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"Reform auf leisen Sohlen"

Nach Einschätzung des Gesundheitsökonomen Jürgen Wasem will die Koalition im Gesundheitswesen langfristig die Weichen für ein Kopfprämienmodell stellen. Bei wachsenden Ausgaben müssten die Krankenkassen vermehrt Zusatzbeiträge erheben, die damit schleichend zu einer Prämie mutierten.

Jürgen Wasem im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 23.09.2010
    Dirk-Oliver Heckmann: Monatelang hatte die Koalition Entscheidungen aufgeschoben, auch mit Blick etwa auf die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen. Entsprechend sind die Umfragewerte im Keller. Jetzt, nach Ende der Sommerpause, will Kanzlerin Merkel Entschlossenheit demonstrieren. Punkt für Punkt werden strittige Themen endlich angepackt. Das Energiekonzept mit der Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke, die Reform von Hartz IV, die vom Bundesverfassungsgericht angemahnt worden war, gestern hat Bundesminister Philipp Rösler von der FDP seinen Gesetzentwurf zur Gesundheitsreform vorgelegt. Die Opposition protestierte lautstark. Was aber ist aus fachlicher Sicht davon zu halten? - Dazu am Telefon jetzt der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem, Professor für Medizinmanagement an der Uni Duisburg-Essen. Guten Morgen!

    Jürgen Wasem: Guten Morgen!

    Heckmann: Herr Professor Wasem, viele sprechen davon, dass es sich bei der Reform in Wahrheit ausschließlich um eine Beitragserhöhung handelt. Ist die Reform also wirklich eine Reform?

    Wasem: Also auf der Ausgabenseite ist es bestimmt keine Reform, da ist es nur kurzfristige Kostendämpfung, die das Defizit vom kommenden Jahr ein bisschen begrenzen soll. Auf der Einnahmenseite ist es schon mehr als nur Beitragssätze erhöhen. Das ist zwar der wichtigste Teil, aber die Koalition will langfristig die Weichen stellen für ein Pauschalprämien-, für ein Kopfprämienmodell und macht das relativ geschickt, so dass ich von einer Reform auf leisen Sohlen sprechen würde.

    Heckmann: Inwiefern?

    Wasem: Nun, im nächsten Jahr gibt es zunächst mal keine neuen Zusatzbeiträge. Weil eben der Beitragssatz erhöht wird, fließt mehr Geld in den Gesundheitsfonds, kriegen die Kassen mehr Geld. Aber dann soll ja der Beitragssatz festgeschrieben bleiben und das heißt, die Einnahmen des Gesundheitsfonds wachsen dann nur noch ganz langsam und damit auch das, was die Kassen an Zuweisungen bekommen. Die Ausgaben der Krankenkassen werden aber stärker wachsen und dieses Defizit, was dann entsteht, das müssen die Kassen dann künftig über einen Zusatzbeitrag finanzieren und der wird dann ab 2012 Jahr für Jahr wachsen. Wenn man sich das langfristig so weiterdenkt - es kann natürlich sein, dass die Politik dann nach einer Bundestagswahl das wieder ändert -, aber wenn man das so weiterdenkt, würde so das System langsam und schleichend, aber stetig in ein Prämienmodell überführt werden. Ich habe mal ausgerechnet: unter mir ziemlich plausiblen Annahmen würde der Zusatzbeitrag 2020 schon bei 75 Euro im Monat pro Mitglied liegen.

    Heckmann: Das heißt, Sie würden sagen, das ist die Einführung der sogenannten Kopfpauschale durch die Hintertür, gegen die sich die CSU ja so gewehrt hatte?

    Wasem: Ja, ich würde schon sagen. Wenn das Modell so beibehalten wird, ist das genau auf mittlere Sicht ein Modell, bei dem zwar nicht nur noch Prämie da ist, sondern wir haben ja immer noch die 15,5 Prozent Beitragssatz an den Fonds und damit einen starken einkommensabhängigen Anteil, aber der wachsende Teil ist dann der Zusatzbeitrag und der mutiert langsam dann zu einer Prämie.

    Heckmann: Erstmals ist auch der Arbeitgeberanteil eingefroren. Ist es aber nicht auch richtig, die Gesundheitskosten zu entkoppeln von den Arbeitskosten?

    Wasem: Die meisten Ökonomen würden auch sagen, dass das richtig ist. Die meisten Ökonomen würden zusätzlich auch sagen, dass faktisch sowieso natürlich der Arbeitgeberanteil Lohnbestandteil ist, denn die Arbeitgeber können ja das Geld auch nicht zweimal ausgeben. Sprich: wenn die Arbeitgeberkosten in Zukunft nicht mehr so schnell wachsen, bleibt auch etwas mehr Spielraum für Tariferhöhungen.

    Heckmann: Die SPD spricht von einem Ende des solidarischen Gesundheitssystems und von einem Brandbeschleuniger für die Zwei-Klassen-Medizin. Ist an dieser Beschreibung etwas dran, oder ist das übertrieben?

