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Regieren unter Zeitdruck

Immer mehr Bürger nutzen das Netz als Plattform für politische Diskussionen oder um sich zu vernetzen. Zweifellos gibt es mehr Chancen für eine Partizipation der Wähler, doch von den Regierenden erfordert das Netz ein bisher unbekanntes Maß an Transparenz und Tempo. Mit welchen Folgen?

Von Bettina Mittelstraß | 24.05.2012
    Leben wir in einer Zeitenwende? Einem Paradigmenwechsel in der Politik, ausgelöst durch die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung – und erkennbar zum Beispiel am Protest gegen den geplanten Neubau des Stuttgarter Bahnhofs?

    "'Stuttgart 21' steht für einen neuen Kommunikationsmodus in der Politik. Jeder Abgeordnete hat heute mit einem Prozess zu tun, dass er ein kleines Stuttgart vor der Haustür hat und Mehrheiten am Ende organisieren muss gegen häufig größere Modernisierungsprojekte. Und da braucht er eine neue Legitimation, die nicht über Planfeststellungsverfahren traditioneller Art läuft, sondern die Information der Bürger anders einbezieht, sodass am Ende eine ernsthafte Partizipation, eine neue Beteiligungsstruktur Teil dieses politischen Prozesses darstellen muss."

    Karl Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Die Spielregeln von politischer Öffentlichkeit haben sich in den letzten Jahren verändert, sagt er:

    "Die Spielregeln revolutionieren sich geradezu. Es gibt neue, andere Akteure, es gibt andere Rhythmen und es gibt auch andere Legitimations- und Akzeptanzstrukturen."

    Eine wichtige Rolle für politische Beteiligung und Aktivität wie etwa die Proteste gegen Stuttgart 21 spielt das Internet und seine Möglichkeiten zur Vernetzung. Die Hoffnung von Bildungseinrichtungen ist groß, dass sich über das digitale Medium und seine neue Beteiligungsarchitektur auch neue Akteure für die Mitwirkung in der Demokratie gewinnen lassen – Menschen, die sich bisher nicht beteiligt haben oder nicht beteiligen konnten, vor allem sogenannte bildungsferne Schichten. Viele Sektionen auf dem Bundeskongress für Politische Bildung beschäftigten sich daher mit der Frage, wie politische Beteiligung im Idealfall für alle funktionieren kann. Doch empirische Untersuchungen zu den politischen Akteuren im Internet ernüchtern zunächst:

    "Es beteiligen sich aus der bürgerlichen Mitte idealtypisch - offline wie online - immer die Gleichen. Die Art zu partizipieren wandelt sich, und das ist traditionelle Parteimitgliedschaft, das ist Wählen gehen, das ist Abstimmungen, aber auch Onlineabstimmungen. Das sind aber nicht Neue und Andere, sondern es sind andere Wege."

    Damit bleibt eine Ungleichheit in der politischen Beteiligung bestehen, die man auch sonst in den klassischen Massenmedien findet, sagt Barbara Pfetsch, Professorin für Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin: Bestimmte Gruppen bleiben trotz aller digitalen Möglichkeiten ausgeschlossen.

    "In der Tat gibt es auch in Debatten im Internet eine Tendenz, dass diejenigen, die auch in anderen Medien häufig zu Wort kommen, auch im Internet überdurchschnittlich sich zu Wort melden, sodass eben diese ganz naive Hoffnung, dass es hier zu einer ganz umfassenden Demokratisierung der Sprecher in der Politik oder in politischen Debatten kommt, nicht wirklich eingetroffen ist."

    Wenn diese Ungleichheit bleibt, könnten immer mehr und schnellere Beteiligungsmöglichkeiten über das Internet sogar zu einer Gefahr für die Demokratie werden: nicht mehr die Mehrheiten führten zu politischen Entscheidungen, sondern gut vernetzte, mobilisierte Eliten, sagt Karl Rudolf Korte:

    "In der Summe kann man natürlich durchaus durch solche nicht-repräsentativen Verfahren Betroffenheitspartizipierer geradezu aktivieren, man kann Schwärme aktivieren, wenn man clever ist, und das verzerrt durchaus das repräsentative Verfahren und führt dazu, dass am Ende eine Partizipationselite Dinge bestimmt, die die Mehrheit anders sieht."

