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Reformation 500
"Wir können Luther nicht einfach vereinnahmen"

Ob Freiheitskämpfer, Gottessucher oder Sprachschöpfer: Ein eindeutiges Lutherbild gebe es nicht, auch nicht anlässlich des 500-jährigen Jubiläums 2017, kritisierte die Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg im Dlf. Jeder deute Luther so, wie es ihm gerade passe, statt ihn im Spiegel seiner Zeit zu interpretieren.

Dorothea Wendebourg im Gespräch mit Christiane Florin | 28.07.2017
    Dorothea Wendebourg von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin
    Dorothea Wendebourg von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin (Dorothea Wendebourg)
    !!Christiane Florin: "So viele Luthers" heißt Ihr neue Buch. Ist das ein Seufzer oder ein Freudenschrei?
    Dorothea Wendebourg: Als ich mich durchgearbeitet hatte, war es am Ende wirklich ein Seufzer. Am Anfang war es belebend, so verschiedene Lutherbilder vor sich zu sehen. Aber je mehr es wurden – und je willkürlicher sie wurden, je zeitgeistabhängiger die Lutherbilder wurden – desto frustrierender wurde es auch, diese Menge zu registrieren.
    Christiane Florin: Wie viele Luthers haben Sie gezählt?
    Wendebourg: 60? 70? Keine Ahnung.
    Florin: Was sind die dominanten Lutherbilder?
    Wendebourg: Das wechselt mit den Zeiten. Man kann sagen: Im 16., 17., frühen 18. Jahrhundert ist es Luther, der Reformator der Kirche – der das Evangelium wiederentdeckt hat, der den Gottesdienst gereinigt hat und dergleichen mehr.
    Dann, von ungefähr 1800 ab, wird es der Luther der Aufklärung, der die Gewissensfreiheit gebracht habe, die Bildung gebracht habe, Toleranz gebracht habe und so weiter und so fort. Das prägt die nächsten Jahrzehnte, geht eigentlich bis heute nie völlig unter.
    Aber daneben schiebt sich dann im späteren Verlauf des 19. und vor allen Dingen im frühen 20. Jahrhundert der Deutsche Luther – Luther als der Inbegriff der Deutschen, der alle ihre guten – auch ihre schlechten – Wesenszüge repräsentiere. Und der Deutschland auf der Straße der Kultur, des Sieges und so weiter führt, bis in die Nazizeit, wo er dann der braune Deutsche Luther wird.
    "1617 wird in gewisser Weise das historische Jubiläum erfunden"
    Florin: Darüber sprechen wir im Einzelnen gleich noch. Was mich bei der Lektüre auch überrascht hat, das sind die verschiedenen Feieranlässe – weil ja aus der heutigen Perspektive es so aussieht, als sei vor allem der Reformationstag gefeiert worden. Aber es wird die Confessio Augustana gefeiert, es wird der Reichstag zu Worms gefeiert, natürlich der Geburtstag – und dann eben auch nicht nur die Hundertsten, sondern auch Fünfzigsten, also 450 Geburtstag und so weiter. Warum hat diese Vielfalt abgenommen?
    Wendebourg: Ich weiß gar nicht, ob sie abgenommen hat, zumindest schwankt sie wohl. Zunächst mal hat man nur den Beginn der Reformation gefeiert – 1617 wird in gewisser Weise das historische Jubiläum erfunden mit der Hundertjahrfeier der Reformation. Die feiert man dann 50 Jahre später noch einmal. Und andere Gruppen merken plötzlich: Oh, historisches Jubiläum, das ist eine tolle Erfindung! Machen wir auch! Die Jesuiten ziehen nach, die Buchdrucker ziehen nach. Und zunächst mal ist es die Reformation selbst, die man festmacht am Thesenanschlag. Dazu der Augsburger Religionsfrieden, der natürlich auch wirklich sehr wichtig ist, von 1555. Die Legalisierung der Reformation wird 100 Jahre später wieder gefeiert.
