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Reihe Einheitsscheck
Wie Karrieren in Ostdeutschland verlaufen

1990 ging Kirsten Kühl von Nordrhein-Westfalen nach Brandenburg, um zu arbeiten. Damals wurde die Abkürzung für das westliche Bundesland NRW spöttisch mit 'Nun regieren wir' übersetzt - eine Anspielung auf die vielen Menschen, die vom Westen in den Osten gingen, um ihr berufliches Glück zu suchen. Kühl fand es und nicht nur das.

Von Axel Flemming | 09.10.2014
    Blick auf Cottbus
    Kirsten Kühl fand ihr Glück in Cottbus. (AFP / JENS SCHLUETER)
    Kirsten Kühl kommt vor 24 Jahren nach Brandenburg, um sich zu bewerben; die friedliche Revolution in der DDR 1989 macht es möglich, genauer gesagt ein Jahr später 1990 die deutsche Einheit:
    "Und dann hatte ich die Wahl zwischen Potsdam, Frankfurt/Oder und Cottbus. Und ich muss gestehen, ich habe mich mehr in den Spreewald verguckt als in Cottbus am Anfang. Potsdam wollte ich nicht, weil ich irgendwie gedacht habe, das war mir zu nah an Berlin. Also ich hatte irgendwie die Befürchtung, dass ich so kein eigenständiges Leben entwickeln würde, sondern so von Berlin aufgesaugt werden würde."
    Sie kommt als Anwältin, wird als Richterin eingestellt und gleich wieder zurück nach Düsseldorf abgeordnet, um dort ihre Probezeit zu absolvieren. 1992 wird sie Jugend-Strafrichterin, seit 2002 ist sie Familienrichterin. Nordrhein-Westfalen ist damals West-Patenland von Brandenburg; Kirsten Kühl ist nicht die Einzige, die vom Rhein Richtung Osten geht. NRW, so spotten einige, sei Abkürzung für 'Nun regieren wir!'. Die 56-Jährige hört das jetzt zum ersten Mal, sie macht damals keine schlechten Erfahrungen.
    Sie hat mit menschlichen Schicksalen zu tun
    "Nein, also böse Ossi-Wessi-Erfahrungen ganz bestimmt nicht. Wir hatten hier einen Gerichtspräsidenten, der aus Nordrhein-Westfalen auch kam, aus Bielefeld. Und er hat auch aus meiner Sicht jedenfalls sehr viel dafür getan, dass solche Trennungsgräben nicht entstehen konnten. Also wir saßen immer Ossi/Wessi paarweise in unseren Richterzimmern und haben auch viel zusammen Ausflüge, Veranstaltungen und so was gemacht; also ich fand, das war eigentlich schon nicht so spürbar."
    Kühl, eine drahtig wirkende Frau mit Brille und blonden Haaren, läuft vom Familiengericht in Cottbus zum nahe gelegenen Parkhaus, bleibt aber während der Fahrt im Auto noch ein bisschen beim Thema Veränderung:
    "Wenn ich mir überlege, wie sich das Leben der Leute, die hier einfach waren, verändert hat, ohne dass die auch nur umgezogen sind: also von der Krankenkasse an, diese ganzen komplizierten Dinge, diese bürokratischen Dinge, die es dann im Leben zu regeln gibt, wie viele Leute ihre Jobs verloren haben, wie viele Leute umlernen mussten, das Leben von wie vielen komplett auf den Kopf gestellt wurde, obwohl sie vor Ort geblieben sind - da finde ich dann immer, dass sich mein Leben eigentlich gar nicht so sehr verändert hat".
    Etwa eine halbe Stunde Richtung Nord wird die Gegend ländlich. Die Richterin mag keine Einzelheiten aus ihrem Arbeitsalltag erzählen. Sie hat mit menschlichen Schicksalen zu tun, meistens negativen: Es geht um Verwahrlosung, zerbrochene Ehen und Familien. Sie verfolgt auch die Berichte in der Boulevardpresse um einen spektakulären Fall von 2005, als verscharrte Kinder im brandenburgischen Brieskow-Finkenheerd entdeckt werden und die politische Diskussion um 'Zwangsproletarisierung in der DDR' als Ursache für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft einsetzt.
    "Die Dinge lässt man natürlich an sich heran. Also selbst mit der größten professionellen Distanz oder erlernten Distanz, geht einem so etwas unter die Haut und man nimmt es mit nach Hause. Aber ich hab es nie empfunden als ein typisches Ost-Phänomen. Also, als ich in Düsseldorf noch gelebt habe und als Anwältin gearbeitet, habe ich auch schwerpunktmäßig Familiensachen gemacht und was ich da zu sehen gekriegt hab, war jetzt auch nicht schöner als das hier."
    'Tschüssi Ossi, Tschüssi Wessie!'
    Der Wagen stoppt, sie steigt aus, um die Hündin Emma zu holen. Einmal in der Woche ist der Golden-Retriever in einer Hundepension für fast zwei Tage, damit Frauchen in Ruhe arbeiten kann. Noch einmal 20 Minuten Fahrt und Kirsten Kühl ist zu Hause, in einem nördlichen Vorstadtbezirk von Cottbus. Der Hund legt sich dem Besucher zu Füßen, nach einer Weile kommt Kühls Frau nach Hause, die Journalistin Simone Wendler, die jetzt für die Lausitzer Rundschau schreibt. Schnell entwickelt sich eine Diskussion:
    "Ich habe den Untergang der DDR gewollt. Und ich habe ihn, soweit es mir möglich war, auch aktiv mit herbeigeführt. Das war minimal, aber dort wo ich konnte, habe ich mit angepackt. Das heßt, ich habe diese deutsche Einheit von Herzen gewünscht und gewollt".
    "Ich war nämlich nicht so ein Fan der Einheit. Ich war im Westen schon eher so’ne Linke, ich hätte mir eigentlich damals gewünscht, dass es zwei deutsche Staaten gibt und dass die DDR irgendwie einen eigenen Weg findet."
    Kennengelernt haben sie sich durch die Arbeit, Wendler wollte Hintergründe über einen Prozess in Cottbus erfahren:
    "Und dann haben wir uns getroffen zu dem Gespräch. Und dann fand man sich sympathisch und man hat sich mal verabredet. Dann hat man was zusammen unternommen. Naja und so haben wir uns kennengelernt".
    "Ja, und das endete mit dem Hausbau."
    Eine offen lesbische Ossi-Wessi-Beziehung, beide sehen das als Chance den jeweils anderen Teil Deutschlands durch die Augen der Partnerin zu erleben.
    "Weil sie war ja wirklich ganz anders sozialisiert, sie hatte einen ganz anderen Hintergrund. Wie sie aufgewachsen ist, wie sie die Dinge gesehen hat und das fand ich total spannend und das war auch in der Unterschiedlichkeit ein Quell steter Freude und viel Humor und Lachen. Am Anfang war zum Beispiel so eine Standardfrage: Gab es in der DDR auch…? Und da waren schöne Sachen dabei, also wir haben viel Freude gehabt!"
    Und sie haben bis heute ein festes Verabschiedungsritual beibehalten: Jeden Morgen nach dem Frühstück heißt es: 'Tschüssi Ossi, Tschüssi Wessie!'