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Reformation 500
Fremder großer Bruder

Bücher, Ausstellungen und Staatsakte - das Gedenken an den Thesenanschlag wirkt bildungsbürgerlich. Können junge Leute mit dem Reformator überhaupt etwas anfangen? Eine Umfrage unter Tübinger Theologiestudenten zeigt: Luther ist Vorbild, Problem - und weit entfernter Verwandter.

Von Samuel Dekempe | 28.10.2016
    Martin Luther-Statue in dem vom japanischen Künstler gebauten Haus in Eisenach
    Würde der Reformator heute seine Möbel auch in einem schwedischen Einrichtungshaus kaufen? Martin Luther-Statue in dem vom japanischen Künstler gebauten Haus in Eisenach. (picture alliance/dpa/Arifoto Ug)
    Luther war ein nicht mehr ganz jugendlicher Rebell: Er durchkreuzte die Pläne des eigenen Vaters und er rebellierte gegen den Heiligen Vater in Rom. Ist Luther also ein Vorbild für heutige junge Erwachsene, denen Forscher er Pragmatismus als Revolutionsgelüste nachsagen? Unter den Tübinger evangelischen Theologiestudenten ist Luther allgegenwärtig. Sie beschäftigen sich täglich mit seinen Texten, seiner Theologie, versuchen ihn zu verstehen. Für den 26-jährigen Studenten Maximilian Schmid-Lorch ist Luther zum Vorbild geworden, fast schon ein Familienmitglied.
    "Ich muss sagen, dass Luther für mich, seit ich das erste Mal mit ihm in Berührung gekommen bin, zu einem Vater und Bruder quasi entwickelt hat. Zu einem Gesprächspartner, mit dem ich sicher nicht in allem immer einer Meinung bin, der für mich aber trotzdem immer ganz wichtige Impulse gibt und mit dem ich auch gerne im Gespräch bleiben möchte", sagt er.
    Maximilian Schmid-Lorch liest jeden Tag eine Bibelstelle und die Auslegung Luthers dazu. Er sagt, es gebe ihm Kraft, was Luther da geschrieben hat. Dabei ist nicht alles Gold was glänzt. Hinter den theologischen Impulsen und Errungenschaften Luthers, die nächstes Jahr im Reformationsjubiläum groß gefeiert werden, steckt auch die Intoleranz gegenüber Juden, Behinderten und Frauen.
    "Da krieg' ich Schnappatmung"
    "Zum Beispiel hat er gesagt: 'Die größte Ehre, die das Weib hat, ist allzumal, dass die Männer durch sie geboren werden.' Also da krieg ich Schnappatmung, Wut und wirklich Zustände, wenn ich sowas lese."
    So Katharina Wahl. Sie studiert im siebten Semester evangelische Theologie. Aber Luther habe auch viel geschaffen, das heute noch von großer Bedeutung sei: So habe seine Bibelübersetzung dazu geführt, dass die Menschen erstmals selbst lesen konnten, was genau in der Bibel steht - ohne auf einen Priester angewiesen zu sein:
    "Ich finde, das ist ein wichtiger Punkt, auch für uns heute, dass wir in Bildung weiterhin investieren und Menschen befähigen, sich selbst ein Urteil zu bilden in unterschiedliche Richtungen und nicht nur zu schlucken, was einem gesagt wird und vorgegeben wird und auf der anderen Seite eben, dass es auch wichtig ist zu befähigen, dass Menschen Interesse entwickeln."
    "Das verstehe ich nicht an ihm, warum eben, wenn er meint, dass die Bevölkerung mündig gemacht werden soll, warum er dann ausgerechnet dazu aufruft, den weltlichen Herrschern die Treue zu halten und sich in absolute Abhängigkeit weiterhin zu begeben", so Jonas Bassler. Er ist mit Luther aufgewachsen, seine Mutter ist Pastorin und auch jetzt im Studium, mit 21, muss er die Schriften des Reformators lesen. Vor allem die politische Ansichten Luthers stören ihn.