    Und dann kommt im Laufe des 19. Jahrhunderts, ja, das Jubiläum überhaupt so sehr in Mode, dass alle Leute dauernd Jubiläum feiern. Das bedeutet auch eine Personalisierung der Jubiläen – jetzt fängt man an, den Geburtstag großer Leute zu feiern. Früher hat man den Geburtstag Luthers nicht gefeiert. Aber 1883 wird er dann ganz groß und pompös gefeiert. Naja, und dann ist man schon mal dabei, dann feiert man den Geburtstag Melanchtons, dann feiert man 1909 ganz groß Calvin und so weiter und so fort.
    Und in dem Zusammenhang sagt man sich: Na, dann gibt es doch noch andere wichtige Daten, gerade im 20. Jahrhundert – 1921, Reichstag zu Worms. 1925, die Hochzeit Luthers. Das ist eine Konjunktur der Jubiläen, die wir dem Historismus des neunzehnten Jahrhunderts verdanken und die sich dann in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts noch einmal steigert.
    Florin: Sie haben jetzt "man" gesagt – wer ist das? Die Kirche? Der Staat, beziehungsweise die weltliche Obrigkeit? Sind es Bürgerinitiativen, die Basis?
    Wendebourg: Für das 16., 17. Jahrhundert haben Sie ja praktisch die Identität von Gesellschaft und Kirche. Wenn man sagt "da feiert man", da feiern wirklich alle. Die Initiativen gehen zum Teil von unten aus, zum Teil von oben, zum Teil von Universitäten auch. Dann kommen im Allgemeinen Direktiven von oben, von den kirchlichen Behörden der Landesherren – wir haben ja das landesherrliche Kirchenregiment in der Zeit – und dann feiert aber auch wirklich alles mit!
    Es gibt große Gottesdienste, es gibt große Umzüge, es gibt Konzerte, es gibt Theaterstücke – das habe ich erst kürzlich entdeckt. Die Leute schmücken ihre Häuser mit Girlanden, mit Blumen, es gibt Feuerwerke. Man kann sich gar nicht vorstellen: Die haben da drei Tage meistens hintereinander gefeiert!
    Prof. Dr. Dorothea Wendebourg ist Kirchenhistorikerin am Lehrstuhl für Kirchengeschichte mit Schwerpunkt Mittlere und Neuere Kirchengeschichte/ Reformationsgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin.
    Prof. Dr. Dorothea Wendebourg ist Kirchenhistorikerin am Lehrstuhl für Kirchengeschichte mit Schwerpunkt Mittlere und Neuere Kirchengeschichte/ Reformationsgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin. (Die Hoffotografen)
    "1817 feiern auch Juden und Katholiken mit"
    Florin: Das hatte also Volksfestcharakter?
    Wendebourg: Ja, richtig Volksfest. Und mit dem Zurücktreten fürstlicher Initiativen werden es immer mehr Bürgerinitiativen. So ein Jubiläum, zum Beispiel 1817, ein sehr großes Reformationsjubiläum, das wird ganz stark getragen von den Bürgern selbst. Die wollen feiern und die schmücken ihre Häuser und die sammeln Geld. Übrigens, ganz interessant: 1817 feiern auch Juden und Katholiken mit. Da ist das Reformationsjubiläum so stark entkonfessionalisiert, so stark bestimmt als Jubiläum der Aufklärung, der Gewissensfreiheit und so weiter, dass natürlich andere Gruppen sich da auch angesprochen fühlen. Und die Juden schmücken ihre Häuser auch und geben auch Geld für Arme; und die Katholiken auch.
    Florin: Was feiern die Juden?
    Wendebourg: Die feiern den Aufbruch in die Aufklärung, in die Toleranz und so weiter, den Martin Luther gebracht hat.
    Florin: Luther als Vorreiter der Judenemanzipation?
    Wendebourg: Ja.
    Florin: Trotz seiner Schriften?
    Wendebourg: Ja, die waren den Leuten überhaupt nicht bekannt in jener Zeit; oder nur ganz wenigen. Da muss man vorsichtig sein: Unsere Optik, die sozusagen nach 1933, nach 1945 ansetzt, ist nicht die Optik der Zeit. Im 19. Jahrhundert, überhaupt, auch im 18. kannte man Luthers gräuliche späte Judenschriften entweder überhaupt nicht oder es gab nur bestimmte Spezialisten, die sie aus den Gesamtausgaben kannten. Seit 1616, wenn ich mich recht entsinne, gibt es überhaupt keinen Nachdruck mehr der späten Judenschriften.
