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Reformen in Polen
"Da steht schon eine Systematik dahinter"

Die ehemalige EU-Justizkommissarin Reding ist über die Entwicklung in Polen beunruhigt. Was die konservative Regierung in Warschau betreibe, habe eine gewisse Systematik, die den Grundwerten der Europäischen Union widerspreche, sagte sie im DLF. Eine Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit Polens durch die EU-Kommission befürwortet sie.

Viviane Reding im Gespräch mit Doris Simon | 04.01.2016
    Viviane Reding, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission a.D.
    Viviane Reding, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission a.D. (picture alliance/dpa/Alexis Haulot)
    Es müsse sichergestellt werden, dass das Verfassungsgericht des Landes unabhängig arbeiten könne und die Pressefreiheit nicht eingeschränkt werde, so Reding. Die EU-Kommission hatte am Wochenende mitgeteilt, dass sie sich auf ihrer ersten Sitzung des Jahres am 13. Januar mit dem Thema befassen wird. Der für Medien zuständige EU-Kommissar Günther Oettinger sagte, er wolle sich dabei für ein Verfahren zur Überprüfung der Situation in Polen einsetzen.
    Reding unterstützt diese Idee. Man sei aber noch ganz am Anfang eines Prozesses, der zunächst einmal den Dialog suche. Darin müsse die EU-Kommission Polen drängen, Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit zu beseitigen, sagte die Politikerin der Europäischen Volkspartei. Erst ganz am Ende des Verfahrens käme dann die Frage, ob man Polen das Stimmrecht entziehen solle.

    Das Interview in voller Länge:
    Doris Simon: Seit einigen Tagen sendet, wie eben gehört, das polnische Radio einen besonderen Hinhörer vor den Nachrichten, die Europahymne. Die Verbindung mit den Werten der Europäischen Union soll betont werden. Denn das neue Mediengesetz, so sehen es nicht nur die Journalisten, sondern auch andere Polen, bedroht die europäischen Grundrechte. Mit den Bedenken stehen sie nicht mehr allein. Nun wird sich die Europäische Kommission auch mit dem Mediengesetz befassen aus Sorge um die Rechtsstaatlichkeit in Polen.
    Was das Mediengesetz im Detail vorsieht, erläutert Martha Wilczynski.
    Auf ihrer ersten Sitzung im neuen Jahr wird die Europäische Kommission in Brüssel nun kommende Woche die Lage des Rechtsstaats in Polen diskutieren. Das klingt nicht aufregend, aber der Satz hat es in sich. Das umstrittene neue polnische Mediengesetz, möglicherweise auch die Verfassungsreform sind damit keine innere polnische Angelegenheit mehr, sondern aus Brüsseler Sicht geht es um europäische Grundrechte. Bei dieser Diskussion geht die EU-Kommission zum ersten Mal auf den ersten Frühwarnmechanismus ein. Der greift dann, wenn die Kommission in EU-Mitgliedsstaaten den Rechtsstaat in Gefahr sieht, weil wichtige Organe oder wichtige Mechanismen nicht mehr angemessen funktionieren. Am Telefon ist jetzt Viviane Reding, christlich-soziale Europaabgeordnete aus Luxemburg. Guten Morgen!
    Viviane Reding: Guten Morgen, Frau Simon!
    Simon: Frau Reding, sie haben ja als Justizkommissarin, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission diesen Frühwarnmechanismus zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit entschieden angeschoben. Ist es richtig, ihn jetzt im Falle Polens anzuwenden?
    Reding: Dieser Mechanismus wurde ja geschaffen im Jahr 2014, weil wir mit Ungarn sehr schlechte Erfahrungen gemacht hatten, was die Rechtsstaatlichkeit und deren Absicherung bedeutete. Wir hatten eigentlich kein Instrument, um Ungarn in die Schranken zu weisen. Und deshalb hatte ich eben im Jahr 2014 dieses System kreiert, dieses System geschaffen, damit es zur Verfügung steht, wenn in einem Mitgliedsstaat Gefahren, systembedingte Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit entstehen. Am 13. Januar wird jetzt die Kommission entscheiden, ob sie diesen Mechanismus in Sachen Polen anwendet oder nicht.
