Donnerstag, 28. März 2024

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Reformationsjahr 2017
Gegen "eine inhumane Annäherung an Luther"

Luther hasste Juden, hetzte gegen Bauern – und "konnte nicht mal Auto fahren", sagte der Historiker Heinz Schilling im DLF. Er plädierte dafür, Luther nicht an heutigen Maßstäben zu messen, sondern in seiner Zeit zu betrachten. Dann erkenne man, dass Luther viele gesellschaftliche Verbesserungen auslöste.

Heinz Schilling im Gespräch mit Andreas Main | 02.01.2017
    Heinz Schilling
    Heinz Schilling (C.H. Beck Verlag/Joakim S. Enger )
    Andreas Main: Das Reformationsjubiläum wird festgemacht an einem dunklen Novembertag im Jahr 1517, als der Augustinermönch und Theologieprofessor Martin Luther 95 Thesen veröffentlicht hat – Thesen zum Ablasshandel. Die wirklich revolutionären Texte erschienen erst in den Jahren danach. Theologische Schriften über die Bibel, die Gnade, den Glauben. Aber 1517 wird als Auslöser angesehen für eine Entwicklung, die die Welt verändert hat – die Reformation.
    Damit setzte ich voraus, dass die Reformation für uns relevant ist. Aber ist sie das? Und wenn ja, welche Relevanz hat die Reformation heute? Darum geht es in einem Gespräch mit Heinz Schilling. Von ihm ist vor vier Jahren ein Buch erschienen, das immer wieder aufgelegt und neu überarbeitet wird. Es heißt "Martin Luther – Rebell in einer Zeit des Umbruchs". Keine Luther-Biographie wird so gelobt wie die von Heinz Schilling. Er hat zuletzt an der Humboldt-Universität gelehrt und geforscht, hier in Berlin, wo wir dieses Gespräch aufzeichnen. Guten Morgen, Herr Schilling.
    Heinz Schilling: Guten Morgen.
    Main: Herr Schilling, packen wir den Stier bei den Hörnern: Wäre die Geschichte ohne Luther so verlaufen, wie sie verlaufen ist?
    Schilling: Nein, das wäre sie mit Sicherheit nicht, auch wenn ich der Meinung bin, dass 1517 eine sehr offene Situation war, dass auch auf alt-kirchlicher Seite, bzw. auf einer Seite, die dann alt-kirchlich geblieben ist – oder römisch-kirchlich muss man ja korrekter sagen – sehr viel im Aufbruch war.
    "Zeit des Aufbruchs"
    Luther ist in einer Zeit des Aufbruches groß geworden, hat sich in dieser Zeit mit der Bibel und sehr persönlichen Problemen befasst und ist dann doch zu einem Auslöser geworden einer Bewegung, die auch ohne ihn doch in Gang gekommen wäre, allerdings viel komplexer, viel komplizierter, viel später.
    Main: Sie sind kein Theologe, sondern Historiker. Kann man Luther ohne seinen theologischen, religiösen Kern verstehen?
    Schilling: Nein, das kann man nicht. Mit Theologie muss man sich befassen. Der Allgemeinhistoriker, so würde ich formulieren, hat zusätzlich ein Prä bei der Beurteilung dieser theologischen und kirchlichen Zusammenhänge, dass er eben auch die außertheologischen Dinge mit berücksichtigen muss und in einer viel stärkeren Weise als eine rein kirchengeschichtliche Untersuchung in das Gesamtbild einfügen muss.
    Main: Bleiben wir mal einen Moment bei der Theologie, bei den religiösen Strömungen. Die waren zum großen Teil apokalyptisch geprägt in jeder Zeit. Es gab auch eine massive Angst vor Tod und Hölle. Mit welcher Antwort reagierte Luther auf diese Ängste?
    Schilling: Indem er seine Ängste zunächst mal noch steigerte, nicht. Das berühmte Erlebnis in Stotternheim, kurz vor Erfurt, führt ja dazu, dass er seinen ganzen Lebensplan umstürzt und sagt, nicht in dieser Welt sich am besten zu behaupten, ist das Entscheidende. Das war ja das Ziel des Vaters mit ihm. Er sollte Jura studieren. Das war damals die beste Möglichkeit, sich in der aufbrechenden neuen Welt der Bürokratie, der Staatlichkeit und so weiter eine sichere Position zu erobern. Das war aber nur die Sicherheit in dieser Welt.
