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Referendum zum Präsidialsystem
Wahlbeginn für Türken in Deutschland

Rund 1,4 Millionen in Deutschland lebende Türken können ab sofort über die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei abstimmen. Zum Wahl-Auftakt in Berlin gehen die Wähler-Meinungen über das Referendum auseinander. Vor den Wahllokalen ist die Stimmung aufgeheizt - und die Ja-Sager treten sehr selbstbewusst auf.

Von Kemal Hür | 27.03.2017
    Abstimmung über die Verfassungsreform: Eingang eines Wahllokals im Hof des türkischen Generalkonsulats in Berlin.
    Abstimmung über die Verfassungsreform: Eingang eines Wahllokals im Hof des türkischen Generalkonsulats in Berlin. (dpa / picture-alliance / Jutrczenka)
    Der Rentner Haci Gün steht seit 8 Uhr am Eingang des türkischen Generalkonsulats in Berlin, obwohl er weiß, dass die Stimmabgabe erst ab 9 Uhr beginnt. Gün lebt seit 45 Jahren in Deutschland und möchte unbedingt der Erste sein, der heute abstimmt.
    "Wir sind alle für die Türkei hier, für unsere Zukunft. Ich bin für meine Kinder, meine Enkel, meine Heimat, meine Fahne hierhergekommen. Ich liebe meine Heimat und wollte den Stolz erleben, als Erster abzustimmen."
    "Hier gibt es auch Agenten"
    Auf dem Hof des Generalkonsulats wurden neun Container als Wahlkabinen aufgestellt. Bevor die Abstimmung beginnt, stehen etwa 60 Personen in der Schlange. Hinter Haci Gün steht eine Frau, die zunächst nicht mit uns sprechen möchte. Es könnte Streit geben, sagt sie. Dann traut sie sich aber doch.
    "Also ich werde Nein sagen zu dem Referendum…"
    Zekiye Kocak kann ihren Satz kaum aussprechen. Ein Mann fällt ihr ins Wort und sagt: "Hier gibt es auch Agenten". Man müsse aufpassen, mit wem man rede. Andere pflichten ihm bei, wollen die Frau nicht aussprechen lassen. Kocak lässt sich aber nicht unterbrechen.
    "Jeder Mensch soll in der Türkei die gleichen Rechte haben. Es ist egal, woran jeder glaubt, was ist, gleiche Rechte. Ich komme mit Menschen ganz gut klar. Ich mag nicht die Menschen, wenn sie vor anderen Menschen keinen Respekt haben."
    Deutsche Medien verbreiten nur Lügen über die Türkei
    Sobald wir das Mikrofon ausschalten, werden wir von etwa 10 umstehenden Männern als Lügenpresse angepöbelt. Die deutschen Medien würden nur Lügen über die Türkei und ihren Präsidenten verbreiten, sagen sie. Auf Nachfrage, welche deutschen Medien sie denn meinen, stellt sich heraus, dass keiner von ihnen deutsche Medien konsumiert.
    Gegenüber dem Eingang auf der anderen Straßenseite hat sich eine kleine Gruppe mit Plakaten aufgestellt. Auf einem Plakat steht: "Eine Partei im Parlament vom Abstimmungsprozess wieder ausgeschlossen."
    Die Protestierenden von der Berliner Initiative "Vor allem das Leben" meinen die linkskurdische HDP. Deren Vorsitzende und mehr als zehn Abgeordnete sitzen im Gefängnis. Und die HDP darf keine Mitglieder in die Wahlkommission entsenden. Ihre Vertreter haben nur Beobachterstatus, sagt Hilmi Kaya Turan von der Initiative.
    "In der Türkei werden alle möglichen Aktionen der Nein-Sager durch staatliche Kräfte verhindert. Es ist unmöglich, dagegen vorzugehen. Darauf wollten wir die Öffentlichkeit in Kenntnis setzen."
    "Die Türkei braucht viel Stärke von den Landsleuten"
    In einem der neun Container nimmt ein Wahlhelfer seinen Stimmzettel, geht damit in die Wahlkabine und ruft der versammelten Presse entgegen, er würde das Ja-Feld ankreuzen. Damit wolle er der über 90-jährigen Knechtschaft der Türkei durch die Imperialisten ein Ende setzen. Nationalistische Worte, die der türkische Präsident im Wahlkampf permanent benutzt. In der ersten Stunde der Stimmabgabe treten die Ja-Sager sehr selbstbewusst auf. Die Wahl soll auch ein Denkzettel für Deutschland sein, nachdem Auftritte von türkischen Ministern abgesagt wurden, sagt dieser Wähler.
    "Die Türkei braucht viel Stärke von den Landsleuten, die gerade hier in Europa sind. Wir müssen zusammenbleiben. Und dafür habe ich gewählt. Ich hoffe, an erster Stelle Deutschland und alle anderen europäischen Länder werden sich erinnern, was sie falsch gemacht haben."
    Etwa eine Stunde nach Beginn der Abstimmung müssen die Pressevertreter anders als vorher vom Generalkonsulat angekündigt, das Wahlgelände verlassen. Nur das staatliche türkische Fernsehen und eine halbstaatliche Nachrichtenagentur dürfen die Wahl weiter ungehindert beobachten.