Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Reihe Einheitscheck
Der unermüdliche Landrat

Werner Henning wurde in den letzten Tagen der DDR eher durch Zufall Landrat des Eichsfeldkreises in Nord-Thüringen. Der studierte Germanist hatte keinerlei Ahnung von Verwaltung und war kein Parteisoldat der SED. Nie im Traum dachte Henning daran, dass er auch nach 25 Jahren noch immer dem Landkreis vorsteht.

Von Henry Bernhard | 09.07.2014
    John Runnings demonstriert am 07.08.1986 mit einem Balanceakt gegen den Bau der Berliner Mauer vom 13. August 1961. Mit einem großen Vorschlaghammer führt der 69-jährige Amerikaner vor, was seiner Meinung nach mit dem Bauwerk zu tun sei.
    Werner Henning veranlasste 1989 die Öffnung der Grenze im thüringischen Eichsfeld (picture alliance / dpa / Roland Holschneider)
    Werner Henning schließt die Tür zur St. Ursula-Kirche seines Heimatdorfes Geismar auf. So wie an jedem Sonntag. Er öffnet den Deckel der Orgel-Klaviatur und zieht sich die Schuhe aus - sie sind zu breit für die Pedale. Werner Henning: Ich hab keinen Orgelunterricht gehabt. Ich hab mal vielleicht ganz passablen Klavierunterricht gehabt und spiele so, so wie man dazu kommt, dass man in der Gemeinde aufgefordert wird . Ich glaube, da war ich 14 Jahre alt - in meiner Heimatgemeinde."
    Werner Henning ist Landrat im Eichsfeldkreis in Nord-Thüringen. Sonntag Vormittag, das Orgelspiel, das ist seine Freizeit. Oft die einzige in der Woche. Viel häufiger sitzt Henning im Auto. 60.000 Kilometer fährt ihn sein Fahrer im Jahr. Seit fast 25 Jahren. Davor, im Herbst 1989, hat er in Heiligenstadt auf der Demo gegen die SED-Herrschaft ein paar Reden gehalten. Vor bis zu 30.000 Demonstranten. Eigene politische Ambitionen hatte er zunächst keine: "Mein Credo war eigentlich damals kein politisches. Sondern ich lebte damals noch sehr stark im Geiste meiner Dissertation, die sich mit geschichtsphilosophischen Fragen im Spätwerk Lessings beschäftigt hatte."
    Zur Politik gedrängt
    Man drängte Henning, in die Politik zu gehen. In der CDU war er seit dem Abitur, um den Werbern der SED zu entgehen. Henning: "Letzten Endes, in Ermangelung eines Gegenkandidaten, wurde ich am 7. Dezember 1989 zum Vorsitzenden des Rates des Kreises in Heiligenstadt gewählt. Ich glaubte damals, doch nur übergangsweise, bis alles dann wieder sich neu gefunden habe, stünde ich für dieses Amt zur Verfügung."
    Gewählt wurde er von den Abgeordneten des alten Kreistages, Politmarionetten der DDR, deren jeweilige Partei, wie immer sie sich nannte, letztlich doch die SED war. Am Morgen nach der Wahl saß der damals 33-jährige Werner Henning in seinem Büro im Rat des Kreises: "Und dann raufe ich mir die Haare und sage mir so: Du hast schon vieles gemacht, aber was du gestern gemacht hast, das ist das Verrückteste!" Er war promovierter Germanist und hatte von Verwaltung keine Ahnung. Und dann geht eine halbe Stunde später die Tür auf , und der Chef der Grenztruppen der DDR steht in der Tür, ein Oberst, und sagt: "Herr Vorsitzender". Tags zuvor hätte er noch gesagt, "Genosse Vorsitzender"! "Ich melde, am gestrigen Abend gab es eine Lichter-Demonstration an den Grenzanlagen in Bischhagen. Die Menschen haben gefordert, sie wollen einen Fußgängerübergang haben. Was empfehlen sie? Oder, Was befehlen sie?"