    "Verantwortlich für das Seelenheil aller Christen"
    In diesem Gewitter erlebt er ganz existenziell, jetzt muss ich mich darum kümmern, wie ein Leben nach dem Tod aussieht, wie ich mich da am besten positionieren kann. Er gibt die Sicherheit, den Weg der sichersten Positionierung in dieser Welt auf und geht ins Kloster, weil er hofft, dass er dort eine Lösung findet, dass er dort von seinen Ängsten befreit würde.
    Main: Aber das passiert nicht?
    Schilling: Nein, denn genau das ist der Punkt und das ist das große und weltgeschichtlich sicher bedeutende an diesem Menschen, dass er diese Sorgen durchträgt, dass er sie durchträgt mit schlimmen Qualen. Aber – und das ist das Großartige an diesem Mann – wir sagen ja heute nicht mehr Männer machen Geschichte oder Männer und Frauen machen Geschichte, aber ohne sie geht es auch nicht.
    Luther hat dieses existenziell durchgetragen – in Verantwortung für sich. Diese Verantwortungssache scheint mir sehr wichtig zu sein, wird selten in Bezug auf Luther herausgearbeitet. In Verantwortung für sich, für sein Seelenheil, aber auch in Verantwortung für das Seelenheil aller. Und insofern ist das auch eine universell gerichtete Theologie. Er fühlt sich verantwortlich für das Seelenheil aller Christen, ja – letztlich aller Menschen.
    Main: Und das Seelenheil ist zu erreichen allein durch Glauben, allein durch Gnade, allein durch die Schrift.
    Schilling: Naja, das hat er nun erst nach vielen Jahren des Suchens im Kloster und als Mönch herausgefunden. Zunächst einmal hat er versucht, all die Wege – ich meine, die mittelalterliche Kirche war ja nicht so korrupt, wie es dann später von Luther dargestellt worden ist und auch nicht so korrupt, wie es heute doch noch gelegentlich von protestantischer Seite behauptet wird. Sie versuchte ja auf die Ängste der Menschen einzugehen.
    "Zutiefst empfundene und erlebte Seelenqual"
    Es gab eine ganze Reihe von Möglichkeiten, angefangen bei Wallfahrten, weiter bei Selbstkasteiung, beim Fasten und so weiter und so fort. Und alles dieses hat er durchgespielt. Den Weg, den die spätmittelalterliche Kirche und die spätmittelalterliche Frömmigkeit ihm angeboten hat, das hat er ja alles durchgespielt.
    Das ist das Großartige an dem Mann, das er nicht aus einer Theorie heraus irgendetwas entwickelt, sondern dass es aus seiner zutiefst empfundenen und erlebten und durchgetragenen – und das ist das Entscheidende – durchgetragenen Seelenqual und durchgetragenem Suchen nach dem richtigen Weg zu Lösungen kommt.
    Main: Nun leben in diesem Land viele Millionen evangelische und katholische Christen – sie sind zumindest Kirchenmitglieder. Ich gehe dennoch davon aus, dass dieses Denken, wie Sie es eben gekennzeichnet haben, vielen unserer Hörer fremd ist. Was ist Ihnen an diesem Denken fremd und was ist Ihnen nah?
    Schilling: Naja, meine These oder der Ansatz der Lutherbiografie ist ja, dass wir nicht vorschnell uns einen Luther wieder, wie meine Kinder sagen würden, selbst backen würden, wie er uns gerade passt. Wir müssen schon auf ihn hören und müssen schon versuchen nachzuvollziehen, in welchem Lebensumfeld er gelebt hat, in welcher Zeit er gelebt hat.
    "Die Allzuständigkeit von Religion wird aufgegeben"
    Er ist uns als erstes als Fremder darzustellen. Sehen Sie, in dieser Zeit war es so, dass die Allzuständigkeit von Religion, Allzuständigkeit des Christentums nicht nur für das Jenseits – das ist uns ja sowieso abhandengekommen – aber auch für das Diesseits konstitutiv war für diese Gesellschaft, für diese Kultur. Das existiert für uns heute nicht mehr. Weder diese Vorstellung, ein jenseitiges Leben bereits jetzt vorbereiten zu müssen im Sinne einer totalen Ausrichtung des diesseitigen Lebens auf das jenseitige, das ist uns abhandengekommen.
    Da ist eben die große Schwelle, die Aufklärung – das ausklingende 18. und das frühe 19. Jahrhundert, in dem das passiert, was wir Säkularisierung nennen. Das setzt vorher ein – sehr wichtig die Regelungen des Westfälischen Friedens, dass Religion und Politik getrennt wird, dass die Allzuständigkeit von Religion aufgegeben wird. Das macht die ganz andere Situation heute aus.
