Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Reihe: 20 Themen – 20 Köpfe
"Die Bundesrepublik ist bunter und demokratischer geworden"

Der Jurist Knut Nevermann und der Politikwissenschaftler Hajo Funke waren beide in der Studentenbewegung von 1966 bis 1968 aktiv. Im Gespräch lassen sie schockierende Erlebnisse - wie die Ermordung von Benno Ohnesorg - Revue passieren und sprechen auch über die positiven Auswirkungen dieser bewegten Zeit.

Gastmoderator Knut Nevermann | 27.02.2018
    Der Jurist Knut Nevermann als Gastmoderator in der Sendung Campus und Karriere für die Reihe "20 Themen - 20 Köpfe"
    Der Jurist Knut Nevermann als Gastmoderator in der Sendung Campus und Karriere (Deutschlandradio/Michael Böddeker)
    Knut Nevermann: Ich begrüße jetzt Professor Hajo Funke, er war viele Jahre Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität am Otto-Suhr-Institut, er hat ein Buch geschrieben, das heißt "Antiautoritär: 50 Jahre Studentenbewegung: die politisch-kulturellen Umbrüche". Herr Funke, ich habe als Eingang die Frage: Sie waren 1966 nach Berlin gekommen und haben an dem ersten großen Höhepunkt der Studentenbewegung, nämlich dem Sit-in am 21. April 1966 teilgenommen. Mich würde interessieren, wie das auf jemanden, der gerade nach Berlin gekommen ist, eigentlich gewirkt hat?
    Hajo Funke: Es war ungeheuer. Ich war ja gerade vorher in der Bundeswehr gewesen in Nord-Niedersachsen und in München, und nun waren da 2-, 3.000, die eine akademische Senatssitzung, die geheim sein sollte, belagert hat, um Informationen über das, was uns geärgert hat, zu bekommen. Und die studentischen Vertreter waren so frech und gingen raus, obwohl es geheim war, und informierten uns, und es ging um die Verhinderung von Zwangsexmatrikulation. Man muss sich das damals so vorstellen, ein paar Wochen hatte ich ja schon studiert, 66, man hat dann einfach wahrnehmen können: Wir können was ändern, ja, wir werden das zurücknehmen, wir werden darum kämpfen, dass das mit der Zwangsexmatrikulation und diesen restriktiven Ordnungen aufhört. Für mich ein halbes Wunder.
    "Offenbar war es ein Kampf um alles"
    Nevermann: Es war ja auch dann in der Abschlussresolution, die da verfasst worden ist, hieß es: Wir treten ein für die Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche. Damit war ja eines der zentralen Werte eigentlich auch, die der Studentenbewegung zugrunde lagen, formuliert worden. Was mich damals überraschte, ist, dass wir da einfach saßen in einem Gebäude, wo man normalerweise durchläuft, in einen Hörsaal geht, also uns wirklich regelverletzend verhalten hatten, und das fand ich dann doch auch ziemlich mutig.
    Funke: Ich meine, mich erinnern zu können, das mit hochrotem Kopf erlebt zu haben, und das ging über zehn Stunden. Das ging in die Nacht hinein, offenbar war es richtig ein Kampf um alles, wenn auch nur um den Abbau oligarchischer Herrschaft, wie es da in der Resolution stand, am Ende an der Universität, aber eben doch mit der Perspektive, dass es auch in die Gesellschaft gehen müsse, um sie demokratischer zu machen. Und wenn ich erinnere, wie das in den 50er-Jahren war, das war zwar irgendwie nach den Regeln der Demokratie, aber wirklich demokratisch und offen und konfliktträchtig, konfliktfähig waren die 50er-Jahre nun weiß Gott nicht.
    Nevermann: Wenn man das zusammenfassen will, glaube ich, kann man sagen, es war der Begriff der Demokratisierung, es war der Begriff des Antiautoritären, also der Infragestellung aller nicht begründbaren Herrschaft, und es war eben auch plötzlich das Gefühl, dass diese Studenten irgendwie zusammengehören, dass sie gemeinsam was bewirken können. Das fand ich auch im Nachhinein eigentlich eine ganz wesentliche Erfahrung. Der nächste zweite große Einschnitt war ja 1967 die Ermordung von Benno Ohnesorg durch einen zivilgekleideten Polizisten der Berliner Polizei. Sie waren da dabei. Können Sie das kurz schildern?