    Positiv bleibt, dass die Internetkommunikation immer neue Impulse für politische Meinungsbildung und Beteiligung liefert, meint Barabara Pfetsch. Doch erst wenn politische Aktivität von dort den Sprung auch in klassische Medien schafft, kann sie auch Politik verändern.

    "Also wenn man etwa den arabischen Frühling nimmt, da zeigen Studien, dass die ganzen wichtigen Informationen über Fernsehen und Radio gelaufen sind. Wichtig ist aber, dass die Mobilisierung und die Vernetzung, die lief über das Internet und die Mobilkommunikation. Und da sehen Sie eben zwei unterschiedliche Seiten, die ganz wichtig sind für die Partizipation: dass eben durch diese Chancen im Netz durchaus etwas Neues entstehen kann. Aber politisch wirkungsmächtig kann es eben nur dann werden, wenn es letztendlich zu einem Überschwappen kommt in die traditionellen Medien und dazu kommt, dass diejenigen, die bisher mächtig sind und etwas zu sagen haben, diese Kommunikation nicht mehr ignorieren können."

    Die Funktionsweisen dieser hybriden Medienöffentlichkeit müsse man noch gründlich untersuchen, sagt sie.

    "Es können ja auch radikale Themen durch das Netz in den öffentlichen Diskurs kommen – unter welchen Bedingungen kommen diese Themen hoch? Das ist unsere Frage."

    Eine andere Frage ist die nach der Veränderung der Rhythmen in der Politik. Mit den digitalen Medien geht ganz allgemein eine enorme Beschleunigung der politischen Debatte einher und katapultiert die Politik in eine "Zeitkrise", sagt Karl Rudolf Korte:

    "Wir haben einerseits den Prozess von Parlamenten, die durch drei Lesungen zu Entscheidungen kommen, dazu in der Tat Zeit brauchen, häufig eben auch über Monate dazu diskutieren. Und wir haben auf der anderen Seite den Druck, oft auch unter finanztechnischen Bedingungen geradezu straßenbeschleunigt unter Echtzeitbedingungen schnell zu entscheiden. Und das sind zwei verschiedene Mechanismen, einmal diese Entschleunigung des Parlaments und die Beschleunigung der Straße. Das sind zwei verschiedene Strukturen, die man zusammenbringen muss idealtypisch, um die Demokratie weiterzuentwickeln."

    Politik im digitalen Zeitalter steht noch vor einer weiteren Herausforderung: der immer größeren Transparenz durch die Möglichkeiten des Internets. Wenn jede Diskussion, jeder politische Prozess permanent unmittelbar abgebildet und verfolgt werden kann, schlägt ein zentrales demokratisches Kriterium in sein Gegenteil um:

    "Man ist nicht entscheidungsfähig, wenn es ausschließlich nur formalisierte transparente Wege gibt. Das kann man an Mechanismen, wie Demokratie funktioniert, weltweit gut beobachten."

    Permanente öffentliche Beobachtung stört zum Beispiel das mühsame Aushandeln von Kompromissen auf der politischen Bühne.

    "Wir haben eine Konsens und Schlichtungsdemokratie hier, die eben hohen sozialen und gesellschaftlichen Frieden garantiert und auch vorlebt geradezu, aber das setzt voraus, dass man eben auch Mechanismen findet, um sich einigen zu können. Das ist nicht nur Kuhhandel, sondern das ist in der Tat ein wechselseitiges Geben und Nehmen, was aber nicht immer öffentlich werden muss in jeder einzelnen Facette."

    Für diesen letzten Rest an Nichtwissen ist das Vertrauen der Wähler nötig.
    "Eine Gesellschaft, die von Misstrauen geleitet wird, verfällt leicht deswegen auch in einen Kontrollwahn, in eine Tyrannei von Transparenz, bei der am Ende das Wichtigste, was Transparenz als Qualität in Demokratie einbringen kann, eben nicht mehr realisiert wird, sondern gerade ins Gegenteil verkehrt wird."