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Regierungswechsel in Deutschland

Deutschland hat gewählt, und das Ergebnis ist viel klarer und eindeutiger ausgefallen, als viele das für möglich gehalten hätten. CDU und FDP haben eine stabile Mehrheit - mit oder ohne Überhangmandate. Nach elf Jahren wird Deutschland also wieder eine schwarz-gelbe Regierung haben, und doch wird es anders sein als damals unter Helmut Kohl.

Von Peter Kapern | 28.09.2009
    Das Ende der Volksparteien
    Gibt es ihn überhaupt? Den generellen Niedergang der Volksparteien? Oder hat die gestrige Wahl nicht vielmehr deutlich gemacht, dass das Konzept der Sozialdemokratie überholt ist, die Union als Volkspartei aber durchaus Zukunft hat.

    Schließlich hat sie sich mit relativ geringen Verlusten aus der Großen Koalition in ein schwarz-gelbes Bündnis retten können. Nein, im Adenauerhaus in Berlin, erst recht nicht im Franz-Josef-Strauß-Haus in München, gibt es Grund aufzuatmen. Auch die Union ist vom langsamen Sterben der Volksparteien gezeichnet:

    "Nicht nur die CSU hat kräftig verloren, auch die CDU in Baden-Württemberg. Und das waren ja bislang die klassischen Länder, in denen die Volkspartei Union enorm stark war. Dort hat sie verloren, in anderen Bereichen war sie schon auf diesen Bereich von 30 Prozent abgeschmolzen"," sagt Richard Hilmer, Meinungsforscher bei Infratrest-Dimap. Und er verweist auf eindeutige Zahlen: Die SPD hat seit der Wiedervereinigung 40 Prozent ihrer Mitglieder verloren, die CDU 30 Prozent. Noch deutlicher wird das Siechtum der Volksparteien, wenn man auf Wählergruppen unterschiedlichen Alters schaut. Bei den Alten, über 60-Jährigen, da ist die Volksparteienwelt noch in Ordnung. Sie stimmen zu 75 Prozent für Union oder SPD. Das sind diejenigen Wähler, die politisch sozialisiert wurden, als FDP-Wähler noch als Exoten angesehen wurden. Völlig anders das Bild der Erstwähler. Bei ihnen kommen SPD und Union gerade noch auf 40 Prozent. In dieser Wählergruppe schneiden Grüne, Liberale oder Linke genau so stark ab wie Union und SPD. Die Unterschiede zwischen Groß und Klein sind planiert. Wahlforscher Hilmer:

    ""Hier sind die Parteien wirklich nur Widerspiegelung dessen, was sich in der Gesellschaft entwickelt, insbesondere des Bedeutungsverlusts von zentralen Milieus, die früher die Kernmilieus für die Parteien darstellten. Es ist die Aufgliederung der Gesellschaft in viele Einzelgruppen, die sich dann im politischen Spektrum ihre Interessenvertreter suchen."

    Was die gestrigen Bundestagswahlen betrifft, so hat sich die Union trotz fortschreitender Erosion also noch einmal über die Ziellinie schleppen können. Das sogenannte bürgerliche Lager hat eine Mehrheit und die CDU damit, so Angela Merkel, eine gute Ausgangsposition.

    "Aus der heraus kann die Union sehr, sehr gut starten, sich als Volkspartei zu erhalten und sich als Volkspartei wieder zu kräftigen."

    Aber, so die Wahlforscher: Es kann auch für die CDU ganz anders kommen. Wenn sich nämlich auf Bundesebene, wie schon in einigen Ländern, eine weitere bürgerliche Konkurrenz wirksam formiert, etwa ein Zusammenschluss der Freien Wähler. Dann hat es die CDU, wie jetzt schon die SPD, mit zwei Wettbewerbern zu tun, die im gleichen Lager auf Stimmenfang gehen.

    SPD am Ende?
    Es sieht nach einem Abschied auf Raten aus. Während an der Basis, insbesondere in Nordrhein-Westfalen, der Unmut über Franz Müntefering wächst, hält der an seinem Amt fest. Noch.

    "Ich hab deutlich gemacht, dass ich als Parteivorsitzender um meine Verantwortung weiß. Ich will mithelfen, dass wir in den nächsten Wochen uns aufstellen in geordneter Weise für die dann kommende Zeit."

    Ein gutes Jahr, nachdem Müntefering aus der Versenkung wieder aufgetaucht ist und den glücklosen Kurt Beck von der Parteispitze verdrängt hat, ist die SPD am Boden. Auf zwei Ursachen für den Niedergang konnten sich die Parteigremien heute verständigen: Hartz IV und Rente mit 67. Der Berliner Politikwissenschaftler Gero Neugebauer sieht das genauso, definiert das Kernproblem der SPD aber etwas allgemeiner:

    "Die SPD ist 1998 angetreten mit der Formel, sie wolle Innovation und soziale Gerechtigkeit realisieren. Sie hat den Pfad der Innovation eingeschlagen, aber sie hat die Gerechtigkeitsseite vergessen."

    Und ist dafür von Wahl zu Wahl stärker abgestraft worden. Gestern liefen noch einmal 1,2 Millionen ihrer Wähler zur Linken über, 900.000 zu den Grünen, 1,8 Millionen verabschiedeten sich ins Lager der Nicht-Wähler. Soziale Gerechtigkeit – ehemals die Kernkompetenz der SPD. Nur wenn sie die zurückerobert, da ist sich Gero Neugebauer sicher, kann die SPD die Stimmenverluste zumindest teilweise wieder ausgleichen. Das Problem: Soziale Gerechtigkeit schreibt sich mittlerweile jede Konkurrenzpartei auf die Fahnen:

    "Die SPD ist gezwungen zu sagen: Das ist unser Begriff von Gerechtigkeit! Und das muss uns unterscheiden von einem Gerechtigkeitsbegriff, wie ihn die Linke prägt, nämlich Veränderung der Verteilungsprinzipien, um letztlich auch eine Systemveränderung herbeizuführen. Oder wie er aufseiten der Union ist, wo der Solidaritätsaspekt beispielsweise als Mitleidseffekt stark betont wird. Ein schwieriges Unterfangen!"

