Dienstag, 16. April 2024

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Reformation quergedacht
Walter Smerling: "Wir fragen die Künstler nach ihren Haltungen"

Luther und die Avantgarde - so heißt eine Kunstausstellung in Wittenberg. Themen, die vor 500 Jahren aktuell waren und heute noch aktuell sind, würden von den Künstlern aufgegriffen, sagte Kurator Walter Smerling im Dlf. "Es ist mehr als Unterhaltung, es ist Auseinandersetzung - und diese Auseinandersetzung wollen wir."

Walter Smerling im Gespräch mit Michael Köhler | 09.10.2017
    Michael Köhler: Am 31. Oktober 2017 jährt sich das Jubiläum der Reformation zum 500. Mal. Am Vorabend von Allerheiligen hat Martin Luther seine 95 Thesen gegen den Ablass an die Eingangstür der Schlosskirche in Wittenberg geheftet, wo er als Professor für Altes und Neues Testament lehrte. Sündenvergebung und Bußleistung gehörten damals zusammen. Eine bequeme Flensburger Sünderkartei gab es noch nicht. Es wurde bar bezahlt. Nicht mit dem guten Namen. Je mehr, je besser. Das verkürzte das Fegefeuer. Luther war fraglos ein kritischer Kopf und eine Art Avantgardist.
    Künstler sind das auch, nehmen gern für sich in Anspruch Feldherren der Künste zu sein. Luther und die Avantgarde, so heißt jene Ausstellung in Wittenberg, die seit Frühjahr läuft. Ihr Veranstalter, Organisator und Kurator ist der umtriebige Walter Smerling, Vorsitzender der Stiftung für Kunst und Kultur e.V. Im alten Frauengefängnis von Wittenberg haben sie die Ausstellung eingerichtet. Und bebildern nicht die 95 Thesen, sondern …
    Walter Smerling: Es ging nicht darum, ein Porträt über Luther zu zeichnen. Es ging darum, die Phänomenologie, die man mit Luther verbindet, aufzugreifen und zu fragen: Luther hat die Welt verändert, die Kirche verändert; was wollen 500 Jahre danach Künstler, die für sich beanspruchen, die Welt zu reflektieren, Einfluss zu nehmen - was wollen sie? Wie ist ihr Gestaltungs-, ihr Wirkungsanspruch? Mit dieser Frage sind wir in die Welt hinausgegangen und haben fast 70 Künstler einladen können, nach Wittenberg zu kommen.
    Manche haben sich eine Zelle ausgesucht, manche haben einen Platz von uns Kuratoren angeboten bekommen und sie haben sich dem Thema gewidmet und viele, viele Themen aufgegriffen, die vor 500 Jahren aktuell waren und heute noch aktuell sind. Damals waren es die neuen Medien, der Buchdruck; heute ist es die Digitalisierung, wie gehen wir damit um. Damals war es die Freiheit, sich ausdrücken zu wollen, entscheiden zu wollen; heute ist das Thema Freiheit akuter denn je. Die Würde des Menschen ist unantastbar - ist das vom Grundgesetz garantiert? Wie gehen wir damit um? Wie gehen wir mit der Integrationsproblematik um, die uns seit vielen Jahren beschäftigt? Themen, die die Künstler in verschiedenen Fassungen aufgreifen.
    "Avantgarde steht für Vorreiterrolle, für neue Wege gehen"
    Köhler: Markus Lüpertz, der Bildhauer, sagt: "Die Welt verändern, ohne dabei kaputt zu gehen." Ihn reize das an Luther und er wollte ein Denkmal machen. Da haben Sie widersprochen, das wollten sie nicht. Was ist das für eine Ausstellung? Feiert sie noch mal den Künstler als Avantgardisten, als Feldherrn der Kunst, als einen neuen Heros?
    Smerling: Der Begriff der Avantgarde ist ja nun ein kunsthistorisch etablierter. Anfang des 20. Jahrhunderts kennen wir die Entwicklung. Man wollte die Kunst abschaffen und neu erfinden. Wir haben diesen Begriff der Avantgarde benutzt, weil er inzwischen ein En-Vogue-Begriff ist, der steht für Vorreiterrolle, für neue Wege gehen. Wir fragen die Künstler nach ihren Haltungen zur heutigen Welt.
    Und was den Lüpertz angeht: Er hat sich bereit erklärt, ein Denkmal, eine Hommage an Luther zu formulieren, und das haben wir überhaupt nicht abgelehnt. Ganz im Gegenteil! Ich verstehe das nicht, dass diese Behauptung aufgestellt wird. Es geht um die Frage, wann und wo und wie setzt er das um. Er hat den Eiferer, den jungen Luther in der Zelle positioniert und damit verbindet man viele Dinge. Ihm geht es, glaube ich, um einen aktuellen Denkmalbegriff: Wie gehen wir mit dieser Erinnerungskultur um? Es geht ja nicht darum, einen Luther abzubilden. Es geht darum, etwas zu interpretieren, etwas neu zu gestalten, auf die heutige Welt bezogen.
    "Es ist mehr als Unterhaltung, es ist Auseinandersetzung"
    Köhler: Sie haben auch Jonathan Meese dabei, den Bühnenbildner, den Maler. Er hat sich eine Zelle angeguckt in diesem ehemaligen Frauengefängnis, sagt: ein Bett, ein paar Thesen an der Wand, ein bisschen Klang und Sound, ein Manifest, den Teufel soll es auch geben, vielleicht auch den Mutterteufel. Was erwidern Sie jemandem, der diese Art der Entfesselung als, sage ich mal, ahistorisch, vielleicht sogar geschmacklos oder zynisch empfindet, also Freiheit hinter Gittern im ehemaligen Frauengefängnis?
    Smerling: Ich erwidere da gar nicht, sondern stelle Fragen. Der Meese präsentiert uns seine 95 Thesen, mit denen er nichts anderes erklärt, als dass die Kunst regieren solle, und damit erklärt er eigentlich nur, die Gesellschaft soll regieren.
    Köhler: Luther als Kulisse für einen Kunstzirkus mit Artisten aus der Manege von Walter Smerling. Was würden Sie da erwidern, wenn Sie so was lesen würden?
    Smerling: Die ganze Welt ist eine Bühne, auf der wir was erleben wollen, in der wir was gestalten wollen, und ich unterstelle oder ich bin davon überzeugt, dass die Kunst mehr Antworten gibt, als jedes oberflächliche Zirkusdasein geben kann. Es ist mehr als Unterhaltung, es ist Auseinandersetzung, und diese Auseinandersetzung wollen wir.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.