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Reformland Frankreich (1/5)
Der Rebell von Laigneville

Der Bürgermeister von Laigneville im Département Oise ist beinah eine Berühmtheit in Frankreich. Im Sommer 2017 lud Christophe Dietrich die neuen Abgeordneten des Parlaments ein, im Rathaus zu hospitieren. Monsieur le maire sagt: In Paris säßen eine Menge Ahnungslose, die nicht wüssten, wie ein Rathaus funktioniert.

Von Suzanne Krause | 29.01.2018
    Vor dem großen weißen beleuchteten Schild mit schwarzer Schrift in einem Flur sieht man die Silhouetten einer Frau und eines Mannes.
    Manager, Forscher, Ärzte: Die Parlamants-Debütanten in der Nationalversammlung repräsentierten nicht die Gesamtbevölkerung, kritisiert Christophe Dietrich (Olivier Lejeune / MAXPPP / dpa)
    Mit vorgebeugtem Oberkörper sitzt Christophe Dietrich am Computer in seinem Büro. Der stämmige Mittvierziger trägt die Haare streichholzkurz, das dunkelblaue Hemd am Kragen offen.
    "Hier ist der Vierspalter, den die Zeitung 'Le Monde' uns gewidmet hat. Er handelt von einer Stadt, die weder arm noch reich ist. Und sich abgehängt fühlt. Unser Fall ist typisch."
    Im vergangenen Sommer hat der Bürgermeister im Netz eine Anzeige geschaltet. Das machte ihn im ganzen Land berühmt. Neue Abgeordnete des Parlaments sollten mal nach Laigneville kommen und sich eine Woche lang den Rathausalltag aus der Nähe anschauen. Mechanisch rückt Christophe Dietrich seine schmale Brille auf der Nase zurecht.
    "Ich habe das sehr ironisch formuliert und geschrieben: Der Bewerber muss ein Gesundheitsattest vorlegen und sich auf wenig Schlaf einstellen. Denn ein Notruf kann einen Bürgermeister rund um die Uhr ereilen. Ich habe versprochen, dass der Praktikant in wirklich alles Einblick erhält. Und bei mir wohnen kann. Denn so bin ich sicher, ihn morgens um sechs raustrommeln zu können. Im Parlament sitzen 577 Abgeordnete, darunter 422 Neulinge. Kein einziger von denen hat mich angerufen. Entweder sind sie sehr schüchtern. Oder sie wissen schon alles. Ich neige zu letzterem."
    Viele Abgeordnete haben nicht auf lokaler Ebene begonnen
    Der Lokalpolitiker hat nachgeschaut, wer die Parlamants-Debütanten sind, die 2017 mit dem Wahlerfolg der Bewegung "En marche" aus der Zivilgesellschaft in die Nationalversammlung eingezogen waren: Manager, Forscher, Ärzte. Das repräsentiert nicht die Gesamtbevölkerung, sagt er grimmig:
    "Wir haben ein Problem mit den Neulingen: Da sie nie ein lokales Mandat hatten, wissen sie nicht, wie ein Rathaus funktioniert. Oder ein Zusammenschluss von Kommunen oder gar ein Département. Aber sie erlassen Gesetze, die wir dann umsetzen müssen. Sie machen also Gesetze, ohne den geringsten Schimmer zu haben davon, wie es an Ort und Stelle wirklich zugeht."
    Viele der Abgeordneten in der zusammengewürfelten Mannschaft von Präsident Macron, die aus Linken, Liberalen, Konservativen, Parteilosen besteht, hätten ihre politische Karriere nicht auf lokaler Ebene begonnen. Meint Dietrich. Und weil Macron die Anhäufung von Posten auch noch unterbinden wolle, leide die lokale Verankerung.