    Von daher sind zwei Dinge wichtig. Wir können einerseits Luther nicht von oben herab beurteilen. Da gibt es so einige Aussagen: Naja, der hat ja an Hexen geglaubt, der hat die Frauen unterdrückt. Ich pflege dann zu sagen: Naja, der Mann konnte nicht mal Auto fahren. So ein lächerlicher Mensch ist das und auf den wollen wir uns nach 500 Jahren besinnen.
    Gegen "eine inhumane Annäherung an Luther"
    Diese ist eine zutiefst unhistorische, aber auch eine inhumane Annäherung an Luther. Wir müssen Luther in seiner Zeit verstehen. Und da müssen wir zunächst das Andere verstehen und wissen, warum er so gehandelt hat und nicht anders.
    Main: Sie schreiben wörtlich: "Auch und gerade in seinem Verständnis von Politik begegnet uns Luther als der Fremde, als der bereits in seiner Epoche Unzeitgemäße." Luther – unzeitgemäß schon vor 500 Jahren – woran machen Sie das fest?
    Schilling: Unzeitgemäß, wenn Sie jetzt auf das Politische abheben, dann wird man sagen: unzeitgemäß in seiner Bearbeitung des Verhältnisses zwischen Religion und Politik. Zunächst einmal die sogenannte Zwei-Reiche- oder Zwei-Regimenter-Lehre, die genau das leistet, was damals zunächst nicht vorhanden war – nämlich die Trennung von religiösem und weltlichem Bereich im Sinne einer positiv beschriebenen Säkularisierung, dass man weiß, beides muss in dieser Welt auseinandergehalten werden.
    Das eine ist das Reich Gottes mit ganz spezifischen Normen und Verhaltensweisen. Und das ist das Reich der Welt, wo etwa Gewalt herrscht durch das Schwert – wie Luther sagt, um für Ruhe und Ordnung und für ein friedliches Leben der Untertanen zu sorgen.
    "Eine völlig fehlleitende Interpretation"
    Der zweite Punkt ist dann der Begriff der Obrigkeit. Es ist ja vor kurzem von einem Politiker noch mal in den Raum gestellt worden, Luther sei für den deutschen Obrigkeitsstaat verantwortlich.
    Main: Sie meinen Finanzminister Wolfgang Schäuble?
    Schilling: Das wollte ich nicht so deutlich sagen, aber das ist richtig. Dieses ist eine völlig fehlleitende Interpretation und wiederum der Punkt, wo man Luther meint eins zu eins in die Gegenwart setzen zu müssen und nicht auf den fremden Luther hört. Das ist völlig einfach. Man braucht nur mal zu analysieren, was meint Obrigkeit bei Luther, was meint Obrigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, was verstehen wir heute unter Obrigkeitshörigkeit.
    Obrigkeit ist im 16. Jahrhundert schlicht und einfach dasjenige, was der sich herausbildende Staat ausmacht. Luther unterstützt damit die doch den Frieden herbeiführende Monopolisierung legaler Gewalt durch den Staat, das meint er mit Obrigkeit. Aber gleichzeitig – und das ist das Entscheidende – und der Finanzminister hat dahingehend natürlich Recht, dass im 19. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert immer diese Obrigkeitsseite falsch interpretiert worden ist, nämlich im Sinne der Herrschenden, insbesondere im 19. Jahrhundert. Aber das ist nicht Luther.
    "Luther hat die Obrigkeit verpflichtet"
    Der Obrigkeitsstaat ist 19. Jahrhundert und nicht Luther. Luther hat die Obrigkeit verpflichtet auf das Wohl der Untertanen, sowohl im geistigen Bereich als Schulstaat. Er hatte Schulen aufzubauen, damit der Christenmensch – und das waren damals alle – in der richtigen Weise leben konnte und die Bibel verstand. Damit hat er für die Ausbildung und für die Bildung gesorgt.
    Die Obrigkeit war verpflichtet auf das kulturelle Wohl der Untertanen zu achten und natürlich auch – und das war darin eingeschlossen – auf das religiöse und geistliche Wohl. Das heißt, Luther ist viel stärker, wenn man richtig auf ihn hört und ihn historisch richtig auf den Obrigkeitsbegriff analysiert, ist viel stärker für die sozialstaatliche und bildungsstaatliche Tradition in Deutschland verantwortlich als für die obrigkeitsstaatliche.
    2017 sollte doch die Möglichkeit sein und gerade das Ziel sein, Luther von diesen Fehlinterpretationen zu befreien und sie nicht wieder zu bestärken, indem man sagt, Luther sei für den Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhunderts verantwortlich.
