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Regionen in der Krise

Das Theater an der Ruhr pflegt traditionell enge Kontakte in den arabischen Raum. So lag es nahe, sich mit den gesellschaftlichen Veränderungen durch die arabische Revolution auseinanderzusetzen. Bei dem Festival "Theaterlandschaft Neues Arabien" waren in Mülheim Produktionen aus Tunesien, Palästina, dem Libanon und Syrien zu sehen.

Von Christiane Enkeler | 30.10.2012
    Zu dem mitternächtlichen Publikumsgespräch nach der Vorstellung des syrischen Stücks "It happened tomorrow", also "Es geschah morgen", sind auch arabischsprachige Besucher gekommen, sicher viele Kollegen, die ebenfalls im Festival "Theaterlandschaft Neues Arabien" ihre Produktionen in Mülheim an der Ruhr vorstellen. Die syrische Regieassistentin, Jahrgang 1982, muss sich herbe Kritik anhören: Ob der Selbstmord der Protagonistin am Ende denn die Lösung sei? Und dass eine ganze Stunde lang nichts passiert! – "Es passiert morgen", entgegnet da mit trockenem Humor einer der Darsteller. Alle lachen wie befreit. Es ist das Schlusswort der Diskussion.

    In einer Art Work-in-Progress-Prozess mit Beginn 2010 verarbeiten die Syrer drei Texte von Franca Rame und Dario Fo, Mark Ravenhill und Franz Xaver Kroetz, dessen Stück "Wunschkonzert" am Anfang der Beschäftigung stand.

    Dima Abazah:

    "Wir wollen über den Missbrauch und die Ungerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft sprechen, darüber, wie man sich immer mehr an den Missbrauch gewöhnt, ohne zu merken, dass man missbraucht wird – oder auch selbst missbraucht. Das ist ja ein zwischenmenschliches Spiel: manchmal missbraucht zu werden und eine Stunde später selbst zu missbrauchen. Missbrauch bei der Arbeit, in der Gesellschaft, zwischen Mann und Frau, in der Familie, zwischen Älteren und Jüngeren und so weiter."

    Was die junge Dima Abazah vom Damascus Theatre Laboratory sagt, klingt nicht zuletzt auch nach europäischen Problemen. In den drei miteinander verwobenen Episoden spricht auf der Bühne eine junge Frau für einen Werbespot vor und muss sich bis auf BH und Hose ausziehen.
    Eine Frau im mittleren Alter pellt sich nach der Arbeit aus dem Kostüm, entspannt sich, sehr privat, testet ihren Körper, halb nackt, in rustikaler Weise auf seine Attraktivität.

    Im Radio gibt es Tipps für Männer, die beim Verführen nicht auf Moral setzen wollen; im Fernsehen erwischt sie eine Liebesszene. Die Frau dagegen ist spürbar allein. Am Ende nimmt sie mechanisch eine Überdosis Tabletten. Das tut sie auch in Kroetz' Text, aber der Selbstmord, den die Religion verbietet, scheint in Syrien die Menschen noch mehr aufzuwühlen.

    Zwischendurch betritt die junge Frau aus der Bewerbungsszene wie eine Spiegelung, wie Vergangenheit oder Tochter der älteren Frau das Zimmer. Sie "übt" mit Zetteln einen Text für ein Vorsprechen, der somit fürs Publikum deutlich als "Fremdtext" von Franca Rame und Dario Fo gekennzeichnet ist – ein Monolog, dessen Sprecherin auf sehr brutale Weise von Soldaten geschunden, fast getötet wird.

    "Wir wollen niemanden verletzen. Wir wollen (wie Du es ausdrückst) den Spiegel vorhalten, mit einer verstehenden Geste. Um einen Schritt vorwärts zu machen und nicht bloß, um zu beschuldigen oder zu kritisieren."

    Das Damascus Theatre Laboratory sieht sich finanziell unabhängig von der Regierung. Dima Abazah erzählt, dass die Gruppe besonders europäisches Gegenwartstheater zu Grunde legt, das Allgemein-Menschliche in den Texten sieht: In Syrien gebe es nicht viele Dramatiker. Obwohl es jetzt schwieriger sei zu proben, wollen sie nach der Rückkehr nach Syrien mit Harold Pinters Drama "Homecoming" beginnen.

    Dima Abazah:

    "In "Homecoming" geht es um das Zuhause und die Familie, wir glauben, dass das gerade zurzeit wichtig ist in unserer Gemeinschaft zu zeigen. Denn viele Menschen haben Syrien verlassen."

    Aber das Kulturleben geht weiter, wenn auch vermindert.

    "Bevor ich nach Mülheim gekommen bin, hab ich in Damaskus zwei Stücke gesehen, eins davon war ein Tanzstück, im Publikum saßen fast 500 Leute. Das war wirklich ein gutes Zeichen. Die Gemeinschaft mit anderen Menschen bringt Entspannung. Man redet miteinander und tauscht sich aus."

    Oussama Ghanam, der Regisseur der syrischen Theater-Produktion, durfte selbst nicht ausreisen.

    Die Theatersprache des libanesischen Schauspieler-Regisseurs Issam Bou Khaled ist eine ganz andere, sehr körperlich-drastische. Sein Leben ist geprägt von Erfahrungen in Krieg und Kampf.

    "Es ist ein offenes Massaker in Syrien gerade. Unerträglich."

    Issam Bou Khaled hat zwei Inszenierungen aus einer Trilogie mitgebracht, die er über Jahre entwickelt hat: Burlesk bewegt sich in der einen eine Gruppe von Soldaten über die Bühne. Im anderen Stück sucht eine tote Frau ihre Körperteile in einem Massengrab. Sie wartet auf ihr Kind, das die tödliche Explosion ihr aus dem Arm gerissen hat. Aber als sie es findet, zerrinnt ihr der kleine Körper wie Sand zwischen den Fingern.

    Die Darsteller tanzen geradezu auf dem schmalen Grat der grausamen Komik. Zerrissene Körper stehen für eine zerrissene Gesellschaft. Menschen bewegen sich wie Hunde. Identitäten verwischen zu Typologien. Die Bühnensprache ist abwechslungsreicher und stilisierter als das, was die eher konventionelle und etwas langatmige syrische Produktion zeigt.

    Rolf Hemke, Scout des Festivals, hält keinen der Beiträge für repräsentativ für die jeweilige Theaterszene. Er geht von individuellen Künstlerhandschriften aus.

    In beiden Länderbeiträgen geht es allerdings um Wert oder Würde des Menschen – als Soldat, als Toter, als Frau, in den Medien, in der Marktwirtschaft – zum Teil auch darum: Sind sie frei, etwas anderes zu tun? Anders zu entscheiden?

    Genau das macht die Produktionen für uns zugänglich.