Dienstag, 16. April 2024

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Reihe: "Kopf oder Bauch"
"Auch Fakten unterliegen einer Perspektive"

Immer wieder ist die Rede vom postfaktischen Zeitalter. Welchen Stellenwert haben die Ideen der Aufklärung also noch? Wir arbeiten, denken und leben weiterhin auf den Grundlagen der Aufklärung, sagte der Literaturwissenschaftler Daniel Fulda im DLF. Diese als etwas nur Rationalistisches zu begreifen, sei zu verkürzt. Auch Fakten bedürften der Interpretation.

Daniel Fulda im Gespräch mit Anja Reinhardt | 07.01.2017
    Der deutsche Philosoph Immanuel Kant ("Kritik der reinen Vernunft") in einem Stich von Johann Leonhard Raab nach einem Gemälde von Gottlieb Döbler aus dem Jahr 1781.
    Der deutsche Philosoph Immanuel Kant fragt auch nach den Grenzen des Vernunftgebrauchs (dpa / picture alliance / Bertelsmann Lexikon Verlag)
    Anja Reinhardt: Johann Sebastian Bach wird wohl aus Erzählungen der ja doch weit verzweigten Bach-Familie vom Terror des Dreißigjährigen Krieges Bilder im Kopf gehabt haben, denn gerade in Thüringen waren die Verwüstungen besonders schlimm gewesen. Dass Bach auch deswegen offen war für die Denkmodelle der Aufklärung, kann man durchaus vermuten, zumal er Friedrich dem Großen persönlich begegnete und vielleicht im damals gerade fertig gebauten Schloss Sanssouci eine Ahnung vom Geist der Aufklärung bekam. Und vielleicht ist es gar nicht so abwegig, Bachs Musik als musikalischen Ausdruck der Ratio zu sehen. Mag sein, dass Bach uns heute auch deswegen noch so viel zu sagen hat, denn die europäische Aufklärung hat sich tief in unsere Kultur eingegraben. Deswegen fragen wir heute in unserer Gesprächsreihe "Kopf oder Bauch", wie aktuell Kant, Voltaire, Diderot oder Lessing heute noch sind und was wir im postfaktischen Zeitalter von den Ideen der Aufklärung immer noch lernen können.
    Darüber habe ich vor dieser Sendung mit dem Literaturwissenschaftler Daniel Fulda vom Interdisziplinären Zentrum für Europäische Aufklärung in Halle gesprochen und ihn gefragt, inwiefern die Schriften der Aufklärung einen neuen Vernunftbegriff in die Welt brachten.
    Daniel Fulda: Ja, die Aufklärung hat etwas mit dem Vernunftgebrauch zu tun, das ist ganz wichtig. Rationalität ist ein Prinzip in der europäischen Geschichte seit der Antike, aber die Vernunft zu gebrauchen, um die Welt zu verbessern, das ist eigentlich das genuin aufklärerische Motiv. Auf der anderen Seite kommt aber auch hinzu, dass die Aufklärung sich Gedanken darüber macht, wo denn die Grenzen des Vernunftgebrauchs liegen, was dem Vernunftgebrauch entgegensteht, welche anderen Kräfte, auch positiven Kräfte es gibt, die es zu nutzen gilt. Und da kommen – vielleicht ist das auch noch neuartiger im 18. Jahrhundert als der Vernunftgebrauch – auch die Gefühle in den Blick. Also, Aufklärung als nur etwas Rationalistisches zu begreifen, das ist auf jeden Fall verkürzt. Und das finde ich auch ganz wichtig dafür, was wir heute noch mit Aufklärung anfangen können. Wenn es wirklich nur um das Beschwören der Vernunft ginge, dann wäre die Aufklärung vielleicht doch zu naiv, dann hätte sich in der Zwischenzeit zu oft gezeigt, wie schwach die Vernunft ist. Aber nein, im Gegenteil, das Nachdenken über die Grenzen der Vernunft, auch über die Berechtigung von Vorurteilen zum Teil – also, das ist ja etwas kontraintuitiv, natürlich werden Vorurteile kritisiert in der Aufklärung, aber man macht sich auch darüber Gedanken, inwiefern sich das eigene Leben, Persönlichkeiten, Individuen aus Vorurteilen konstituieren –, all dieses Nachdenken gehört über das aufklärerische Nachdenken, über die Vernunft hinzu. Und in diesem Ensemble, scheint mir, ist die Aufklärung nach wie vor ein Reservoir für uns, um uns darüber klar zu werden, was wir wollen und was wir können.