    Main: Herr Professor Schilling, Sie sind Experte für die Konfessionalisierung Europas. Es gibt seit Luther viele Kirchen. Das wird von den einen als Verlust erlebt, von den anderen als Gewinn. Die Haltung zu dieser Art von Pluralismus ist das womöglich nicht der entscheidende Knackpunkt zwischen Katholiken und Protestanten?
    Schilling: Ja. Hier würde ich in Bezug auf die Papstkirche sagen, dass sie, wenn sie sich auf Luther einlässt und wenn Sie sich auch auf ihre eigene von Luther dann noch mal neu provozierte Reformbewegungen der frühen Neuzeit einlässt, könnte sie eigentlich die Differenzierung Europas – ich spreche nicht so gerne vom Bruch der Einheit, sondern ich spreche von der Differenzierung Europas – könnte sie sich auf die Differenzierung Europas einlassen, sich sogar an dieser Differenzierung auch des religiösen Bereiches erfreuen.
    "Sich an Differenzen erfreuen"
    Zum Beispiel durchaus freudig und positiv sehen in dieser doch immer zunehmend unchristlicheren Welt: konfessionsverschiedene Ehen. Den ganzen Reichtum der differenzierten, neuzeitlichen christlichen Frömmigkeit in konfessionsverschiedenen Ehen: sich daran erfreuen. Und sich erfreuen an der lebendigen Art und Weise, wie im Luthertum und im Reformiertentum das Christentum gelebt wird.
    Aber es ist richtig, man sieht doch durchgehend die Einheit der Christenheit als eine Zielvorstellung. Dem würde ich widersprechen. Das sollte auch nicht – jedenfalls in meinen Augen und nach der Analyse eines Neuzeit-Historikers – das Ziel der Ökumene sein. Sondern das Ziel der Ökumene müsste sein, auszugehen von der mit der Reformation eingetretenen Differenzierung.
    Auf diesen unterschiedlichen Interpretationen – sie sind ja nicht so total absolut konträr, dass man nicht sagen könnte, das gehört alles zu ein und derselben Familie – dass man auf dieser Basis eine Spiritualität, eine Theologie des gegenseitigen Verstehens und dass man sich dieser Vielfalt erfreut. Das wäre die Aufgabe 2017 von der Papstkirche her, dass sie die religiöse und kulturelle Differenzierung Europas oder der Christenheit anerkennen und sich an dieser Differenzierung erfreut.
    Main: Aus dieser Vielfalt erwächst langfristig betrachtet nämlich auch das, was wir unter Pluralismus, Toleranz, Menschenrechten, Demokratie verstehen.
    Schilling: Genau das ist der Punkt. Luther ist auch zivilbürgerlich wichtig. Das war Ihre Eingangsfrage, wieso sollen wir uns heute noch daran erinnern, warum sollen wir heute – sagen wir es mal ganz direkt – so viel Geld, so viel Millionen ausgeben. Weil Luther ein Teil unserer zivilbürgerlichen Tradition ist.
    "Nicht die Einheit ist das Entscheidende, sondern die Wahrheit"
    Da könnte ich auch wieder auf die politischen Konsequenzen etwa eines Bürgerrepublikanismus, der im Zuge der Reformation entsteht, einlassen. Das ist eine Konsequenz des Mutes von Luther. In dieser Situation, wo diese Einheitlichkeit des Christentums vorhanden war, zu sagen, nicht die Einheit – ganz anders als Erasmus – ist das Entscheidende, sondern die Wahrheit.
    Damit zerbricht das ideologische Einheitsfundament des Christentums mit schlimmen Folgen im Übrigen, die dürfen wir nicht unter den Teppich kehren. Es gibt eine Art christlichen Fundamentalismus Anfang des 17. Jahrhunderts, der zu ähnlichen grausamen Folgen und Terroranschlägen geführt hat, wie wir es heute erleben.
    Gleichwohl über diese Bitternis dieser Konsequenz hinaus, kommt es dann eben zu einer Pluralität der Kulturen. Weil sonst Europa im Chaos versunken wäre, muss man anerkennen zunächst die Pluralität innerhalb des Christentums, dann darüber hinaus.
    "Wir müssen diese Pluralität ertragen"
    Das Legat an unsere Zeit aus dieser Geschichte von Luther über die Konfessionalisierung und die Konfessionskriege und so weiter lautet: Wir müssen akzeptieren und es auch verteidigen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die die Freiheit auch zum Nicht-Glauben selbstverständlich hat.
