschaftlichen Lage zufrieden, sagt trotzdem immer noch eine Mehrheit der AKP-Wähler, ja, prinzipiell sind wir damit zufrieden. Aber ich glaube, das hat sehr stark damit zu tun, dass viele Leute immer noch darauf hoffen, dass diese Instabilität, die auch den wirtschaftlichen Verfall produziert, dass man die in den Griff bekommt, dass vielleicht nach dem Referendum das Ganze wieder bergauf geht. Weil das ist ja etwas, was die Regierung verspricht. Aber auch unter AKP-Wählern grummelt es durchaus. Nur die Frage, wie lange wird es dauern, bevor das sich wirklich im Wahlverhalten niederschlägt, ich glaube, das kann noch sehr, sehr lange dauern. Schauen wir nach Russland: Auch da haben die Sanktionen durchaus dafür gesorgt, dass Menschen unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen leiden müssen, aber es hat nicht unbedingt dafür gesorgt, dass die Leute unzufriedener mit Putin geworden sind.
    "Die Dominanz des konservativ-islamischen Blocks sichern"
    Heinemann: Was glauben Sie denn, wie würde sich die Türkei mit Erdogans Präsidialsystem entwickeln?
    Brakel: Ganz klar: Wenn Sie sich dieses Präsidialsystem angucken, oder das, was jetzt als Verfassungsreform vorgelegt wird, dann geht es nicht nur einfach darum, von einem parlamentarischen auf ein präsidentielles System umzusteigen, sondern es geht darum, die Gewaltenteilung im Staat aufzuheben. Es geht darum, dass zum Beispiel keine unabhängige Gerichtsbarkeit mehr möglich ist. Die Verfassungsrichter würden in großer Zahl vor allen Dingen entweder von der AKP beziehungsweise ihren Ministern als auch vom Präsidenten ernannt werden. Da gibt es keine Unabhängigkeit mehr.
    Und ich glaube, was wir im Prinzip sehen würden, wäre eine Institutionalisierung dessen, was jetzt schon seit ungefähr einem Jahr läuft, also seitdem der Ausnahmezustand nach dem Putsch verhängt wurde, dass der Präsident die Masse der wichtigen Entscheidungen, die Masse der relevanten Entscheidungen alleine trifft und dass sich das System immer weiter auf eine Person verengt beziehungsweise auf zwei Parteien. Und ich glaube, das ist etwas, was man hier ein bisschen ausblendet. Es geht nicht nur um Erdogan. Es geht im Prinzip darum, die Dominanz des konservativ-islamischen Blocks für die Zukunft zu sichern, der dann antreten würde in Parlaments- beziehungsweise in Präsidentschaftswahlen antreten würde gegen vor allem die CHP, die größte Oppositionspartei, die aber immer nur bei 25 Prozent liegt, die für viele Leute auch aus der Opposition nicht wählbar ist. Das bedeutet, die AKP oder ihre Nachfolgepartei hätte immer die Mehrheit bei solchen Wahlen.
    "Einzelne Gülenisten waren an diesem Putsch beteiligt"
    Heinemann: Sie haben die polizeistaatlichen Methoden angesprochen, vor allen Dingen auch, um Anhänger der Gülen-Bewegung auszuschalten. Welche Rolle spielte diese Bewegung bei dem Putsch? Kann man das eigentlich inzwischen klar sagen?
    Brakel: Man kann es nicht klar sagen, weil die Regierung sehr, sehr wenig dazu tut, für eine transparente Aufklärung dieser Fragen zu sorgen. Was wir aber schon wissen ist, dass auf jeden Fall einzelne Gülenisten an diesem Putsch beteiligt waren. Es gibt dieses ganz berühmte Bild, wo der ehemalige stellvertretende Polizeichef von Istanbul, ein Gülenist, aus einem dieser Putschpanzer gezogen wird. Das bedeutet, es gibt auf jeden Fall eine Verbindung.