    Funke: Es war meine erste politische Demonstration. Ich kam aus dem Seminar von Alexander Schwan zu Demokratie, und das dauerte immer vier Stunden. Und in der Pause sind wir weg, wir müssen dahin, wir haben am Tag vorher gehört, der Schah ist ein Diktator und ist für Verbrechen zuständig, wir müssen gegen ihn protestieren vor der Deutschen Oper, wo er mit dem regierenden Bürgermeister Albertz und dem Bundespräsidenten Lübke hineingehen wollte, um eine Mozartoper zu hören. Wir demonstrierten also gewaltfrei auf der anderen Seite in einem engen Schlauch zwischen der Straße, bewacht von Polizei diese Straße, und hinter uns ein Bauzaun, und demonstrierten und riefen "Schah, Schah, Schaschlik, Schah, Mörder".
    "Es war nur Gewalt"
    Nevermann: Ja, und es gab dann einen Einsatz der Polizei, über den man auch im Nachhinein nur noch den Kopf schütteln kann. Es war damals ein Polizeipräsident, der der Meinung war, man muss in einen Schlauch hineingehen, in dem die Studenten standen und demonstrierten, und sie nach links und nach rechts auseinandertreiben, was natürlich gar nicht funktionieren kann, sodass es zu einem ziemlichen Durcheinander kam, in dem Gefolge auch der Polizist Kurras auf Benno Ohnesorg die Pistole gezogen hat. Hat man das mitbekommen?
    Funke: Es war ein totales Durcheinander, und es war nur Gewalt. Ich spürte, ohne selbst sehr verletzt worden zu sein, das ging nicht ohne Gewalt. Also hinter dem Bauzaun, ich bin auf den Baum geklettert, geguckt, plötzlich sind da Polizeihunde hinter uns, all of a sudden. Wir waren nicht informiert, dass es gefährlich werden könnte. Es war eine regelrechte normale Demonstration, zu der wir das Recht hatten. Also ich wurde ebenfalls in die krumme Straße, wie Benno Ohnesorg, der dann um halb neun, etwas später, getötet worden ist durch einen gezielten Schuss und nicht im Handgemenge, wie wir später erfuhren, abgedrängt, und dann gab es Lautsprecherrufe der Polizei, das Pferd ist angerissen, und der Polizist ist getötet, also mit völligen Fehlinformationen. Und die Wut und die Gewalt der Polizisten war einmalig.
    Womöglich hätte ich das alles irgendwie noch begriffen, hätten dann die Zuständigen, also der regierende Bürgermeister oder die Öffentlichkeit oder die Medien gesagt, Mensch, wir haben da einen Riesenfehler gemacht – nichts davon. Noch in der Nacht sagte der regierende Bürgermeister: "Ihr seid verantwortlich für den Tod eines Studenten." Wir als Studenten. Und noch am Beerdigungstag von Benno Ohnesorg, ein Student wie wir, sagte man, ein CDU-Mann im Abgeordnetenhaus, wenn der – sinngemäß –, wenn der Blinddarm allzu sehr schmerzt, muss man ihn rausoperieren, das heißt: uns. Das heißt, es war eine pogromähnliche Wut und Hetze durch einen großen Teil der Presse, Springer-Presse, einerseits und der Politik und Öffentlichkeit andererseits. Nicht einmal die FU-Spitze hat uns dann zugelassen, dass wir uns wenigstens treffen konnten am nächsten Tag.
    Nevermann: Ja, ich erinnere auch die besondere Enttäuschung über die Reaktion sowohl der Universität als aber auch von Heinrich Albertz. Ich muss sagen, ich habe damals geheult in der Nacht. Ich war da im AStA, und wir haben die ersten Zeugenaussagen gesammelt, und es war wirklich gewaltig. Dieser Tod von Benno Ohnesorg hat dann die Rebellion, würde ich mal sagen, die studentische Rebellion in alle Universitätsstädte der Bundesrepublik getragen und verbreitet. Plötzlich war das nicht mehr eine Berliner oder Frankfurter Angelegenheit, es war eine bundesweite Angelegenheit, und auch dadurch ist die Erinnerung natürlich an dieses Jahr 68 besonders präsent. Und darüber sprechen wir nach einer kleinen Pause mit Musik.
    Herr Professor Funke, ich komme zurück auf das Thema der Ausweitung des Protestpotenzials auf die ganze Bundesrepublik. Und dann natürlich auf das, was im Jahr 1968 tatsächlich geschah, nämlich das Attentat auf Rudi Dutschke. Wie haben Sie das erlebt?