    Aufklärung als kulturelle und soziale Bewegung verstehen
    Reinhardt: Also würden Sie sagen, wenn wir jetzt mal von Deutschland ausgehen, wo ja Kant derjenige ist, der ganz klar für die Aufklärung steht, der durchaus auch von Philosophen vor ihm Theorien übernommen hat, von David Hume, würden Sie sagen, dass eigentlich erst die Literatur in Deutschland der Aufklärung zum - ich will es jetzt mal so formulieren -Durchbruch verholfen hat? Weil das, was Kant geschrieben hat, ja wirklich sehr statisch eigentlich ist.
    Fulda: Ich bin kein Kant-Experte, aber so viel weiß ich aus den Gesprächen mit Kollegen, die das sind, dass man das, glaube ich, nicht unbedingt so behaupten muss. Also, Kant ist wirklich ein Gebirge, in dem sehr vieles und sehr Komplexes zu finden sind. Und die Literatur in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung ist nicht so stark, trotz großartiger Autoren wie Lessing, wie das in anderen Ländern, in Frankreich zum Beispiel mit Voltaire und Diderot und Rousseau der Fall ist. Die große Zeit der deutschen Literatur, die ganz große Zeit der deutschen Literatur, kommt eigentlich danach. Das sind dann die Weimarer Klassiker, die Romantiker und so weiter. Es ist ein interdisziplinäres Interesse, mir geht es um die Aufklärung als kulturelle und soziale Bewegung insgesamt, und deswegen ist es auch so großartig, wenn ich das einfügen darf, in Halle an der Saale darüber arbeiten zu dürfen, weil wir hier dieses Forschungszentrum zur Erforschung der Europäischen Aufklärung haben, in dem ganz unterschiedliche Fächer zusammenarbeiten.
    Reinhardt: Reicht denn die europäische Aufklärung bis ins 21. Jahrhundert hinein?
    Fulda: Wie man jetzt kürzlich wieder lesen konnte heute, vom Ende der Aufklärung spricht, mal wieder vom Ende der Aufklärung, dann ist das insofern ein gutes Zeichen, dass derjenige, der das sagt, doch davon ausgeht, dass sie bis heute reicht, dass sie ihre Wirkung entfaltet hat. Und das scheint mir auf jeden Fall der Fall zu sein. Die normativen Grundlagen unserer Demokratie, unserer freiheitlichen Gesellschaft sind in der Aufklärung gelegt worden, unser Weltbild ist von der Aufklärung so stark geprägt wie von keiner anderen älteren Epoche, sodass ich doch sagen würde: Trotz aller Kritik daran, trotz aller Bestreitungen und auch trotz allen Streits innerhalb der Aufklärung, das sind die Grundlagen, nicht die einzigen, aber sehr wichtigen Grundlagen, auf denen wir weiter arbeiten und denken und leben.
    Reinhardt: Ich habe den Satz gelesen, dass man nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in intellektuellen Kreisen – also, unter anderem wurde Derrida genannt und Habermas – sich ganz explizit gefragt hat, was uns die europäische Aufklärung nach 9/11 noch sagen kann und wozu sie, ja, uns quasi eine Hilfestellung leisten kann.
    Fulda: Ich meine, wir können beobachten, dass manche Leute oder eine größer werdende Minderheit von Leuten sich um Wahrheit gar nicht mehr bemühen, ja, die ziemlich unverfroren eigentlich sagen: Was gehen mich die Fakten an, ich mache mir meine eigene Weltsicht, oder auch ziemlich unverfroren an der Desinformation arbeiten. Das ist ein großes Problem für uns alle, in allen Bereichen, in der Politik, aber auch für die eigene Lebensführung, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft. Dagegen müssen möglichst viele von uns arbeiten, was allerdings nicht dadurch funktionieren kann, glaube ich, dass man jetzt einfach sagt, wir müssen zu den Fakten zurückkehren. Denn die Fakten bedürfen selbst der Interpretation. Wir wissen, auch Fakten unterliegen einer Perspektive, die reinen Fakten gibt es so nicht.
    Ethik des Faktischen
    Reinhardt: Und oft wissen wir mittlerweile gar nicht mehr, was Fakten sind, vor allen Dingen durch das Internet.
    Fulda: Vieles lässt sich schon nachprüfen. Also, worauf es mir eigentlich ankommt, ist sozusagen, da nicht den Kopf in den Sand zu stecken und zu sagen, nein, das lässt sich nicht mehr ermitteln, sondern wichtig ist eine Ethik, möchte ich sagen, des Faktischen, die anerkennt auf der einen Seite, dass das absolute Wissen schon lange als ein Traum, als eine regulative Idee allenfalls erkannt worden ist und dass es trotzdem sich lohnt, sich um mehr Wissen und besseres Wissen zu bemühen.
