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Referendum über Unabhängigkeit
"Yes Scotland" geht in den Endspurt

Am Donnerstag können über vier Millionen Schotten für oder gegen die Union mit Großbritannien stimmen. In Umfragen wird eine deutliche Mehrheit gegen die Loslösung prognostiziert. Doch in den letzten Wochen holte die Unabhängigkeitsbewegung "Yes Scotland" auf.

Von Jochen Spengler | 15.09.2014
    Die Unabhängigkeistbewegugn Yes Scotland trägt traditionell blau/weiß und hofft auf einen Austritt aus Großbritannien
    Die Unabhängigkeistbewegugn Yes Scotland trägt traditionell blau/weiß und hofft auf einen Austritt aus Großbritannien (AFP/Leon Neil)
    Rory zieht an seiner Zigarette. Er steht draußen auf dem Bürgersteig vor der hässlichen Fassadenfront an der unübersehbar auf blauem Grund das große, weiße Yes prangt, das in diesen Tagen Schottlands Straßenbild beherrscht. "Yes Shettleston - wirbt das örtliche Wahlkampfbüro der "Ja"-Kampagne in dem Arbeiter-Stadtteil in Glasgows Eastend - "Ja" zur Unabhängigkeit.
    "Ich denke es wird eng, aber ich glaube, es wird ein sicherer 'Ja'-Sieg."
    Ein Kopf-an-Kopf-Rennen signalisieren die Umfragen. Die Yes-Seite hat gewaltig aufgeholt und, so glaubt Rory, wird am Ende vorn liegen. Rory ist untersetzt, mit brav gescheiteltem, dunklem Haar. An seinem Sweatshirt steckt ein Yes-Button. Er tritt die Zigarette aus und stapft voraus ins Wahlkampfbüro. Ein gutes halbes Dutzend meist junger Leute wieselt herum zwischen alten Schreibtischen, Sesseln und sich stapelnden Kartons mit "Ja"-Fähnchen, Zeitungen und Postkarten.
    Sein Vater sage Nein zur Unabhängigkeit, erzählt der 20-jährige freimütig und setzt sich auf einen Stuhl, der vom Sperrmüll stammen könnte. Aber er stehe links und er wolle etwas verändern, ein gerechteres Land haben.
    "Sozialkürzungen, Atomwaffen, illegale Kriege - das will das Volk im United Kingdom nicht, aber nur Schottland hat jetzt die Chance es zu ändern und die müssen wir nutzen."
    Es geht dem Politikstudenten um Selbstbestimmung und Demokratie
    Neben überzeugten Nationalisten haben sich auch Grüne, Sozialisten, Radikale, Kapitalisten, Unorganisierte und Idealisten zu einer breiten, bunten und elektrisierten Bewegung geformt. Rory ist seit eineinhalb Jahren dabei, ehrenamtlich.
    "Wir sind eine Basisbewegung"
    Wenn am Ende ein "Ja" herauskomme, sei dieses Belohnung genug. Dann wirds hektisch im Wahlkampf-Büro: Aufbruch zur Ochsentour - jeder darf mithelfen beim Flugblattverteilen und Argumentieren - die Termine stehen im Internet; an diesem sonnigen frühen Nachmittag sind es sieben Leute, die bepackt mit Aufklebern, Broschüren und Werbezetteln, sich in zwei Vauxhalls quetschen.
    Am Steuer des einen Autos erzählt David, ein hagerer 24-Jähriger mit kurzem blonden Haar und Brille, dass man viermal täglich losfahre, um den ganzen Wahlbezirk Shettleston abzudecken.
    "Wir sind eine Basisbewegung, die nicht von Politikern geleitet wird. Keiner von uns ist Politiker oder gewählt."
    Doch David arbeitet seit sieben Jahren als lokaler Organisationschef für die Schottische Nationalpartei. Die SNP hat vor drei Jahren im Regionalparlament die absolute Mehrheit erobert und nun das Referendum durchgesetzt.
    "Wenn Sie mich vor sechs Monaten gefragt hätten, ob wir erfolgreich sind, hätte ich geantwortet, ein 'Ja'-Votum wäre ein bisschen hoch gegriffen. Aber jetzt bin ich sehr zuversichtlich, dass es Schottland packt".
    Schwere Überzeugungsarbeit bei älteren Frauen
    Und sein Mitstreiter Graham ergänzt:
    "Wo wir heute hinfahren, da lagen wir im Januar noch mit 5 zu 1 zurück. Heute sind die Menschen dort 2 zu 1 für die Unabhängigkeit. "
    Ältere Frauen seien am schwersten zu überzeugen, sie hätten die meisten Vorbehalte gegen Veränderungen. Ein Eindruck, der sich mit den Erkenntnissen der Meinungsforscher deckt.
    Nach zehn Minuten: Mainhill Avenue. Eine in die Jahre gekommene Doppelhaussiedlung. Die Aktivisten schwärmen aus; anhand des Wahlregisters werden systematisch die Adressen abgeklappert. Nur jene Bürger, die beim früheren Besuch angegeben haben, noch unentschieden zu sein, werden erneut aufgesucht. Eine effiziente Strategie, die die "Ja"-Kampagne in ganz Schottland verfolgt.
    Viele vergebliche Versuche. Die meisten Bürger sind noch nicht zuhause. Dann aber hat David Glück. Ein bislang unentschiedener ist inzwischen zum "Ja"-Wähler geworden.
    Auch Tony, einen kräftigen Rentner mit kurz geschorenem Schädel, muss David gar nicht erst zutexten.
    Tony wollte eigentlich mit Nein stimmen. Aber nun will er Nigel Farage, den englischen Führer der rechtspopulistischen Unabhängigkeitspartei UKIP loswerden. Und deswegen ist er nun doch für schottische Unabhängigkeit, und man habe ja das Öl und den Whisky und Ihre Majestät - also viel Glück.
    Rory hat heute weniger Glück. Ein Mann wäscht sein Auto und sagt, er werde überhaupt nicht abstimmen. Und eine Abfuhr gibt es auch beim Nächsten.
    Auf Rorys Floskel - ich möchte sie nicht stören - kommt prompt die Antwort: 'Sie stören mich aber'. Und was der 61-jährige Tommy Donegan, ein Musiker, sagt, der vor seinem Kombi lehnt, ermutigt Rory auch nicht gerade.
    "Ich werde sehr entschieden mit Nein stimmen, weil ich glaube, dass wir ein starkes vereinigtes Königreich sind und es immer waren. Ich sehe keinen Grund, uns selbst zu schwächen. Ich wäre sehr besorgt bei einem 'Ja'",
    sagt Tommy und verschwindet im Haus. Ein Flugblatt wollte er auch nicht.