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Reformation quergedacht
"Das Gewissen kann natürlich auch irren"

Was wir für richtig und für falsch halten, das sagt uns unser Gewissen. Schon Säuglinge haben dafür ein Gespür. Für Erwachsene sei es sinnvoll, das Gewissen zu schulen, meinte der Publizist Rainer Erlinger im Dlf. Er empfiehlt dazu das "Nachdenken über Dilemma-Situationen".

Rainer Erlinger im Gespräch mit Benedikt Schulz | 15.10.2017
    Benedikt Schulz: Was ist das Gewissen? Je nachdem eine sehr kleine oder eine sehr große Frage. Dass Gewissen ist eine, wenn nicht die Entscheidungsinstanz des Individuums, wenn es um Moral geht. Aber dann wird es natürlich komplizierter, woher kommt es, ist Gewissen etwas individuelles oder doch etwas allgemeingültiges? Klar ist auf jeden Fall: Martin Luther hatte zum Thema Gewissen einiges zu sagen. Und darum, was Martin Luther und die Reformation unserer Gegenwart zu sagen haben – auch jenseits von Glaube und Religion ist ja in dieser Woche unser Schwerpunkt im Deutschlandfunk. Reformation quergedacht.
    Und auch wenn Martin Luther den Gewissensbegriff nicht vollkommen neu definiert hat – so geht doch eine Erkenntnis mindestens indirekt immer noch auf ihn zurück: Dass das Gewissen nicht als göttlich festgelegtes fertiges Päckchen in uns schlummert, sondern eher Bewusstsein ist über das eigene Handeln – Reflexion und Selbstkritik im Zeichen der Moral – und damit ist es auch wandelbar. Welche Rolle spielt das Gewissen in unserem Alltag heute und wie setzt es sich zusammen, so könnte man fragen. Und das habe Rainer Erlinger gefragt. Der ist eigentlich Jurist und Mediziner – hat sich aber seit einigen Jahren einen Namen gemacht als Experte für das menschliche Gewissen in seiner wöchentlichen Kolumne "Die Gewissensfrage" im SZ-Magazin – meine erste Frage: Wieviel haben wir beziehungsweise unser Gewissen Luther zu verdanken?
    Rainer Erlinger: Das ist natürlich von Mensch zu Mensch unterschiedlich, je nachdem auch, wie sehr er sich dem Luther und dem von ihm vertretenen Glauben verbunden fühlt. Aber natürlich hat er jetzt speziell in Deutschland dadurch, dass er ja auch die Bibel ins Deutsche übersetzt hat und dadurch der breiten Allgemeinheit erst zugänglich gemacht hat, einen durchaus wahrscheinlich auch heute noch sehr stark merkbaren und nachvollziehbaren Anteil an dem, was wir für richtig und für falsch halten.
    Schulz: Wir reden immer ganz selbstverständlich vom Gewissen, ohne dass wir diesen Begriff groß hinterfragen oder gar definieren im Alltag. Ich möchte es jetzt aber genauer wissen. Woher kommt mein Gewissen eigentlich? Wo kommt das her?
    "Schon in den frühesten Entwicklungsphasen ein Gespür für richtig und falsch"
    Erlinger: Das ist, wie so üblich in der Wissenschaft, sehr viel umstritten. Die Frage, ob das jetzt angeboren ist oder anerzogen? Es gibt Untersuchungen, die man gemacht hat mit Kindern, mit Säuglingen. Die kann man ja schon eigenartigerweise testen auf das, was sie richtig oder falsch finden, bevor sie sprechen können, indem man ihnen Situationen vorspielt, in denen zum Beispiel die eine Puppe die andere Puppe schlägt, und dann merkt man, dass manche Säuglinge dann die Puppe, die die andere Puppe schlecht behandelt hat, entweder böse anschauen, oder sie dann tatsächlich auch selbst draufschlagen oder so was. Oder manchmal misst man nur die Zeit, wie lange ein Kind auf etwas schaut, und daran kann man merken, ob es das jetzt komisch findet oder nicht.
    Da hat man festgestellt, dass Kinder sehr früh, schon in den frühesten Entwicklungsphasen ein Gespür für richtig und falsch haben, für gerecht und ungerecht, was aber jetzt (nicht) bedeutet, dass die Kinder deswegen von Natur aus gut sind. Die wissen zwar, was richtig und was falsch ist; die wissen aber auch, was sie haben wollen und was sie vielleicht nicht abgeben wollen.
    Schulz: Aber hat denn dann Freud recht gehabt? Für ihn waren die ganz kleinen Kinder ja nur triebgesteuerte Bündel, die eben noch nicht wussten, was richtig und falsch ist.
    Erlinger: Ich bin ein großer Freud-Anhänger und deswegen muss ich ihn dann auch immer verteidigen. Und zwar: Man muss jetzt nicht jede Idee, die er hatte, wörtlich nehmen. Aber seine Grundideen sind sicherlich bahnbrechend gewesen und haben sehr viel Wahres dran.