    "Das ist keine einmalige Aktion"
    Simon: Ist das denn richtig, ihn im Falle Polens anzuwenden, aus Ihrer Sicht?
    Reding: Der Mechanismus ist ja ein Dialogmechanismus. Zuerst wird eine Warnung ausgesprochen, dann wird eine Analyse des Geschehens gemacht, und dann kommt es zu einer begründeten Stellungnahme, die auf Änderungen der Handlungen im betreffenden Mitgliedsstaat drängt. Und erst dann, ganz am Ende des Verfahrens, wenn es zu keiner Änderung kommt, erst dann wird Artikel 7 angewendet, und der kann bis zum Entzug von Stimmrechten gehen. Im Fall Polens sind wir ja ganz am Anfang dieser Prozedur, und diese Prozedur im Dialog zu führen und den Mitgliedsstaat dahin zu bringen, eben diese systembedingten Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit abzulehnen, dazu muss die Kommission drängen.
    Simon: Wo sehen Sie denn in Polen systembedingte Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit?
    Reding: Es ist ja nicht nur ein Akzident, was geschehen ist, also das ist eine einmalige Aktion. Wir haben ja gesehen, und das ist ja sehr interessant, das geschieht ja auch zu Weihnachten und zu Neujahr, wenn keiner so richtig aufpasst in der Urlaubszeit, dann wird im Eilverfahren schnell ein Gesetz über den Kopf geworfen. Das erste war ja bei der Ernennungsprozedur für die Richter im Verfassungsgericht. Das war vor Weihnachten. Und das Zweite, jetzt vor Neujahr, die Gängelung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Da steht schon eine gewisse Systematik dahinter, und diese Systematik widerspricht nun klar und deutlich den Werten, den verfassungsmäßigen Werten, auf die die Europäische Union aufgebaut ist, nämlich die Rechtsstaatlichkeit für das Verfassungsgericht soll ja unabhängig sein und nicht gegängelt. Und die Medienvielfalt und die Pressefreiheit in Sachen öffentlich-rechtlicher Rundfunk, die dürfen ja auch nicht gegängelt werden, sondern sollen unabhängig berichten können.
    "Die Kommission will gleich am Anfang diese negativen Tendenzen behandeln"
    Simon: Frau Reding, in Polen räumen ja auch unabhängige Beobachter ein, dass auch die letzte Regierung, die Bürgerplattform, unbequeme Journalisten entlassen hat und ihr Nahestehende in den öffentlich-rechtlichen Medien platziert hat. Urteilt Europa da jetzt, weil es jetzt eine nationalkonservative Regierung ist, mit zweierlei Maß?
    Reding: Ich glaube das nicht. Eine Sache ist ja, hier und da die Journalisten nicht so zu behandeln, wie man sie zu behandeln hat, nämlich ihnen die Unabhängigkeit zu lassen. Und das andere ist ein Gesetz zu schaffen, das ja die Möglichkeit dann gibt, in die Breite hinein sämtliche Direktionsgremien, die nicht der politischen Meinung entsprechen, auszuschalten. Das sind schon zwei verschiedene Sachen. Es muss, damit die Systemwidrigkeit bewiesen werden kann, muss man ja Gesetzestexte haben, die dieser Rechtsstaatlichkeit widersprechen.
    Simon: Frau Reding, Sie haben ja eingangs von der Auseinandersetzung gesprochen, die die EU-Kommission mit Ihnen als Justizkommissarin hatte mit Ungarn zum Thema Rechtsstaatlichkeit. Auch da gab es eine Regierung und gibt es immer noch mit Zweidrittelmehrheit im Parlament. Die Auseinandersetzung mit Ungarn war lang und zäh. Sie haben jetzt den neuen Mechanismus beschrieben - wird es wirklich jetzt schneller gehen, wieder zur Rechtsstaatlichkeit, wenn die in Gefahr ist, in Polen zu kommen, als früher?
