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Reihe Einheitscheck
Der deutsch-deutsche Grenzerstammtisch

Am Grenzer-Stammtisch an der bayerisch-thüringischen Grenze setzen die Teilnehmer die Puzzleteile der deutsch-deutschen Geschichte zusammen. Und wenn zwei Teile einmal nicht zusammenpassen wollen, wenn die Widersprüche nicht aufzulösen sind, hilft ihnen gemeinsames Singen.

Von Michael Watzke | 03.07.2014
    Das Grüne Band an der früheren innerdeutschen Grenze
    Das sogenannte Grüne Band an der früheren innerdeutschen Grenze ist heute Heimat für gefährdete Tier- und Pflanzenarten. (picture alliance / dpa)
    Ein Dienstagabend in einer Gastwirtschaft an der bayerisch-thüringischen Grenze.
    "Schön, dass wir uns wieder zum Grenzer-Stammtisch einfinden. Diesmal beim Alex im Blechschmittenhammer. Das ist ja das Lokal, wo sich früher die Grenzpolizisten, die Zöllner und alle getroffen haben. Und die Amerikaner, die waren auch da. Also, Prost - schön, dass es geklappt hat!"
    Neun Männer und eine Frau sitzen an einem Ecktisch beisammen. Fünf Thüringer, vier Bayern - darunter ein schelmisch grinsender Oberfranke mit wippendem Schnurrbart.
    "Bin der Otto Oeder. War hier über 40 Jahre bei der Polizei in Bad Steben. Von '65 bis zur Grenzöffnung '89 jeden Tag an der Grenze."
    Oeder hat den Stammtisch mitgegründet. Er erzählt gern, schreibt alle Geschichten in ein Notizbuch und hält die Runde bei Laune.
    "Ich tu schon mal gern necken. Und erzähl' oft einen Witz von drüben. Wenn der Honecker morgens in Wandlitz aufgestanden ist und hat die Sonne gesehen, wie sie aufging, da hat er gesagt: ‚Guten Morgen, liebe Sonne!´. Zu Mittag hat er gesagt: ‚Guten Tag, liebe Sonne!' Abends hat er gesagt: ‚Guten Abend, liebe Sonne!' Da hat die Sonne zum Honni gesagt: ‚Jetzt kannste mich am Arsch lecken, jetzt bin ich im Westen!"
    Eine schöne Zeit an der Grenze
    Neben Otto Oeder sitzt Egon Herrmann und lacht. Der gebürtige Brandenburger patrouillierte zu Honeckers Zeiten als junger Wehrpflichtiger auf der anderen Seite der Grenze, auf DDR-Gebiet.
    "Wir waren als Soldaten zufrieden, dass wir an die Grenze gekommen sind, weil wir hier freier waren. Wir konnten uns hier freier bewegen als zum Beispiel in Brandenburg, wo man Löcher buddeln musste oder mit dem Panzer unterwegs war, bei der Hitze. Hier an der Grenze waren wir unter uns. Also, ich hatte hier eigentlich nichts auszustehen und auch eine schöne Zeit."
    Wenn Herrmann und Oeder vor die Tür des Gasthauses treten, können sie den ehemaligen Grenzstreifen sehen, der sich heute wie ein grünes Band durch die Landschaft schlängelt. Damals aber war die Zonengrenze ein vermintes, tödliches Sperrgebiet.
    "69/70 waren wir beide hier." - "Wir waren uns gegenübergestanden, ja." .- "Das heißt, Ihr könntet Euch theoretisch hier...?" - "Begegnet sein? Ja. Wir könnten uns irgendwo gesehen haben, ohne dass wir jetzt davon wissen. Selbstverständlich." - "Wir sagen ja oft am Grenzer-Stammtisch: früher standen wir uns mit Waffen gegenüber. Und heute sitzen wir zusammen und erzählen. Und singen miteinander."
    "Jenseits des Tales waren Unterstände", singen die Männer. "Ein Lachen war im weiten Felde, und die Grenzsoldaten lachten auch." Das klingt im ersten Moment makaber - schließlich starben an der innerdeutschen Grenze mehr als 300 Flüchtlinge.
    "Es ist nach der Wende oft gesagt worden: ‚Es gab gar keinen Schießbefehl!' Dann stellt sich die Frage: Wenn es 300 Tote an der Grenze gab - die haben sich doch nicht totgelacht. In der Zeit, als ich an der Grenze war, gab es diesen Schießbefehl. Bevor wir rausgegangen sind mit vier, fünf Leuten, sind wir vergattert worden. Das nannte sich Vergatterung. Das heißt, wir haben einem Offizier gegenübergestanden. Und wir haben geschworen, mit Waffengewalt die Grenze zu verteidigen gegen jeden Angriff. Und wir hatten zwei Magazine mit je 30 Schuss. Dann hätten wir die ja gar nicht gebraucht.
    Puzzleteile der deutsch-deutschen Geschichte
    Keine Frage: der Schießbefehl war grausame Realität. Noch im Frühjahr '89, kurz vor dem Mauerfall, schossen DDR-Grenzsoldaten im nahegelegenen Blankenstein auf ein Flüchtlingspärchen, das durch die Saale schwamm, um das Westufer zu erreichen. Egon Herrmann ist heilfroh, dass er nie in die Verlegenheit kam, auf einen Flüchtling schießen zu müssen. Heute, am Stammtisch, macht ihm niemand Vorwürfe.
    "Also, wir hatten nicht ein einziges Mal, dass wir uns über Kreuz gekommen wären. Nicht ein Mal. Sonst hätte ich auch nicht durchgehend mitgemacht, sondern hätte gesagt, das hat keinen Sinn. Wir kommen nicht zusammen. War aber in den ganzen Jahren nicht ein einziges Mal."
    Otto Oeder, der West-Grenzer neben ihm, stimmt zu - mit einer kleinen Einschränkung:
    "Wesentlich war für mich, dass sie Wehrpflichtige waren. Zeitsoldaten, keine Berufssoldaten. Es ist bis heute bei uns kein einziger Berufssoldat dabei. Die haben auch kein Interesse. Obwohl ich ja viele kennengelernt habe hier an den Grenzübergängen. Die kommen von sich aus nicht. Das sind nach meiner Meinung die Betonköpfe. Die sehen das nicht ein. Ich hab' auch drüben an einer Schule schon Unterricht gegeben. Da war auch so ein Berufssoldat dabei. Der hat sich hingehockt und kein Wort gesagt. Ich dachte, das ist der Hausmeister. Dabei sollte der den Schülern ja was erzählen, in der Schule. Der hat kein Wort geredet."
    Am Grenzer-Stammtisch dagegen wird viel geredet. Die ehemaligen Grenzgänger setzen Puzzleteile der deutsch-deutschen Geschichte zusammen. Einmal im Monat feiern sie die Wiedervereinigung. Und wenn zwei Puzzleteile einmal gar nicht zusammenpassen wollen, wenn die Widersprüche nicht aufzulösen sind - dann hilft gemeinsames Singen.