    Diese Triebsteuerung ist auch da und Freud hat sicherlich auch recht, und das ist dann der andere Aspekt, dass er sagt, … - für Freud war ja das Gewissen hauptsächlich dieses individualisierte, verinnerlichte Über-Ich, sprich die strengen Eltern, die man dann importiert hat. Das ist in mancher Hinsicht wahrscheinlich richtig und besonders in der Hinsicht, dass abgesehen von diesem anfänglichen Gespür für richtig und falsch sehr viel vom Gewissen ja auch dann kulturell über die Erziehung oder die Umgebung und so weiter geformt wurde.
    Schulz: Aber würden Sie denn sagen, dass bestimmte Bereiche des menschlichen Gewissens, ich nenne es jetzt mal, überindividuell sind, wenn man so möchte, menschlich sind? Es gibt ja zumindest weltweit einen gewissen grundsätzlichen Konsens darüber, was Menschlichkeit ist.
    Erlinger: Das ist eben das: Die Kinder merken das. Wenn eine Puppe einfach die andere schlägt, dann finden die das komisch. Wenn eine Puppe zum Beispiel drei Süßigkeiten hat und gibt der anderen gar nichts ab, dann finden das die Kinder auch falsch. Diese Grundidee, was richtig und was falsch ist. Zum Beispiel beim Teilen, dass einer gar nichts bekommt und der andere alles, dass das nicht richtig ist, das ist überindividuell sicherlich da.
    Aber dann, wie es sich ausformt, wenn man zum Beispiel sieht, was bei uns jetzt auch wieder durch die Religionen passiert, wie sehr dann das Richtig und Falsch in den unterschiedlichen Regionen zum Teil auch unterschiedlich gesehen wird, auch zum Beispiel jetzt so etwas wie sich kümmern um Menschen, die in Not sind, Almosen geben und so weiter, das sind Dinge, die sich durchziehen durch die Religionen. Aber dann, was man sonst richtig oder falsch findet, sind ja zum Teil jetzt die großen Streite, die zwischen den Religionen auch stattfinden.
    "Immanuel Kant hat ja gesagt, ein Gewissen ist nichts Erwerbliches"
    Schulz: Glauben Sie denn, dass Gewissen wirklich etwas Individuelles sein kann, dass ich jetzt mein eigenes Gewissen habe? Oder ist das nicht doch irgendetwas, was sich zusammensetzt aus gesellschaftlichen Normen, meinetwegen das, was meine Eltern mir eingeimpft haben und so weiter?
    Erlinger: Es ist sicherlich beides. Man merkt ja, manche haben ein stärkeres Gewissen, die anderen ein weniger starkes. Immanuel Kant hat ja gesagt, ein Gewissen ist nichts Erwerbliches, keiner muss es sich zulegen, weil jeder es schon hat. Aber es ist die Aufgabe, diesem Gewissen – und Kant nannte das den inneren Richter -, dessen Stimme Gehör zu verschaffen. Jeder hat so ein Gewissen und bei dem einen ist es lauter, beim anderen ist es leiser, und durch die Erziehung und durch die Gesellschaft und so weiter hat man zum Teil auch unterschiedliche Vorstellungen von dem, was erträglich ist oder was richtig ist und was sein muss und was nicht sein darf.
    Schulz: Das ist ja interessant: Es gibt den inneren Richter. Sie kennen sicherlich auch den Film "Pinocchio". Da ist der innere Richter sozusagen personifiziert in Form einer Grille, die Ratschläge von Gut und Böse oder falsch und richtig gibt. Kann es sein, dass das Gewissen wirklich schon eine, ich nenne es jetzt fast, personifizierte innere Stimme ist, die auf meiner Schulter sitzt und sagt, das nicht, das ja?
    Erlinger: Ja, das ist es auf alle Fälle. Ich nenne das immer ganz gerne das Lenor-Gewissen. Ich weiß nicht: Die etwas Älteren kennen noch diese Lenor-Werbung, wenn dann die Person so leicht durchsichtig zur Seite trat und dann der Hausfrau erzählt hat, was sie richtig und was sie falsch macht mit der Wäsche, die kratzt oder nicht. Und das ist so was. Man hat ja dieses Gefühl, dass da eine Stimme ist, die da ist, und ich glaube, man muss ein bisschen unterscheiden. Das Gewissen, ich glaube manchmal, das sind fast schon mehrere Phänomene, die wir damit beschreiben.
    Das eine ist das, was ich nenne … - man muss beim Wort Gewissen sich auch mal überlegen, woher das Wort kommt. Das ist eine Übersetzung aus dem lateinischen conscientia und aus dem griechischen syneidesis, und das bedeutet alles eigentlich immer Mitwissen.