    Und nicht das Einzige, das die SPD bewältigen muss, schließlich geht es auch noch um Kooperationsstrategien mit der Linken. Nie wieder, da sind sich alle Beobachter einig, wird die SPD eine Koalition mit der Linken kategorisch ausschließen. Und darüber hinaus? Wird die SPD eine Fusion mit der Linken ansteuern, um die Zersplitterung links der Mitte zu revidieren? Der Wahlforscher Richard Hilmer hält das für ausgeschlossen. Rote und Tiefrote sind einander in tiefer Abneigung verbunden, und zwar nicht nur an der Spitze der Parteien:

    "Auch bei den von der SPD zur Linkspartei gewanderten, enttäuschten SPD-Wählern ist noch ein gerüttelt Maß an Enttäuschung, an negativen Emotionen gegenüber der SPD vorhanden."

    Ganz zu schweigen von der Spannbreite politischer Überzeugungen, die in der neuen Bundestagsfraktion der Linkspartei vertreten sind. Der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer:

    "Sie haben unter den neuen Bundestagsabgeordneten der Linken Positionen, die sind eher trotzkistisch orientiert."

    Sein Fazit: Fusion unmöglich.

    Politik mit leeren Kassen
    Der Ehrliche ist der Dumme – das weiß der Volksmund, und das wissen Politiker. Wer also will es Peer Steinbrück verübeln, dass er wenige Tage vor der Wahl wissen ließ, er wolle nicht der Doofmann sein, der als einziger Politiker den Bürgern vor der Wahl sagt, was danach an Belastungen auf sie zukommt.
    Damit jetzt, nach dem Urnengang, auch niemand die Bürde des Doofmanns übernehmen muss, gibt es ein eingeübtes Ritual, das für solche Situationen wie geschaffen ist:

    "Es wird zweifelsohne wie nach jeder Wahl einen Kassensturz geben. Und der wird wohl ein unerfreulicheres Resultat haben als alle anderen Kassenstürze nach früheren Wahlen"," sagt Professor Michael Eilfort von der Stiftung Soziale Marktwirtschaft. Er sei, sagt er, heute früh in einem anderen Land wach geworden. In einem Land, in dem sich bittere Wahrheiten nicht mehr verdrängen lassen:

    ""Man weiß, dass es Firmenpleiten geben wird, man weiß, dass im Gesundheitssystem Entscheidungen anstehen. Man hat viele Dinge aufgeschoben in der Großen Koalition, und die kommen jetzt einfach verschärft durch die Krise mit Macht zurück."

    Auf 1600 Milliarden Euro summieren sich derzeit die Schulden von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungen. Bis 2013 wird der Schuldenberg auf 2000 Milliarden Euro angewachsen sein. Die neue Bundesregierung wird sich allein im kommenden Jahr 100 Milliarden Euro leihen müssen. Seine regulären Einnahmen reichen 2010 gerade mal dafür aus, die Zinsen und die Sozialabgaben zu zahlen, der Rest wird auf Pump finanziert. Und selbst am Ende der neuen Legislaturperiode 2013 wird die Neuverschuldung des Bundes noch bei fast 50 Milliarden liegen. Spielraum für Steuersenkungen? Gleich null, da sind sich fast alle Experten einig. Unter dem Strich wird die Steuer- und Abgabenlast also wohl steigen. Auch wenn gute Argumente dagegen sprechen:

    "Bei allen Steuerarten gilt ja: Die Masse macht´s. Und wenn man richtig Geld einnehmen will, dann trifft man genau die Leute in der Mitte, die schon jetzt die ganzen Lasten tragen. Das macht das Arbeiten und Leisten noch unattraktiver. Deshalb bin ich ganz vehement überhaupt gegen die Erhöhung von Steuern und Abgaben."

    Eine Mehrwertsteuererhöhung um einen Punkt bringt gut vier Milliarden in die Staatskasse. Eine Erhöhung der Mineralölsteuer um zehn Cent bringt sechs Milliarden. Wer sich bei der Sanierung des Defizits nicht allein auf Einnahmeerhöhungen stützen will, muss an die Ausgaben ran. Und viel sparen lässt sich am leichtesten dort, wo viel ausgegeben wird:

    "Der mit Abstand größte Posten des Bundeshaushalts sind die Sozialleistungen. Und in dem Bereich muss man schon schauen: Welche Leistungen bringen uns wirklich weiter und welche verführen, vielleicht vorsichtig ausgedrückt, etwas zu Bequemlichkeit und etwas dazu, sich darin einzurichten."

    Eine Agenda 2020 fordert Professor Eilfort deshalb. Und verweist auf die Parallelen zur Bundestagswahl 2002. Auch damals ein lahmer Wahlkampf, in dem die finanzpolitischen Realitäten ausgeblendet blieben. Auch damals Politiker, die erst nach der Wahl sagten, wie sie mit den Problemen, die schon vor der Wahl absehbar waren, umgehen würden. Das Ergebnis war die Agenda 2010. Soll also niemand sagen, er habe es nicht gewusst. Auch wenn es keinen Doofmann gab, der es laut gesagt hat.