    Die Kirche hat sie mehr und mehr in den Hintergrund geschoben, auch durchaus kritisiert, insbesondere seit dem Pietismus, und gesagt: Luther hat am Anfang eine judenfreundliche Schrift geschrieben, an der orientieren wir uns. Die schrecklichen Dinge, die er später geschrieben hat, die buchen wir ab. Das ist nicht der Reformator, den wir haben wollen. Und so war der judenfeindliche Luther lange Zeit überhaupt nicht präsent oder nur Einzelnen, spielt auch bei diesen Jubiläen gar keine Rolle – und deswegen können eben Juden wie Katholiken da auch mitmarschieren.
    Es ist dann erst die völkische Bewegung des späten neunzehnten Jahrhunderts, die die späten Judenschriften ausgräbt, Florilegien daraus zusammenstellt, also Zitatensammlungen in die Welt schiebt, für eine steigende antisemitische Bewegung Luther fruchtbar macht – aber auch das noch mit sehr eingeschränktem Erfolg. In der Weimarer Republik, nach dem Versailler Vertrag, erleben wir eine Riesenkonjunktur der Berufung auf den judenfeindlichen Luther. Und dann haben wir in den 30er Jahren erstmals Nachdrucke. Das fängt an mit den Völkischen und den Nationalsozialisten selber, die sagen: Wir müssen hier Nachdrucke machen.
    Aber noch 1917 haben wir den großen jüdischen Philosophen Hermann Cohen, der zum Jubiläum 1917 eine große Eloge auf Martin Luther schreibt – als den Bringer der Aufklärung, der deutschen Sprache und so weiter und so fort.
    Florin: 1933 wurde der 450. Geburtstag von Martin Luther gefeiert – diese Feier des Deutschen Martin Luther, Sie haben es ja gerade schon gesagt, die hat nicht in der Nazizeit begonnen. Es gab seit 1925 eine Buchreihe mit dem Titel "Der deutsche Führer". Erster Volksheld war Luther aber auch schon vorher, natürlich im ersten Weltkrieg gab es diesen deutschen Luther. Und als damals, 1933, das "Horst-Wessel-Lied" und "Ein feste Burg" zusammen auf Jubiläumsveranstaltungen gespielt wurden – inwieweit wurde das vom Publikum mitgetragen?
    Wendebourg: Das ist sehr schwer zu beantworten. Es gab zweifellos hinreichende Zahlen von Menschen, die das mitgetragen haben, die das auch mitgesungen haben. Ob das große Zahlen waren, ob das gar Mehrheiten waren – da hätte ich meine Zweifel. Aber wir haben kein wirkliches statistisches Material dafür. Dass sehr viele Leute den nationalen Aufbruch, den man in Hitlers Regierungsantritt sah – alle Folgen konnte man ja auch noch nicht übersehen – und die Reformation, die im selben Jahr ein Jubiläum feierte, was man als geradezu providenzielle Zusammenfügung betrachtete, dass viele Leute das ineinander gespiegelt haben irgendwie, der Aufbruch von 1517 und jetzt der Aufbruch aus dem Elend nach dem Versailler Vertrag, aus dem Elend der Weimarer Republik und so weiter, das wurde fast ein und dieselbe Bewegung.
    Florin: Die andere deutsche Diktatur, die DDR, die hat auch ein Lutherbild geformt - vordergründig überraschend. Luther war erst mal ja allenfalls zweite Wahl, hinter Thomas Münzer. Und dann, 1983, wurde er der frühbürgerliche Revolutionär, Erich Honecker hat darüber gesprochen. Kann jeder mit Luther machen, was er will?
    Wendebourg: Man hat mittlerweile das Gefühl, es ist so. Jeder, der irgendwie eine Idee pushen möchte - vermarkten möchte, kann man geradezu sagen - sucht sich offensichtlich eine Galionsfigur, mit deren Namen sich solche eine Idee promoten lässt. Luther scheint dazu wie kein Zweiter geeignet zu sein, jedenfalls in Deutschland.
    "Eigentlich hat die DDR gefremdelt mit Martin Luther"
    Florin: Was denn genau macht ihn so geeignet?