    Luthers Legat bedeutet, wir müssen diese Pluralität ertragen, nicht in dem wir sagen, och – die Unterschiede zählen nicht, die können wir übergehen, die interessieren heut nicht, die sind ja nur historisch. Damit werden wir unglaubwürdig insbesondere in Bezug auf die neuen Glaubensformen, die jetzt in unserem Land immer stärker werden – eben die islamischen.
    Nein, wir müssen – und das müssen wir auch vom Islam verlangen, dass wir die Unterschiede, zunächst die innerchristlichen, dann aber auch zwischen den Religionen, die hier leben, ertragen, die Unterschiede nicht leugnen, dass wir sie aber ertragen und zivilbürgerlich sozusagen einhegen und akzeptieren, dass jeder seinen Glauben leben kann, wie er will – Glauben oder Unglauben.
    "Luther war ein Rabauke"
    Main: Nun war allerdings auch Luther ein Rabauke und in seiner Wortwahl nicht gerade zurückhaltend.
    Schilling: Ja, ja.
    Main: Wir können dennoch, wenn wir versuchen, uns im Reformationsjubiläum 2017 unserer geistigen Wurzeln zu besinnen, von ihm lernen – zum Teil in Abgrenzung von ihm, und zum Teil positiv ihn aufnehmend.
    Schilling: Naja, wir müssen auch die Schuld sehen. Dass Sie sagen Rabauke, das ist ja richtig. Aber anders hätte er sich nicht durchsetzen können. Aber es sind Verletzungen da geschehen. Etwas müssen wir eben sagen, was wir in diesem Gespräch überhaupt noch nicht angesprochen haben – nämlich das Verhältnis zu den Juden. Das muss sehr deutlich in Abgrenzung zu Luthers Positionen 2017 behandelt werden.
    "Luther hat nicht zum Gefallen von Hitler geschrieben"
    Gleichwohl auch da, so schwierig das ist, das ist eine Gratwanderung. Wir verstehen und können sie auch nur beherrschen – die antisemitischen Tendenzen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die wiederum, wie ich meine fälschlich legitimiert worden sind von Luther her – die können wir nur beherrschen, in dem wir beschreiben, warum Luther diese schlimmen Judenschriften geschrieben hat.
    Er hat sie nicht zum Gefallen von Hitler geschrieben und diesem Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern aus seinen theologischen, religionspolitischen, heilsgeschichtlichen Interessen heraus. Und auch dieses begreifen wir nur, wenn wir auf die ganz andere Situation des 16. Jahrhunderts zurückgehen.
    Wenn man sagt, Luther war ein Antisemit, dann verschleiert man die eigentlichen Ursprünge seiner scharfen Gegnerschaft gegen die Juden. Und wenn man es verschleiert, macht man sich letztlich schuldig, dass die Gefahr, dass es wieder auftritt – also der Antisemitismus – nicht gebannt wird.
    Main: Wobei die heilsgeschichtliche Begründung seines Judenhasses diesen ja nicht besser macht.
    Schilling: Das ist ja völlig klar. Aber um zu verstehen und zu verhindern, dass der Antisemitismus gerade auch in protestantischen Kreisen eventuell wieder hoch kommt, ist es notwendig zu beschreiben und darzulegen, dass Luthers Ansatz im Kern ein völlig anderer war als der rassistische Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts.
    "Abgrenzung von Juden gehört zu Luthers theologischem Ansatz"
    Der Historiker hat dafür zu sorgen, dass nichts verschleiert wird, sondern im Guten wie im Bösen – und hier geht es natürlich um das Böse, das ist völlig klar – die Dinge genauestens sachgerecht identifiziert werden.
    Main: Was war er dann ganz präzise – er war Judenhasser?
    Schilling: Judenhasser aus seiner – das ist das Schlimme für 2017 und für die lutherische Kirche, dass die genau den Wurzeln des positiven reformatorischen Impetus ausmacht, dass auch diese Absetzung, die Abgrenzung von Juden, dass dies zu Luthers theologischem Ansatz gehört.
    Main: Heinz Schilling, Historiker in Berlin, zuletzt Professor an der Humboldt-Universität. Seine vielgelobte Luther-Biographie hat den Titel "Martin Luther –Rebell in einer Zeit des Umbruchs". Und in sechs Wochen erscheint von ihm ebenfalls im Verlag C.H. Beck das Buch "1517 – Weltgeschichte eines Jahres". Danke Ihnen, Heinz Schilling, für Ihre Einschätzungen und für die Zeit, die Sie sich genommen haben. Danke.
    Schilling: Danke schön. Es war mir ein Vergnügen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.