    Reinhardt: Kant hat auch geschrieben, die Aufklärung sei eben ein langer Prozess mit wahrscheinlich vielen Rückschlägen. Wir haben viele Rückschläge erlebt seitdem, unter anderem die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts, den Nationalsozialismus. Danach, könnte man sagen, war das durchaus auch mit der Erklärung der Menschenrechte 1948 so was wie eine, ja, Renaissance der Aufklärung vielleicht – und erleben wir jetzt schon wieder die umgekehrte Bewegung?
    Destruktives sollte kein mehrheitliches Gefallen finden
    Fulda: Jetzt im Moment sieht das so aus und es gibt Stimmen, die das, auch um Gehör zu finden, etwas dramatisieren. Und wenn man vom Ende der Aufklärung spricht, dann stellt man unsere Gegenwart in eine Reihe mit dem Untergang des Römischen Reiches oder der Entdeckung Amerikas. Also, das sind so die ganz großen Nummern. Ob wir wirklich derzeit einen Einschnitt von dieser Größe erleben, das kann keiner wissen, das lässt sich erst retrospektiv beurteilen. Und ich hoffe sehr und glaube eigentlich auch nicht, dass es wirklich so weit ist. Erwarte ich eher, dass auch diejenigen, die jetzt Advocati Diaboli sind, auch zu einer gewissen Selbstbesinnung kommen, weil sie merken, dass der Verzicht auf das Streben nach Wahrheit, so wie ich das mit Lessing mal nennen möchte, auch ihnen persönlich letztlich keine Vorteile bringt, weil es eben destruktiv ist. Also, meine Hoffnung ist die, dass das Destruktive einiger Akteure doch auch an den Tag kommt und kein mehrheitliches Gefallen findet.
    Reinhardt: Nun folgte ja in Deutschland nach der Epoche der Aufklärung, nach der Weimarer Klassik eben die Romantik, durchaus auch – so wurde eine Ausstellung mal in Dresden im Militärhistorischen Museum genannt – eine blutige Romantik, verbunden mit einem teilweise fanatischen Nationalismus. Was können wir mit Blick darauf denn lernen für heute?
    Fulda: Die Romantik ist auch wieder eine sehr komplexe Epoche und auch wieder eine Epoche der Grundlegung der Moderne, so wie die Aufklärung auch. Und ich glaube, Sie können einem Romantikforscher ganz ähnliche Fragen stellen und der würde wahrscheinlich teilweise ähnliche Antworten geben. Ich halte nichts davon, Aufklärung und Romantik gegeneinander auszuspielen, sondern das sind beides Konstituenten unserer Selbstsicht, unserer Wirklichkeitssicht, und das sind beides Epochen, in denen es produktive und aber auch sehr problematische Seiten gibt. Die Romantik ist tatsächlich groß darin, die Abgründe des Menschen, das nicht Formulierbare, möglicherweise nur in Andeutungen, in Träumen, in den Künsten Darstellbare zu erkunden. Darauf verzichten zu wollen, das wäre schon sehr merkwürdig, denn das würde unserem Leben schon einiges von seinem Reichtum und von seiner Tiefe nehmen. Aber auch die Romantiker sind nicht einfach solche Menschen gewesen, die sich dem hingegeben haben, sondern die kommen ja aus der Aufklärung und haben auf die eine oder andere Weise versucht, damit fertigzuwerden. Also …
    Reinhardt: Gerade in der Romantik tauchen die Begriffe des Apollinischen und des Dionysischen auf. Und im Grunde genommen … Also, einmal das Vergeistigte, einmal das vielleicht eher Sinnliche. Im Grunde genommen geht es ja aber …
    Fulda: Ekstatisch auch, ja.
    Reinhardt: Genau, Ekstatisch … Und im Grunde genommen geht es ja eigentlich um eine Balance dieser beiden Komponenten.
    Fulda: Ja, das würde ich auch sagen. In unterschiedlichen Mischungen. Insgesamt sind wir in der westlichen Zivilisation ja ziemlich auf der apollinischen Seite und da gibt es ja auch seit Langem eine Kritik daran. Und auch als Aufklärungsforscher wäre ich nicht dafür, das Rationale so unbedingt in den Vordergrund zu stellen, dass Gegenreaktionen gar nicht ausbleiben können.
    Reinhardt: Sagt der Literaturwissenschaftler Daniel Fulda vom Interdisziplinären Zentrum für Europäische Aufklärung in Halle, mit dem ich in unserer Reihe "Kopf oder Bauch" über den Vernunftbegriff der Aufklärung gesprochen habe. Alle Interviews unserer Reihe "Kopf oder Bauch" finden Sie zum Nachhören und -lesen auf deutschlandfunk.de.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.