    Wasem: Nun, das mit der Zwei-Klassen-Medizin finde ich eine schwierige Sache, weil hier geht es ja nicht um die Versorgungsseite, wo wir die Zwei-Klassen-Medizin ja in der Tat haben, sondern hier geht es ja rein um die Finanzierungsseite. Was natürlich richtig ist: an anderen Teilen dieser Gesundheitsreform wird der Privatversicherung durchaus Gutes getan, weil die freiwillig Versicherten aus der gesetzlichen Krankenversicherung jetzt wieder schneller in die Privatversicherung wechseln können. Das schwächt natürlich tendenziell die gesetzlichen Krankenkassen. Und in dem Gesetz, was parallel beraten wird, nämlich zu den Arzneimittelpreisen, da wird jetzt erstmals geregelt, dass die Privatkassen von den Erfolgen der Verhandlungen der gesetzlichen Krankenkassen mit der Pharmaindustrie profitieren, indem die niedrigeren Preise dann auch für die Privatversicherung gelten. Insofern da ist es richtig, da profitiert die Privatversicherung. An dem Zusatzbeitragsmodell selber, denke ich, kann man nicht festmachen, dass es Zwei-Klassen-Medizin ist.

    Heckmann: Die Koalition argumentiert, es sei nun mal die Wahrheit, Gesundheit werde teuerer wegen des medizinischen Fortschritts und weil die Gesellschaft immer älter werde, und erstmals gebe es ja auch einen sozialen Ausgleich, und das sei viel gerechter als das, was heute existiert.

    Wasem: Richtig ist - das muss man betonen -, es soll einen sozialen Ausgleich geben. Anders wäre so ein wachsender Zusatzbeitrag auch gar nicht vorstellbar. Wenn Sie meine Zahl von eben sich noch mal überlegen, dass der Zusatzbeitrag nach meinen Berechnungen 2020 um 75 Euro im Monat liegt, das könnte sich ohne Sozialausgleich ja ein Rentner mit 700 Euro Rente überhaupt nicht leisten, das ist ja ganz klar. Insofern macht ein Sozialausgleich den Zusatzbeitrag erst wieder gerecht. Aber wir haben natürlich mit den einkommensabhängigen Beiträgen, die die Krankenkassen bisher erhoben haben, sowieso ein gerechtes System, und so wie der Sozialausgleich konzipiert ist, macht er es leider nicht gerechter.

    Ich will Ihnen ein Beispiel schildern, um das deutlich zu machen. Nehmen wir einen Rentner, der hat 1100 Euro Rente und sonst nichts und kriegt damit vielleicht keinen Sozialausgleich. Ein anderer hat 700 Euro Rente und hat nebenbei aber noch Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung oder Kapitaleinkünfte in nennenswertem Umfang. Beim Sozialausgleich, so wie Rösler ihn konzipiert hat, guckt man nur auf die Rente und nicht das, was nebenbei noch verdient wird. Das heißt, da kann auch genau der letztlich Wohlhabendere Anspruch auf Sozialausgleich haben und der letztlich Ärmere nicht. Also da wird auch Potenzial für eine gerechte Lösung verschenkt.

    Heckmann: Kann man denn wenigstens damit rechnen, dass dieser soziale Ausgleich so wie geplant kommt, also die Deckelung auf zwei Prozent des Einkommens, und dass es dann auch so bleibt, oder muss man damit rechnen, dass dieser soziale Ausgleich dann auch von der Kassenlage abhängt?

    Wasem: Das, finde ich, wird eine der spannenden Fragen. Bezeichnend ist ja, die Koalition drückt sich letztlich vor der Aussage, wo das Geld für den Sozialausgleich herkommen soll. Das soll bis 2014 aus der sogenannten Liquiditätsreserve kommen. Die ist nun eigentlich für was anderes gedacht, nämlich wenn die Einnahmen schwanken, dass dann immer genug Geld in der Kasse ist, dass man sozusagen nicht knapp bei Kasse wird. Diese Liquiditätsreserve soll für die nächsten vier Jahre erst mal geplündert werden für den Sozialausgleich, und ab 2015 - so sieht es der Gesetzentwurf vor - sollen dann Steuermittel da reinkommen. Die spannende Frage wird natürlich: wenn der Zusatzbeitrag steigt - und das ist ja zu erwarten -, dann werden auch die Ansprüche an den Sozialausgleich stetig steigen und damit das, was der Finanzminister dazu tun müsste, so dass eine der ganz spannenden Fragen sein wird: wie schnell wird sozusagen aus den zwei Prozent Begrenzung, ab der der Sozialausgleich greift, drei Prozent oder vier Prozent. Und klar ist: je höher die Grenze angehoben wird, umso mehr gerät das System in eine soziale Schieflage.

    Heckmann: Letzte Frage, Herr Wasem. Philipp Rösler behauptet, die Einschnitte seien gleichmäßig verteilt auf Wirtschaft, auf Versicherte, Pharmaindustrie, Ärzte und Kliniken. Ist das so aus Ihrer Sicht?

    Wasem: Im Großen und Ganzen würde ich Recht geben, mit der einen Einschränkung: die privat Versicherten kommen nicht nur ungeschoren davon, sondern für die wird sogar noch was Gutes getan. Ansonsten würde ich ihm Recht geben: zwischen Arbeitgebern und Versicherten und auch bei den Gruppen der Leistungserbringer kommen eigentlich alle dran.

    Heckmann: Über die Gesundheitsreform haben wir gesprochen mit dem Gesundheitsökonomen Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen. Herr Professor Wasem, ich danke Ihnen für das Gespräch.

    Wasem: Tschüss!