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Regisseur Christoph Marthaler
Kultverdächtiger Abschied

Menschen als Ausstellungsstücke, zum Teil schon in Transportkisten verpackt: Zu seinem Abschied von der Volksbühne hat Christoph Marthaler das Stück "Bekannte Gefühle, Gemischte Gesichter" inszeniert. Ein kultverdächtiger Abend, meint unser Rezensent.

Von Eberhard Spreng | 22.09.2016
    Der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler
    Der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler zieht sich aus dem Berliner Kulturbetrieb zurück. (picture alliance / dpa / Barbara Gindl)
    Wie immer ein Raum, der Geschichten erzählt: An den Wänden haben abgehängte Rahmen Schattenspuren hinterlassen, die Tönung des Parketts verrät, wo mal Vitrinen standen. Anna Viebrock hat einen Ausstellungsraum gebaut, aus dessen hohen Dachschrägen das Oberlicht unfreundlich nüchtern herabfällt. Hinten ein Aufzug und eine große Flügeltür, aus der ein Mann im Hausmeisterkittel mit einem Rollwagen hereinfährt. Eine Filzdecke verhüllt einen unförmigen Gegenstand. Aber aus dieser Verpackung klingt leise Renaissancemusik.
    Und dann wird Jürg Kienberger am Cembalo enthüllt. Marc Bodnar spielt mit bravouröser Zurückhaltung den Hausmeister, der sich sein kleines privates Vergnügen daraus macht, seinen Transportalltag jedes Mal mit jeweils unterschiedlichen kleinen Kapricen zu versehen.
    Abgetakelte Gestalten aus besseren Zeiten
    Zwölf Künstler bringt er so auf die Bühne wie abgetakelte Gestalten aus besseren Zeiten und jeder fordert seinen individuellen Auftritt aus dem Reich der Verpackung. Irm Hermann, die Grande Dame mit lasziver Armhaltung, oder Olivia Grigoli, die schüchtern, verdutzt aus einem Umzugskarton emporschaut, in den sie der Museumsmann gleich wieder zurückdrängt. Hier lebt etwas auf, das nicht auf den Müll der Geschichte will, etwas, das sich immer noch bewegt, lebt, singt:
    Marthalers reichhaltige Musikliste für diesen Abend liest sich wie die Vorlage zu einem üppigen Wunschkonzert. So als müsse für diesen Abschied noch einmal die ganze Musikgeschichte aufgeboten werden zum Vergnügen der Zuhörer. Aber dieser Abend ist so ungeheuer leise und eindringlich, so beiläufig brillant inszeniert, dass für keinen Moment Déjà-Vu-Effekte entstehen.
    Einzelwesen ohne Beziehungen
    Hier sind dreizehn Menschen versammelt, die wie je unterschiedliche Farben einer Palette für all das stehen, was Menschen sein können, dreizehn Einzelwesen, die miteinander nicht in Kontakt kommen, nicht kommunizieren können, keine Beziehungen unterhalten. Insofern ist hier auch von den erloschenen Gefühlen die Rede, die Botho Strauß Stück von 1975 beherrschten, dessen Titel "Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle" hier verballhornt wird.
    Nur einmal finden sie sich zu einem Gruppenbild zusammen. Kunstvoll verschlingen sich, initiiert von Altea Garrido, tänzerische Umgarnung, Beine und andere Gliedmaßen zu einem Knäuel, zu einer Laokoon-Gruppe; Liebe und Nähe nur noch denkbar im Kollektiv, getrennt nur von einem bösen Gott, der die Volksbühne einer anderen Zukunft entgegentreibt.
    Was bleibt, sind herrliche Miniaturen: Wenn Irm Hermann nach dem Tanz der Transportkisten ausruft: "Ich hasse diese Wanderausstellungen" oder mit einer Verpackung von Glückskeksen kämpft, dann angewidert an einem Eckchen des Kekses knabbert und ihm einen Sinnspruch entnimmt: "Du sollst Dich im Zweifel für das Richtige entscheiden". Oder der Pas-de-Deux des Hausmeisters mit einer Luftpolsterfolie, oder Magne Håvard Brekke, wie er eine auf dem Boden liegende Violine missmutig mit dem Fuß vor sich her stößt. Oder der Kalauer: "Muss denn jedes Mal bei meiner Silbernen Hochzeit geraucht werden." Dann wieder greifen diese Ewig-Gestrigen dem Zuschauer ans Herz mit Nietzsches "Oh Mensch" aus dem trunkenen Lied.
    Olle Exponate und eitle Trottel
    "Doch alle Lust will Ewigkeit" heißt es am Ende in Nietzsches Gedicht und mit ihm sind aus Marthalers lustigen Vergangenheitsmenschen tatsächlich auch Ewigkeitswesen geworden. Der Regisseur hat sie als olle Exponate entblößt und als eitle Trottel diffamiert, er hat ihr jämmerliches Menschsein kenntlich gemacht und sie gleichzeitig mit der Aura einer Bühnennoblesse versehen, sodass das Publikum sie am Ende gar nicht mehr entlassen will in die Finsternis der Kulissen und in die Magazine des Theatermuseums.
    Marthaler hätte brillanter den Leerraum nicht markieren können, den sein Abschied von der Volksbühne und das verordnete Ende dieser Volksbühne im Berliner Kulturbetrieb hinterlassen werden. Er deutet am Ende nur kurz ironisch das "Danke"-Lied aus seiner Einstandsinszenierung "Murx den Europäer" von 1993 an. Die ist längst Kult.
    Damals war metaphorisch vom Ende der DDR die Rede, jetzt steht ein neuer Epochenwechsel an. Natürlich wird es noch Marthaler-Abende geben, hier und da und hoffentlich auch in Berlin. Aber ein Abend wie dieser, mit dieser machtvollen Koppelung von Ort, Geschichte und Theaterkunst ist künftig undenkbar. "Bekannte Gefühle, Gemischte Gesichter" ist ohne Frage kultverdächtig.