    Was wir nicht wissen ist, ob es, so wie die türkische Regierung sagt, wirklich eine organisationsweite Verbindung ist, also eine Verbindung, die Gülen selber aus Amerika angeordnet hat. Das ist unbekannt. Aber dass es Einzelpersonen gab, die dahin eine Verbindung hatten und die auch vielleicht über andere Strukturen der Gülen-Bewegung untereinander schon vor dem Putsch verbunden waren, das ist klar und, glaube ich, auch bewiesen.
    Brakel: Einfluss der gemäßigten, diplomatischen Kräfte bleibt gering
    Heinemann: Herr Brakel, wie aus einer anderen Welt erscheint die Botschaft des Vize-Regierungschefs Mehmet Simsek. Er sagte, er hoffe, dass sich die Rhetorik nach den Wahlkämpfen in der Türkei und den EU-Mitgliedsstaaten wieder beruhigen wird und wir zu einer positiven Agenda zurückkehren können. Der Wunsch, europäische Standards zu erreichen, sei in der Türkei immer noch stark. Erkennen Sie in Ankara eine Arbeitsteilung zwischen Schreihälsen auf der einen Seite und den Diplomaten?
    Brakel: Ja. Es gibt vor allen Dingen zwei dieser diplomatischen Aushängeschilder - Herr Simsek ist der eine davon, der andere ist der Europaminister, Herr Celik -, die sich, glaube ich, darüber bewusst sind, dass die aktuelle Politik großen Schaden anrichtet, die auch noch aus einer politischen Vergangenheit kamen, aus einer politischen, diplomatischen Beziehung mit Europa aus Mitte der 2000er, als man eher auf Dialog gesetzt hat. Aber ganz klar: Natürlich geht es auch darum, dass sie versuchen, zurückzurudern von den schrillen Tönen, die zuvor angeschlagen worden sind. Nur wer ist derjenige, der am Ende des Tages die Entscheidungen trifft? Das sind weder Herr Simsek, noch Herr Celik. Deswegen muss man leider sagen: Ja, es gibt vielleicht eine Arbeitsteilung, es gibt vielleicht auch den Versuch von einzelnen Ministern, das Ganze ein bisschen runterzukühlen, was sehr positiv ist, aber ihr Einfluss bleibt leider gering.
    "Selbst in schwierigen politischen Zeiten müssen wir den Dialog aufrecht erhalten"
    Heinemann: Kann die Heinrich-Böll-Stiftung in der Türkei frei arbeiten?
    Brakel: Ja. Die Stiftungen, alle politischen Stiftungen, nicht nur die Böll-Stiftung, haben in der Türkei schon immer ein etwas schwieriges Leben gehabt. Das war auch unter allen Regierungen so, das ist nicht erst heute so. Die Stiftungen sind aktuell sehr vielen Angriffen vor allem der türkischen Medien ausgesetzt, die sie verdächtigen, mit der PKK verbunden zu sein, oder ähnlichen Unsinn. Wir können immer nur für Transparenz werben. Wir können sagen, alle unsere Gelder zum Beispiel teilen wir natürlich dem türkischen Innenministerium mit. Man kann jederzeit zu uns kommen und sich darüber informieren, was wir machen. Und im Prinzip sind die Stiftungen eine Art Instrument des deutsch-türkischen Dialoges.
    Wir sind diejenigen, die vor Ort sind und die versuchen, auch in die deutsche Gesellschaft hinzuwirken und zu sagen, selbst in schwierigen politischen Zeiten müssen wir den Dialog aufrecht erhalten. Deswegen können wir immer nur hoffen, dass auch die türkische Seite das sieht und deswegen eigentlich eher auf uns zukommt und uns nicht als Feind betrachtet. Weil wie gesagt: Die Wirkungsmöglichkeiten der Stiftungen in der Türkei sind begrenzt. Aber das, was wir tun wollen, würde ich sagen, ist eigentlich eher sowohl zum Nutzen der deutschen Bevölkerung als auch der türkischen Bevölkerung.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.