    Wendebourg: Tja, die Frage stelle ich mir auch. Er ist zweifellos … er ist ein interessantes Individuum mit einer interessanten Lebensgeschichte, ein sehr selbständiges Individuum. Er ist in vieler Hinsicht stark, hat Weltgeschichte geschrieben – das kann man ja, ob man sie gut oder schlecht findet, das kann man nicht leugnen!
    Er ist eben in jeder Hinsicht ein Großer. Das wird man wohl sagen müssen, auch in den negativen Dingen, die mit ihm verbunden sind. Man kriegt ihn nicht klein – und dann hat man ihn eben gerne auf der eigenen Seite. Das kann man in der DDR ganz deutlich sehen: Eigentlich hat die DDR gefremdelt mit Martin Luther. Die haben, völlig zu Recht, gesagt: Es ist Thomas Münzer, der sozusagen als proletarischer Held erschien. Den Theologen hat man gerne zurück geschoben. Während Luther eher der Verräter der Bauern und Thomas Münzers genannt wurde.
    Dann hat aber die DDR bemerkt: Münzer ist zu schmal als Traditionsbasis. Und wir, als ein neuer, ohnehin identitätsschwacher Staat, brauchen größere Identitätsfiguren in unserer Geschichte. Und die größte die wir haben auf dem Boden jener Länder, die die DDR ausmachen - das ist nun mal Martin Luther. Und deswegen ist man dazu gekommen zu sagen: wir müssen den umwerten. Es reicht nicht, ihn als Verräter zu klassifizieren, sondern wir müssen sagen, es gäbe ja auch Thomas Münzer gar nicht ohne Luther. Luther ist der erste, der die Veränderungen die ja im 16. Jahrhundert gekommen sind, angestoßen haben, der Träger der frühbürgerlichen Revolution, die die Voraussetzung der späteren proletarischen Revolution ist. Da es keine proletarische Revolution gibt ohne frühbürgerliche, ist sozusagen Martin Luther die Voraussetzung für Karl Marx, für Lenin und so weiter und so fort. Und da hat man natürlich dann eine ganz tolle Ahnengeschichte für dieses mickrige, kleine Land DDR.
    Dorothea Wendebourg
    Dorothea Wendebourg (Andrea Heinze)
    Florin: Wenn wir jetzt mal auf das Jubeljahr 2017 schauen – ist da, ja, ist da dieser politische Luther der Interessante? Ist da der Theologe Luther, der Gottsucher Luther derjenige, der wieder nach vorne rückt? Oder gibt es ein ganz neues Lutherbild?
    Wendebourg: Nein. Ein neues Lutherbild gibt es 2017 nicht. Ich sehe überhaupt kein Lutherbild im Singular bei diesem Jubiläum. Es ist ein sehr diffuses Jubiläum, bei dem der immense Aufwand, den man getrieben hat – zehn Jahre, Dekade voraus – in keinem Verhältnis steht, finde ich, zu dem Ergebnis eines Reformations- oder Lutherbildes, das man irgendwie in den Raum stellen könnte. Sondern es sind die verschiedensten Gruppen, die eben nach wie vor ihren Luther bewerben – oder die ihn klein machen.
    "Zunächst war Luther ein frommer Mönch, ein Reformator der Kirche"
    Florin: Wird ihm das denn nicht gerade gerecht? Also, wenn ich es mal freundlich ausdrücken will, ein plurales Lutherbild?
    Wendebourg: Es wird ihm gerecht, insofern er viele Seiten hatte. Ich denke aber doch, dass unter diesen Seiten solche sind, die wichtig und zentral sind für sein Wirken und seine Wirkung und andere, von denen das weniger gilt. Und dass er in erster Linie Theologe war und ein Mann, der die Kirche reformieren wollte. Jedes Bild, das das nicht im Zentrum hat, scheint mir doch an ihm vorbei zu gehen. Man muss immer hinzufügen: Dann kam das und das auch noch, gewollte und ungewollte andere Effekte. Aber im Zentrum war er eben doch zunächst ein frommer Mönch, ein frommer Evangelischer, ein Reformator der Kirche – mit allen Folgen, die das natürlich in einer Gesellschaft hat, wo Kirche und Gesellschaft faktisch deckungsgleich sind.