    Funke: Der 2. Juni 67, der Tod von Benno Ohnesorg, war ein Schock. Die Demokratie funktionierte nicht so, nachdem auch die Leute in Berlin, in Westberlin, aus der politischen Ebene nicht reagiert haben wie wir das gelehrt bekommen haben, auch schon am Otto-Suhr-Institut. Das war der Schock. Wir mussten alles neu bedenken. Jedenfalls habe ich so empfunden, und daraus entstand auch ein Wir in der ad-hoc-Gruppe am Otto-Suhr-Institut mit den Studenten, mit der Studentenvertretung. Damit begann es für uns. Bitter war dann, dass ein halbes Jahr, ein gutes halbes Jahr später am 11. April einer der Führer, Rudi Dutschke, eine zentrale Figur, lebensgefährlich angeschossen worden ist und im Grunde politisch ausgeschaltet worden ist durch einen Rechtsextremen, durch Josef Bachmann. Das war bitter. Es war nicht nur ein Schock, ein erneuter, sondern es war der zweite Schock, es war gewissermaßen die verschärfte Wiederholung in meiner Wahrnehmung an diesem 11. Donnerstag, Gründonnerstag des Jahres 68.
    Nevermann: Ja, ich weiß, dass wir uns da relativ schnell getroffen hatten im Republikanischen Club. Es gab dann anschließend auch noch Veranstaltungen an der Technischen Universität, und da war eines klar: Dieses ist auch irgendwo ein Produkt der manipulierten Medien und der Springer-Presse in Berlin, weil die sich auf Dutschke eingeschossen hatten mit "Staatsfeind Nummer Eins" und "Schmeißt sie raus" und alle möglichen Dinge, sodass dann etwas geschah, was mich nun auch wiederum überraschte, nämlich eine wirklich massenhafte Demonstration zum Springer-Hochhaus in Berlin und in vielen anderen Städten auch, mit dem Ziel, die "Bild"-Zeitungsauslieferung zu verhindern. Waren Sie da dabei?
    Funke: Ich war dabei, ich war auch auf einem dieser Wagen und habe versucht, diesen Wagen dran zu hindern, dass er "Bild"-Zeitung ausliefert.
    "Es gab so eine Art Dialektik zwischen Revolte und Reform"
    Nevermann: Das Interessante damals war, dass plötzlich Auslieferungswagen brannten, und hinterher kam heraus, dass der Anlieferer von den Molotowcocktails, den man dafür braucht, um die in Brand zu stecken, von einem Agenten des Verfassungsschutzes aus Berlin stammte. Das sind so Dinge, die ich immer noch nicht verknusen kann, immer noch nicht vertragen kann, genauso wenig, wie ich immer noch nicht vertragen kann, wie sie nach dem Tod von Benno Ohnesorg Beweismittel aus dem Verkehr gezogen haben, vernichtet haben, Akten gefälscht haben, um nicht herauszubekommen, wie das tatsächlich geschehen ist mit dem Mord an Benno Ohnesorg. Der ist inzwischen zwar aufgeklärt, aber es hat lange gedauert, und in den Gerichtsprozessen wurde noch geschummelt, dass sich die Balken biegen. Auch das hat natürlich dazu beigetragen, dass eigentlich die Kluft, die in der Studentenbewegung auf der einen Seite war, und dem, was sich das Establishment oder die Herrschenden nennen konnten, vergrößert hat, und ich frage mich eigentlich, wie konnte es passieren, dass wir trotzdem hinterher noch einigermaßen vernünftig miteinander Politik gemacht haben seitens der Studenten.
    Funke: Das war ein komplexer Prozess am Otto-Suhr-Institut, über den ich einigermaßen gut mich erinnern kann, ich war damals Fachschaftssprecher, und wir haben dann Vollversammlung gemacht, und es ging um Gewalt: Wollen wir in die Gewalt gehen oder nicht. Und es gab wunderbare Mitstudenten, die sagten, nein, das machen wir nicht. Sigrun Marx, erinnere ich, die sehr klug begründet hat, dass die Situation in Südamerika oder anderswo anders ist, aber nicht in Deutschland, das ist ein Rechtsstaat, wir müssen sozusagen an diesen erschütterten Rechtsstaat appellieren und vor allem auch mehr Zuwachs gewinnen in der Öffentlichkeit für unsere Belange der Demokratisierung.
    Also dass es eine, wenn auch sehr streitige Debatte, am Ende eine, in diesen großen Vollversammlungen, eine Einigung gab, nicht auf Gewalt zu machen, aber auf Regelverletzung, aber auf zivilen Ungehorsam, und wenig später haben wir dann auch gegen viele andere Studierende das Otto-Suhr-Institut besetzt, um gegen die Notstandsgesetze, die wir auch als autoritäre Verschärfung interpretiert haben, zu protestieren. Aber das ging ohne Polizei ab, weil – und das ist sehr wichtig für den gesamten Prozess –, weil es auf der anderen Seite Leute gab, die das nicht bis zur ultimativen Zuspitzung treiben lassen wollten. Also haben wir einen Kompromiss gemacht: Wir waren drei Tage dort oder vier, und dann gab es Angebote von sozialdemokratischen Hochschulreformen und gesagt, was wollt ihr denn, und dann kam mehr heraus, als was wir selbst an Forderungen hatten. Das heißt, es gab dann so eine Art Dialektik zwischen Revolte und Reform am Otto-Suhr-Institut.