    Reding: Dieser Mechanismus wird höchstwahrscheinlich jetzt zum ersten Mal angewandt werden. Dann haben wir wenigstens eine Prozedur, nach der wir verfahren können. Und der Vizepräsident der Kommission, Herr Timmermanns, der hat ja schon zweimal reagiert, und zwar beim Verfassungsgericht hat er einen Brief am 23. Dezember an die Behörden in Polen geschickt und für die Rundfunkproblematik hat er einen Brief am 30. Dezember geschrieben. Also man sieht schon, die Kommission will gleich am Anfang diese negativen Tendenzen behandeln und ihnen eine Barriere vorzeigen. Sehr interessant auch, in dem zweiten Brief von Herrn Timmermanns über die Medienvielfalt und die Pressefreiheit, da zitiert er ganz klar Artikel zwei der EU-Verträge und Artikel eins der Charta der Grundrechte. Er zitiert auch die Richtlinie über audiovisuelle Medien, und er zitiert die Mitteilung der Kommission über staatliche Beihilfen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Also man sieht schon, dass die Kommission sich auf die Basistexte beruft, die ja die 28 zusammenhalten soll, und die wird schon hoffentlich die richtigen Entscheidungen treffen, und hoffentlich wird Polen einsehen, dass ein großes EU-Land sich nicht so systematisch auf eine Rechtsstaatlichkeitsnegierung begeben kann.
    Ungarn: "Man sollte da keine Vergleiche anführen"
    Simon: Frau Reding, der deutsche CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok hält die Auseinandersetzung mit Polen für die größere Herausforderung im Vergleich zu der mit Ungarn, weil, so Brok, hier die Ideologie eine größere Rolle spielt, also konservative Kirche plus ausgesprochener Nationalismus. Teilen sie diese Einschätzung?
    Reding: In Ungarn haben wir ja auch eine sehr klare Ideologie gesehen, die von Orban systematisch in die Praxis umgesetzt wurde. Ich glaube, man sollte da jetzt keine Vergleiche anführen. Wenn die Rechtsstaatlichkeit außer Kraft gesetzt wird, dann sollte man, dann muss man sogar als Politiker agieren. Ich habe selbst ja als EVP-Politikerin dem EVP -
    Simon: Also den Europäischen Volksparteien ...
    Reding: Ja, ich bin ja Mitglied der Europäischen Volkspartei, und es war nicht einfach für mich, einen Staat, der von der Europäischen Volkspartei regiert wird, in die Schranken zu weisen. Ich fand mich da relativ allein, als ich das mit Ungarn tat. Ich freue mich darauf, dass man jetzt bei Polen die Rechtsstaatlichkeit als parteiunabhängig ansieht.
    Simon: Frau Reding, wenn wer in die Europäische Union will, der muss in Sachen Rechtsstaat und Grundwerte eine saubere Bilanz aufweisen, sonst wird er kein Mitglied, da wird sehr drauf geachtet. Warum gibt es diese routinemäßigen Überprüfungen nicht, sobald ein Land EU-Mitglied ist?
    Reding: Sie haben Ihren Finger ja auf eine Unzulänglichkeit gelegt. Ehe ein Staat Mitglied wird, kann es sehr klar kontrolliert werden. Die Kopenhagen-Kriterien über Rechtsstaatlichkeit werden da angewandt. In dem Moment, wo ein Staat Mitglied ist, wird ja die Voraussetzung, dass dieser Staat diese Kriterien der Rechtsstaatlichkeit einhält, das ist ja die Basisvoraussetzung, um Mitglied zu werden, also wird nicht mehr kontrolliert. Und wir haben eigentlich nicht damit gerechnet, dass im Lauf der Jahre EU-Mitgliedsstaaten so die Rechtsstaatlichkeit außer Kraft setzen könnten, wie das heute leider funktioniert. Und deshalb bedarf es eben dieses speziellen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, den ich 2014 eingeführt habe. Ich glaube, es wird an der Zeit, den jetzt auch in den Gebrauch zu nehmen.
    Simon: Viviane Reding war das, christsoziale Europaabgeordnete aus Luxemburg und frühere EU-Kommissarin. Frau Reding, vielen Dank für das Gespräch!
    Reding: Gern geschehen!
    Simon: Auf Wiederhören!
    Reding: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.