    Das heißt, das ist eine Instanz in der Person, die, weil sie ja in der Person sitzt, alles immer mit weiß und es ein bisschen beurteilen kann. Das haben wir als diesen Jeden-Tag-, Every-Day-Aufpasser, der da auf der Schulter sitzt oder im Kopf sitzt. Wir können ja nicht jede einzelne Handlung und jedes Problem, das wir haben, in die Bibliothek gehen und nachschauen und mal schauen, was ist denn das, und dann sagen wir, na gut, ich komm jetzt wieder in zwei Stunden und dann sage ich dir, was wir jetzt machen, sondern da muss was sein, was mitläuft.
    Aber wir haben noch ein anderes Phänomen, und das ist dieses Gewissen – ich denke zum Beispiel jetzt an die Wehrdienstverweigerung -, das es manchen Leuten vollkommen verbietet, mit der Waffe etwas zu tun oder einem anderen Gewalt anzutun, während andere das nicht haben. Das heißt, wir haben auf der einen Seite diese innere Gewissheit des unbedingten Sollens, wie es das Bundesverfassungsgericht gesagt hat, die bei jeden Menschen unterschiedlich ausgeprägt ist, und wir haben auf der anderen Seite dieses täglich mitlaufende Mitwissen, das uns im Alltag hilft, die vielen, vielen kleinen Entscheidungen schnell zu treffen.
    Schulz: Vor allem letzteres ist doch auch richtig kompliziert im Alltag, weil manchmal kollidieren Moralvorstellungen in einer Person ja miteinander und die haben beide irgendwie ihre Berechtigung. Wie kann man das machen? Wie kann ich in Fragen der Moral gewichten oder abwägen, vor allem, wenn häufig immer mit Vokabeln des "ja, absolut" oder des "nein, auf keinen Fall" hantiert wird?
    "... dass man diesen inneren Richter schulen muss und ihm dann eine Stimme verleiht"
    Erlinger: Ich glaube, immer wenn man das Wort "absolut" und "auf keinen Fall" verwendet, da kann man schon fast sagen, das ist immer nicht sehr gut. Ich glaube, dass es oft sehr viel mehr Grauschattierungen gibt als das absolute Immer oder Nie und so weiter. Aber dieses Gewissen ist tatsächlich dazu da und mir gefällt da auch diese Idee von Kant, dass man diesen inneren Richter schulen muss und ihm dann eine Stimme verleiht, dass man einfach wirklich wieder Überlegungen, das Nachdenken über bestimmte Probleme – und das ist ja dann auch in meiner Kolumne, in dieser wöchentlichen -, dass ich bestimmte Situationen des Miteinanders dann ausführlicher beleuchten kann, so dass man an dem sich dann, ich will niemandem vorschreiben, was richtig und was falsch ist, sondern sich nur einfach überlegen kann, aha, so kann man nachdenken, diese Überlegungen gibt es, diese Aspekte des Miteinanders gibt es und an dem kann man wieder das Gewissen weiterentwickeln und sagen, beim nächsten Mal geht es, irgendwie fällt einem dann wieder was anderes ein.
    Schulz: Ihr Ratschlag ist, dann doch auch mal regelmäßig oder gelegentlich in die Bibliothek zu gehen und die Klassiker zu lesen, um sich an deren Entscheidungskompetenz zu schulen?
    Erlinger: Das ist natürlich was Schönes und das macht tatsächlich auch Spaß, auch wenn es jetzt komisch klingt. Das ist wirklich erhellend, wie man so schön sagt. Aber es reicht schon das Nachdenken über Dilemma-Situationen. Und es ist ja oft so, weil Sie sagen, man hat ja die inneren verschiedenen Neigungen, was man haben möchte. Man weiß es ja oft. Ich hätte das jetzt gerne, aber ich weiß, eigentlich steht es mir nicht zu. Und was dann da so als "Gewissensentscheidung" steht, ist ja eigentlich nur ein sich eingestehen, dass etwas Bestimmtes richtig ist, was man nur nicht so gerne hätte in der Situation.
    Schulz: Wenn eine Entscheidung getroffen wurde, wenn ich eine Entscheidung getroffen habe, und zwar auch aus Gewissensgründen, um jetzt mal mit Luther das große Wort zu nehmen, hier stand ich und konnte nicht anders, aber die Folgen sind dann sehr negativ für mich und auch für andere Menschen, ist das dann trotzdem noch eine moralische Entscheidung gewesen?
    Erlinger: Es war eine Entscheidung, aber es ist nicht unbedingt gesagt, dass es richtig ist. Das Gewissen kann natürlich auch irren. Das Gewissen ist ja in jedem von uns angelegt und wir sind Menschen und können deswegen auch irren. Ich weiß auch nicht, was Luther, wenn man ihm nachher gesagt hätte, ob er weiß, dass das zum Dreißigjährigen Krieg führt, in dem zwischen 25 und 50 Prozent der europäischen Bevölkerung ausgelöscht werden, ob es noch so richtig ist zu sagen, ich stehe hier und kann nicht anders.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.