    Henning öffnete Grenze
    Damals war die Mauer zwar schon gefallen und durchlässig. Aber es gab nur sehr wenige Übergänge. "Und ich habe ihn in meiner Hilflosigkeit angeschaut und gesagt: Herr Oberst, wir machen auf! Und war dann völlig verunsichert, als ich dann so eine Stunde später mitbekam, dass die Arbeiten dort begannen, und dort wurde der Zaun aufgemacht."
    Zwei Tage später trafen sich Eichsfelder aus der DDR und aus Niedersachsen auf der grünen Wiese. Dabei der Landrat von Göttingen und der neue Vorsitzende des Rates des Kreises Heiligenstadt, Werner Henning. Er erinnert sich: "Und dort haben wir uns getroffen, Ost und West, und haben geheult wie die kleinen Kinder. Dort wurde ein ökumenischer Gottesdienst gefeiert, und hinterher gingen wir nach Bischhagen in die Kirche, und ich habe mich an die Orgel gesetzt und habe Lobet den Herrn gespielt. Das war für mich der bewegendste Moment der gesamten Wende."
    Landkreis steht wirtschaftlich gut da
    Henning ist beliebt im Eichsfeld, weil er die christlichen Werte ehrlich lebt, weil er glaubwürdig ist, weil der Landkreis wirtschaftlich gut dasteht. Seit knapp 25 Jahren wird er regelmäßig zum Landrat gewählt. Immer mit 70 bis 75 Prozent der Stimmen. Das ist selbst für einen CDU-Kandidaten im erzkatholischen Eichsfeld üppig. Als wir durch Kallmerode fahren, ein autogeplagtes Dorf, in dem zig böse Spruchbänder gegen die CDU hängen, weil noch immer keine Ortsumgehung gebaut wurde, erzählt Henning, dass auch hier selbstverständlich CDU gewählt würde, eben, weil man katholisch sei.
    "Die Partei der CDU profitiert aktuell aus diesem Lebensverständnis ungemein; ob sie das noch zu Recht tut, das muss jeder für sich selbst entscheiden. Vielleicht ist es auch tatsächlich heute schon eine totale Überbewertung der Partei der CDU. Aber hier ist eben noch ein sehr großes Treuebekenntnis gegenüber den alteingeübten Formen da, und genau darin liegt die Gefahr auch für die CDU als Partei, dass sie dieses Vertrauen als Format auch rechtfertigen muss", sagt der Landrat.
    Kein Parteisoldat
    Henning ist kein Parteisoldat. Mit der Erfurter CDU-Spitze legt er sich gern an. Als man laut darüber nachdachte, den Eichsfeldkreis aufzulösen, drohte Henning mit der Abwanderung des Kreises nach Niedersachsen. Als der Innenminister auf einer Veranstaltung verkündete, alles Gute habe die CDU gemacht, widersprach Henning und sagte, sie hätten es schon gut gemacht, aber das Etikett CDU hätte man später drauf geklebt. Und auch, wenn sein Landkreis viele Strukturen aus der DDR übernommen habe und damit gut fährt, etwa die Energie- und Wasserversorgung, hätten sich doch viele geistig kaum weiter bewegt.
    Henning: "Und das ist heute oft mein Kritikpunkt, dass ich spüre, dass wir auch heute noch lange nicht aus der DDR heraus sind. Und manchmal sage ich auch auf der Landesebene etwas ketzerisch - nicht bösartig! -, nun, ich kenne vieles von dem, was ich hier erlebe; früher hätte ich das bei der SED-Bezirksleitung erlebt! Dann guckt man sehr verstört und sagt: Wie kann man so etwas sagen?" Der gebildete und charmante Landrat Henning provoziert gern, wenn er findet, dass sich Parteipolitik, zu wichtig nimmt. Ketzertum ist für den gläubigen Katholiken etwas Positives. Es bedeutet für ihn, alte und neue Lebenslügen kritisch zu hinterfragen. Freiheit heißt, sich im gegebenen Rahmen zu bewegen und doch nicht untertan zu machen. Auch nicht der Kirche.