    Florin: Aber zu fromm eben für eine Gesellschaft wie heute, mit einer hohen Zahl an Menschen, die keiner Konfession angehören. Und selbst diejenigen, die noch Kirchenmitglieder sind, würden sich ja selber auch nicht mehr in der Mehrheit als so fromm bezeichnen. Also dieser Luther, von dem Sie jetzt sprechen, also dieser Theologe, dieser Gottsucher, derjenige, der mit Gott ringt – der ist doch sehr weit weg von uns?
    Wendebourg: Ja, aber das gehört ja dazu! Wenn wir ihn so ernst nehmen, wie er war, dann wird uns klar: Wir können den nicht einfach vereinnahmen. Der sitzt nicht mit uns auf einer Schulbank. Sondern das ist ein Mensch des 15., 16. Jahrhunderts, dessen Frömmigkeit eben auch diese Zeit spiegelt. Und dass Vieles an ihm uns fernliegt, das müssen wir aushalten.
    Florin: Man kann jetzt schon voraussehen, was beim Festakt am Reformationstag dieses Jahres so gesagt werden wird – nämlich, dass Luther als Vorkämpfer für die Menschen- und Bürgerrechte gilt, als Kämpfer für die Gewissensfreiheit, aber auch für die Freiheit insgesamt. 1817, da klagte ein Prediger – ich zitiere mal aus Ihrem Buch:
    "Man macht sich einen Glauben nach eigenem Gefallen. Ein Christentum ohne Christus, eine Religion ohne Bibel."
    "Man wird interessanter, wenn man seine Konflikte klar austrägt"
    Ähnliche Kritik kann man auch an dem Reformationsjubiläum 2017 üben, wenn Sie sagen, der Theologe kommt nicht vor, Gott kommt kaum vor. Ist nicht das Klagelied die Begleitmusik aller Jubiläen?
    Wendebourg: Also ich würde nicht sagen: das kommt gar nicht vor. Sondern ich sage: Es ist so diffus, dass wir das haben, aber tausend andere Dinge auch daneben haben – ohne dass jemand fragt, was nun wirklich das Zentrale gewesen ist. Ich bin gar nicht so sicher, wie das beim Festakt am Ende sein wird. Was mir aufgefallen ist, ist, wie oft Politiker, wenn sie von Luther sprechen, diesen kirchlich-theologischen Aspekt ansprechen. Dass das Bedürfnis und auch die Chuzpe, Luther einfach zu vereinnahmen für eigene gesellschaftspolitische Ziele, bei den Politikern sehr viel zurückhaltender befriedigt wird. Es sind viel mehr Kirchenleute, die meinen, sie müssten jetzt die Bedeutung Martin Luthers für die Eisenbahn und dergleichen hervorziehen. Politiker scheinen mir da, angefangen vom alten und dem neuen Bundespräsidenten, sehr viel behutsamer, sehr viel sachgerechter oft zu sprechen.
    Florin: Warum sind die Kirchenleute so, wie Sie sie gerade geschildert haben?
    Wendebourg: Weil sie so gern "everybody's darling" sein möchten.
    Florin: Also gerade nicht anecken wollen?
    Wendebourg: So ist es. Und sozusagen wir wollen überall diejenigen sein, die ganz vorne mit dabei sind.
    Florin: Vielleicht hat das aber auch mit dem Bedeutungsverlust der Kirchen zu tun: Man will sich geschlossen präsentieren will, wenn schon der Rest der Gesellschaft so unfreundlich zu einem ist?
    Wendebourg: Das hat nie funktioniert. Man wird interessanter, wenn man seine Konflikte – zivilisiert, aber klar - austrägt. Und an und für sich gehört das zum Protestantismus dazu! Wir verdanken uns einem Streit, wenn man so will.
    Florin: Was machen Sie am 31. Oktober 2017?
    Wendebourg: Och, ich bin da bei dem Festakt eingeladen, ich gucke mir das Happening an!
    Dorothea Wendebourg: So viele Luthers. Die Lutherjubiläen des 19. Und 20. Jahrhunderts. Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt 2017. 294 Seiten, 34 Euro.
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