    Laigneville profitiert von der Nähe zu Paris
    Dietrich bittet zur Stippvisite in den Ort. Für sein Rathausmandat in Laigneville hat der Polizist sich nach fünfzehn Jahren Einsatzdienst freistellen lassen. Einem Sheriff nicht unähnlich schreitet er die Hauptstraße entlang. Beidseits reihen sich überwiegend heruntergekommene Bauten aneinander. Missmutig zeigt der Bürgermeister auf den Haufen Sperrmüll neben einer Einfahrt. Der desolate Zustand von Straße und Bürgersteig macht ihn wütend. Er ist angetreten, das Leben in Laigneville zu verbessern. Der Bürgermeister stoppt, seine rechte Hand knetet die linke.
    "Laigneville ist sehr dynamisch. Die Stadt hat 5.000 Einwohner. Vor acht Jahren machte die Altersgruppe der über 60-Jährigen mehr als 40 Prozent der Bevölkerung aus. Heute stellt sie nur noch 17 Prozent. Unser Bevölkerungszuwachs ist phänomenal. In unseren Vor- und Grundschulen sind 660 Kinder eingeschrieben. Während die Nachbarstadt mit doppelt so vielen Einwohnern wie bei uns nur knapp 600 Schulkinder zählt."
    Der Ort profitiert vom Zuzug aus dem nahe gelegenen Paris. Der Norden der Hauptstadt wächst bis hierher, das Leben ist preiswerter und ruhiger. Dafür pendeln die meisten Eltern zur Arbeit. Aber die steigende Einwohnerzahl treibt die Gemeindeausgaben in die Höhe. Und das Geld vom Staat wird weniger.
    Der Bürgermeister verhandelt hart
    Jeder Euro muss "nutzbringend" ausgegeben werden, sagt Christophe Dietrich und kratzt sich am Kopf: Er verhandele hart mit den übergeordneten Instanzen, Region, Département. Er gehe Versicherungen auf die Nerven, damit sie ihre Tarife senken. Er fahre einen harten Sparkurs. Aber aus der Hauptstadt kommt politischer Gegenwind: Macrons Team will die Bürger entlasten und die lokale Wohnsteuer weitgehend abschaffen. Keiner weiß, mit welchen finanziellen Folgen für die Kommunen. Dietrichs Blick schweift in die Ferne.
    "Ob bei einer eventuellen Kompensierung der Wohnsteuer jährlich die Bevölkerungsentwicklung einberechnet wird, ist nicht sicher. Bislang gilt: Wenn unsere Einwohnerzahl steigt, erhöht dies auch die kommunalen Einnahmen. Bislang."
    Kein Nachfolger für die unbesetzte Arztpraxis in Sicht
    Während der Bürgermeister auf einen offenkundig frischrenovierten Flachbau zugeht, bilden sich Sorgenfalten auf seiner Stirn. "Geschlossen", steht auf einem Zettel an der Glastür.
    "Das ist unsere Arztpraxis. Sie hat am 22. Dezember dichtgemacht, kein Nachfolger. Dabei habe ich mindestens 15 Ärzte getroffen, um sie herzulocken. Die Gemeinde hat die Praxisräume gekauft, wir wollen eine Sekretärin anstellen, für die Verwaltungsarbeit. Und trotzdem haben wir keinen Arzt gefunden, der die Praxis übernehmen würde."
    Ein Herr im Rentenalter, zwei Kinder an der Hand, tritt neugierig heran.
    "Geht es um den Arzt? Hoffentlich! Der ärztliche Notruf wimmelt regelmäßig Patienten ab."
    "Ich habe gestern bei der regionalen Gesundheitsbehörde Rabatz gemacht."
    "Die in Lille? Das ist weit weg, denen sind wir völlig egal."
    "Wir werden die Behörde ausbooten. Wir starten mit einer Praxis für Telemedizin und ich suche weiter nach Ärzten. In Kürze ist die medizinische Versorgung besser."
    Verspricht der Bürgermeister dem Rentner, der sich zum Aufbruch anschickt, bevor er sich nochmals umdreht und dem Politiker einschärft:
    "Hören Sie, wie meine Enkelin hustet? Die Zentralisierung ist ja schön und gut. Nur sollte man dabei nicht die am Rand vergessen."