    Er sagt: "Ich selber ziehe aus meiner Religion, aus meiner Religiosität, aus meiner religiösen Bildung einen sehr starken politischen Impetus. Und wenn ich dann Luthers Theologie lese und mir dann anschaue, welche politischen Impulse ich daraus nehmen könnte, dann widerstrebt mir das zutiefst. Dieser Antimodernismus, diese Intoleranz gegenüber allem, was damals nicht weiß, christlich und männlich war und was sich in seinen Schriften zeigt, kann heute nicht mehr der Impetus sein, nach dem wir leben."
    Denn das hieße, dass man sich den Herrschern völlig unterordnen und andere Religionen auf schärfste verurteilen müsste. Kein Wunder, dass Jonas Bassler ein Problem mit Luther hat. Auf der anderen Seite wird der Reformer aber als Rebell gesehen, der sich radikal gegen Obrigkeiten und die Kirche stellte und Veränderungen forderte.
    Religion ist eine höchst individuelle Sache
    Der Tübinger Religionspädagoge Friedrich Schweitzer sieht hier eine Verbindung, mit der viele junge Erwachsene eigentlich etwas anfangen könnten.
    "Es ist aber so, dass die heutigen Jugendlichen nicht so sehr zum Rebellieren neigen. Luther, der Revolutionär, der es wagt, ganz allein Kaiser und Obrigkeit und Kirche herauszufordern, ist eine Vorstellung, die sicher allen Jugendlichen imponiert, aber der sie sich eigentlich selbst gar nicht so nahe oder verwandt fühlen."
    Das gleiche gelte auch für die Sprache Luthers, obwohl viele junge Leute genau die Glaubensauffassung vertreten, die schon Luther vertrat.
    "Die jungen Menschen drücken das sprachlich freilich ganz anders aus, als mit den traditionellen theologischen und kirchlichen Begriffen", sagt Friedich Schweitzer. "Sie denken weder von Erlösung her oder gar von Rechtfertigung her, das ist für viele ein fremder Begriff. Aber ihr Grundgefühl ist tatsächlich durchaus das, dass Religion eine höchst individuelle Sache ist, dassim Glauben nur jeder für sich selbst entscheiden kann, was Luther ein unmittelbares Verhältnis zu Gott genannt hat. Das nehmen die Jugendlichen vielfach ganz selbstverständlich in Anspruch. In Deutschland weit über die evangelische Kirche hinaus, ich nehme ähnliches auch bei jungen katholischen Frauen und Männern wahr, die ein ähnliches Verständnis von Glaube beschreiben."
    Der persönliche Glaube stehe also im Mittelpunkt und spiele eine wichtige Rolle im Zugang zu Luther. Maximilian Schmid-Lorch hat genau hier einen Zugang zu den Texten Luthers gefunden.
    "Was mich fasziniert hat, war, dass ich mich fast reinlegen konnte wie in ein gemachtes Bett in diese Texte. Dass ich gemerkt hatte, da ist jemand, der sich mit den gleichen Problemen beschäftigt, die ich habe, der die gleichen Fragen hat, die ich habe und der da hilfreiche Antworten hat und der ernstmacht mit denkerischen Ansätzen."
    Froh, dass Luther Vergangenheit ist
    Besonders eindrucksvoll findet er den Ausspruch Luthers: "Hier stehe ich und kann nicht anders". Die Worte, die der Reformator vor dem Reichstag in Worms gesagt haben soll, anstatt seine Thesen zurückzunehmen.
    "Ich finde das ganz beeindruckend, dass man sagt, es gibt einfach Sachen, da kann ich nicht anders, da bin ich so eingenommen von einer Überzeugung, dass alles andere eine Verletzung meines Gewissens wäre."
    Luther imponiert ihnen, ein Held ist er für sie nicht.
    Katharina sagt: "Also wenn ich zu Luthers Zeiten gelebt hätte, dann wäre ich sicher nicht gerne eine Jüdin gewesen, oder eine Frau beziehungsweise seine Ehefrau."
    Und Maximilian ergänzt: "Der konnte schon manchmal ziemlich unleidig sein. Also wenn man guckt, wie er zum Teil auch mit seinen Freunden umgesprungen ist. Der war halt ein Mensch, aus Fleisch und Blut."
    Die jungen Theologinnen und Theologen sind beeindruckt von Martin Luther - und zugleich froh, dass er seit 500 Jahren Vergangenheit ist.