    Nevermann: Ich finde das deshalb besonders wichtig, weil ja eine der Lesarten, die man heute in einigen Zeitungen oder Veröffentlichungen lesen kann, anders lauten. Nämlich die, es gebe einen unmittelbaren und massenhaften Zusammenhang zwischen der Rebellion der Studenten auf der einen Seite und der Gewaltanwendung und dem Terrorismus später der RAF-Brüder und so weiter auf der anderen Seite. Ich halte auch dieses für wichtig, dass man am Otto-Suhr-Institut genau nachweisen kann, dass dieses keine Notwendigkeit war und dass die große überwiegende Menge der Studenten, die politisiert waren, sowohl nach dem Tod von Benno Ohnesorg als auch nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke, dass die durchaus in dem System weiter, wenn auch kritisch, wenn auch aufmüpfig, tätig sein wollten, aber mitnichten einen Hang dazu hatten, zur Gewalt zu greifen und in den Untergrund zu gehen oder gar Terroristen zu werden. Diese Lesart ist wirklich auch eine Verunglimpfung, denn eigentlich – und darüber sollten wir jetzt noch kurz uns unterhalten – sind ja die Effekte, die von 68 ausgegangen sind auf die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, ja andere. Wie sehen Sie das?
    Funke: Also natürlich gab es kleinste Gruppen, die in die Gewalt gingen. Ich kannte auch viele. Es war furchtbar, weil es kein Ende nahm, und dann durch die Zuspitzung zwischen Staatsgewalt und RAF-Gewalt sich immer weiter eskalierte bis zum Jahr 1977. Man war dem ausgesetzt, und es hat der Studentenbewegung und der Demokratisierung geschadet. Was positiv gleichzeitig – und das ist ja das Erstaunliche – herausgekommen ist, ist im Grunde eine Revolution, und zwar eine Revolution in neuer Erziehung. Eine Zahl sei mir erlaubt zu sagen: Diejenigen, die einen unabhängigen und einen freien Willen als zentrale Ziele der Erziehung ansahen, wuchsen innerhalb von zehn Jahren um zehn Millionen. Das hat es in der Geschichte Deutschlands noch nicht gegeben. Zwischen 1967 und 1976.
    Nevermann: Studentenbewegung hat einiges ermöglicht
    Nevermann: Das ist ein gutes Beispiel, empirisches Beispiel. Ich glaube, man kann aber auch allgemeiner sagen, dass diese Unruhe der Studentenbewegung von 66 bis 68 dazu geführt hat, dass in der Zivilgesellschaft einiges ermöglicht oder angedacht oder angestoßen wurde. Es gab eine Fülle von Bewegungen in der Folge, nämlich die Frauenbewegung, die erstarkte, die es schon vorher gab, aber die erstarkte, es gab eine Psychobewegung, es gab die Anti-AKW-Bewegung, es gab eine Umweltbewegung, eine Friedensbewegung. Und es gab letztlich und endlich auch die Grünen als eine neue Partei, die sich etwas später etablierte, die aber alle unmittelbare, personelle, gedankliche, ideologische Zusammenhänge mit der Studentenbewegung hatten, und dieses, kann man doch sagen, hat die Bundesrepublik verändert.
    Funke: Es hat sie verändert. Sie ist danach trotz 77, trotz RAF und jenseits des linken und später auch Rechtsterrors bunter, demokratischer, offener geworden. Und noch eins: Wir hatten ja recht in der Kritik am Vietnamkrieg, in der Kritik am Autoritarismus und Familie, Staat und Gesellschaft und Hochschule und auch an der Pressekonzentration besonders in Berlin und Hamburg. Und wir waren darin fast allein. Einige tolle Leute aus der Kirche, einige tolle Leute von den Professoren – ohne diese gewissermaßen Ersatzväter hätten wir das auch nicht so geschafft.
    Nevermann: Herr Funke, ich danke Ihnen für das Gespräch. Ich glaube auch, dass man sich mit durchaus positiven Ergebnissen mit der Zeit der Studentenbewegung beschäftigen kann. Und vielleicht müssen wir darüber nachdenken, ob wir auch nicht heute mal wieder einen kleinen Anschub bräuchten, um zur stärkeren Demokratisierung, zur Auflösung von Missmut, zur Abwendung von Rechtsentwicklungen beizutragen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.